15. Kapitel




"Nein, nein, nein. Josh! Nicht ohnmächtig werden! Tu mir das nicht an! Bitte!" Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und wollte gerade einen Rettungswagen rufen, als ihr bewusst wurde, dass Josh kein normaler Mensch war. Das würde Fragen aufwerfen. Sie durchsuchte seine Taschen und in seiner Hosentasche ertastete sie sein Mobiltelefon. Krank vor Sorge durchblätterte sie das Telefonbuch des Handys und als sie Emilys Namen sah, wählte sie deren Nummer.
Als Emily endlich abnahm, brachte Cassandra kaum ein Wort heraus. Völlig aufgelöst erklärte sie, was vorgefallen war und das sie ganz dringend Hilfe brauchten. Das Handy glitt ihr aus den zittrigen Händen und sie legte Joshs Kopf vorsichtig auf ihren Schoß. Sie hatte noch nicht einmal einen Mantel, mit dem sie ihn hätte zudecken können. Hilflos sah sie auf ihn herunter und weinte bittere Tränen.
Das war alles ihre Schuld.
Er hatte sich vor sie gestellt. Er hatte sein Leben für sie riskiert. Wenn er jetzt starb...
Sie wusste nicht, wie lange sie so da gesessen hatte, aber auf einmal wurde sie von ihm weggezogen und stattdessen von Emily in die Arme genommen.
"Ganz ruhig. Es wird alles wieder gut." Erik und zwei andere Männer knieten sich neben Josh und untersuchten ihn flüchtig.
"Der Pfeil sitzt tief. Wir müssen ihn zum Doc bringen." Emily nickte und führte Cassandra zum Wagen.
Seit wann stand er dort?
Sie hatte absolut nichts mehr um sich herum mitbekommen.
"Das ist alles meine Schuld" wiederholte sie immer wieder. Und jedes Mal, wenn sie zu Josh sah, schüttelte sie ein neuer Weinkrampf. Emily drängte Cass ins Auto und reichte ihr eine Decke. Dem Fahrer bedeutete sie los zu fahren.
"Du bist an nichts Schuld. Schließlich hast du ja nicht den Pfeil abgeschossen." Aber Cass wusste es besser. Jeden den sie liebte, widerfuhr das gleiche Schicksal. Ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Baby... Als sie wieder in der Villa waren, blieb Cass solange in der Garage, bis das andere Auto mit Josh angekommen war.
Erik und ein anderer Mann trugen Josh nach oben in sein Zimmer, wo schon der Arzt wartete. Als Josh auf dem Bett lag, begann Greg sofort mit der Untersuchung. Emily strich sanft über Cassandras Arm und sagte: "Komm mit. Wir können jetzt nichts weiter machen." Vehement schüttelte Cass ihren Kopf.
Sie würde diesen Raum nicht verlassen. Nicht bevor er wieder bei Bewusstsein war.
Sie setzte sich auf die andere Seite des Bettes und sah in sein schönes Gesicht. Nach ein paar Minuten sagte Greg: "Halten sie ihn bitte fest. Ich muss den Pfeil herausziehen. Es sieht so aus, als hätte er keine Widerhaken. Zum Glück!" Cass lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seine Brust. Als der Arzt den Pfeil mit einem starken, aber kontrollierten Ruck aus Joshs Bauch heraus zog, wurde ihr für einen Moment übel.
Josh schrie vor Schmerz laut auf und fiel dann wieder in die Bewusstlosigkeit. Nachdem Greg alles gereinigt und verbunden hatte, sagte er: "Ich gebe ihm jetzt ein starkes Beruhigungsmittel. Er wird wohl eine ganze Weile schlafen. Sie können also ruhig in ihr Zimmer gehen." Cassandra schüttelte den Kopf.
Sie fürchtete wieder in Tränen ausbrechen, wenn sie etwas sagen würde. Also nahm sie wortlos den Platz vom Arzt ein und wich keinen Zentimeter von Joshs Seite.
Emily kam immer wieder zu ihr und brachte Essen und Getränke, aber Cass lehnte alles ab. Ihr war nach nichts zumute.
Von niemanden in ihrer Familie hatte sie sich verabschieden können, als sie diese Welt verlassen hatten. Sie würde es nicht riskieren, gerade dann nicht im Raum zu sein, wenn er erwachen würde. Den stechenden Schmerz in ihrem Handgelenk und ihrem Arm verdrängte sie. Auch die aufsteigenden Kopfschmerzen.

Josh öffnete langsam die Augen und begann eine sorgsame Bestandsaufnahme seiner Verletzungen. Sein Kopf war wie in Watte gehüllt und sein Bauch schmerzte furchtbar.
Wieso musste er sich auch vor Cassandra stellen?
Er hatte den Pfeil aufgehalten, der für sie bestimmt war.
Den Ausdruck ihrer Augen, als sich der Pfeil in seinen Bauch bohrte, würde er nie mehr vergessen. Sie war entsetzt gewesen und als er am Boden in ihren Armen lag, hatte er Tränen in ihren Augen gesehen.
Sie empfand etwas für ihn.
Da war er sich sicher. Sie konnte das damalige Geständnis im Drogenrausch leugnen, aber nicht das.
Er spürte, wie sich neben ihm etwas bewegte. Er drehte seinen Kopf zur Seite und sah Cassandra, die auf der Bettkante lehnte und eingeschlafen war. Ihr Haar war wirr und schien lange nicht mehr gekämmt worden zu sein. Und sie hatte immer noch die blutverschmierte Kleidung des Pfeil-Angriffs an. Er lächelte. Sie musste bei ihm geblieben sein, seit sie wieder zurück waren. Er bedeutete ihr mehr, als sie zugeben wollte.
Ein leises Klopfen erklang von der Tür und Cassandra wirbelte erschrocken herum.
"Ja?" Er hörte an ihrer zittrigen Stimme, dass sie wohl sehr erschöpft war. Emily steckte den Kopf durch die Tür und sah zu Cass.
"Wie geht es ihm?" Josh musste lächeln.
"Warum fragst du Ihn nicht selbst?" Seine Stimme klang etwas schwächer als sonst und sein Bauch tat beim reden weh. Erschrocken stand Cassandra auf und Emily kam ans Bett geeilt.
"Du bist bei Bewusstsein!" Sie warf sich ihrem Bruder um den Hals.
"Tut dir irgendwas weh? Soll ich dir ein Schmerzmittel holen?" Er schüttelte den Kopf und sah zu Cass. Ihre Augen waren blutunterlaufen und ihre Lippen trocken und aufgesprungen.
"Du könntest dich um Cassandra kümmern. Ich glaube sie braucht ein Bad und eine Mütze Schlaf." Cass wandte sich zur Tür und murmelte: "Ich weiß wo mein Zimmer ist!"
Emily sah ihr sorgenvoll nach. Er erkannte in dem Blick seiner jüngeren Schwester Zärtlichkeit und freundschaftliche Gefühle.
"Sie hat sich schwere Vorwürfe gemacht und ist nicht von deiner Seite gewichen." Er runzelte die Stirn.
"Wie lange war ich weg?" Sie sah ihn bekümmert an.
"Fast zwei Tage. Greg hat dir ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Und die Wunde heilt schon wieder. Aber durch das Silber wird es wohl noch etwas dauern, bis du wieder ganz auf dem Damm bist." Er schloss die Augen.
Fast zwei Tage.
Und sie war die ganze Zeit bei ihm geblieben. Sein Herz machte einen Freudentanz.
"Geh und kümmere dich um Cassandra. Ich bin noch etwas müde." Emily nickte und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Als sie an der Tür war, drehte sie sich nochmal um und lächelte ihn an.
"Es ist schön das du wieder da bist, Brüderchen."

Nach ein paar Minuten, er war gerade etwas eingedöst, hörte er aufgeregtes Gerede und viel zu schnelle Schritte. Etwas war geschehen.
Schon wieder Dereks Rudel? Wieso kam niemand um ihm Bescheid zu sagen?
Er überlegte, ob er schon aufstehen konnte, als er jemanden vor der Tür hörte.
"Wir müssen es ihm sagen!"
Evan.

"Er wird sich viel zu sehr aufregen."
Erik.

Josh setzte sich auf und schrie: "Rein mit Euch!" Nach ein paar Augenblicken öffnete sich langsam die Tür.
"Was ist los? Ist es schon wieder Dereks Rudel?" Erik und Evan sahen sich unwohl an.
"Cassandra... sie..." Erik unterbrach Evans gestammelte Antwort.
"Emily hat schon den Doc holen lassen!" Als sie seine erschrockene Miene sahen, fügte Evan hinzu: "Er ist bestimmt schon bei ihr. Du brauchst dir also keine Sorgen machen." Joshs Augen wurden groß.
"Was zum Teufel ist passiert?" Erik zuckte mit den Schultern.
"Als Emily in das Gästezimmer kam, lag Cassandra wohl auf dem Bett. Sie hat hohes Fieber..." Josh schlug die Bettdecke zurück und versuchte aufzustehen.
"Was tust du denn da?" Erik stellte sich vor ihn und wollte ihn gerade aufs Bett drücken, als Josh auf sah und mit einem Knurren in der Stimme sagte: "Ich muss sie sehen. Wer sich mir in den Weg stellt, läuft Gefahr ein paar Körperteile zu verlieren." Die beiden Männer sahen sich verzweifelt an.
"Und wenn wir sie herbringen? Greg kann sie auch in deinem Bett untersuchen." Josh sah Erik dankbar an und nickte zustimmend.
Nach wenigen Augenblicken, immerhin war das Gästezimmer nur den Flur hinunter, kam Erik mit der bewusstlosen Cassandra ins Zimmer. Sie war Aschfahl und ihr Haar klebte an ihrer schweißnassen Stirn. Eine aufgelöste Emily folgte Erik ins Zimmer. Josh rückte im Bett etwas zur Seite und Erik legte sie behutsam neben ihn.
"Ich habe ihr gesagt, dass sie etwas zu essen braucht, aber sie wollte nicht hören." Emily liefen Tränen über die Wangen.
"Dieses dumme Mädchen!" Als nächstes kam der grimmig drein schauende Arzt herein.
"So ein Durcheinander. Können wir uns nun mal entscheiden, wo ich die Kleine untersuchen soll?" Er sah in Joshs finstere Miene und verstummte augenblicklich. Argwöhnisch richtete er sich an Emily.
"Hilf mir bitte, sie auszuziehen." Emily nickte und begann Cassandras Hose abzustreifen. Darauf folgte ihr blutverschmiertes Shirt. Nur die Unterwäsche ließ sie ihr an. Greg hörte Cassandra ab, fühlte ihren Puls und maß ihren Blutdruck, sowie ihre Temperatur. Das Fieberthermometer stieg bis 41°C. Dann kontrollierte er ihren ganzen Körper und sein missmutiger Blick blieb an ihren Handgelenken hängen.
"Emily, wir müssen kalte Umschläge machen um das Fieber etwas runter zu bekommen. Außerdem brauch ich heißes Wasser und Verbandsmaterial." Emily verließ das Zimmer. Der Arzt schickte auch Evan und Erik hinaus. Sie hatten zwischenzeitlich versucht, aus Josh ein paar Antworten zu bekommen, aber er hatte nur Augen für Cassandra gehabt.
Greg sah Josh ernst an.
"Sie hat eine Blutvergiftung. Sie ist noch nicht sehr weit fortgeschritten. Ich gebe ihr ein Antibiotikum und eine Infusion." Josh nickte.
"Sie bedeutet mir sehr viel." Greg trat von einem Bein zum anderen und war sichtlich nervös.
"Was ist?" fragte Josh. Der Arzt sah erst zu Cass und dann wieder zu Josh.
"Ich weiß nicht, ob das in ihrem Sinn ist, aber vor deiner Verwundung kam sie zu mir. Sie hatte mit Schwindel und Übelkeit zu kämpfen gehabt und wollte Kopfschmerztabletten. Als ich sie auf eine eventuelle Schwangerschaft ansprach, stand sie auf und ging ohne ein weiteres Wort." Josh bekam große Augen.
"Sie ist schwanger?" Greg schüttelte den Kopf.
"Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, könnte der Fötus keine Sepsis überstehen."
Danach schwieg Josh und der Arzt kümmerte sich um ihre Handgelenke. Eigentlich war er allein dafür verantwortlich. Er hatte sie ans Bett gefesselt. Natürlich hatte sie sich dagegen gewehrt und sich Wunden zugefügt. Dann hat er sie gejagt und in den Schmutz gestoßen. Na ja. Sie war gefallen, als er sie wieder losgelassen hatte. Trotzdem war es seine Schuld.
Als Emily wieder ins Zimmer kam, half sie Greg beim Verband und dann wusch sie Cassandra von oben bis unten. Die ganze Zeit über sagte Josh kein Wort. Wer passte in der Zwischenzeit eigentlich auf das Baby auf? Hatte sie es tatsächlich Ben überlassen? Normalerweise war sie eine furchtbare Glucke und gab ihr Kind nur im Notfall aus der Hand. Cassandra schien ihr viel zu bedeuten.
"Soll ich Erik rufen, damit er sie wieder ins Gästezimmer bringt?" Das riss ihn aus seiner Träumerei.
"Nein. Sie bleibt hier!" Der Arzt spritzte ihr das Antibiotikum und legte einen Tropf.
"Sie kann ruhig hier bleiben. Aber sobald sich etwas zum schlechteren wendet, dann ruft mich bitte so schnell wie möglich." Josh nickte und schickte Emily ebenfalls weg. Dann legte er sich näher zu Cassandra und streichelte sanft über ihr Gesicht und ihre Haare.

Mitten in der Nacht wurde Josh von Schlägen seitens Cassandra geweckt. Sie schrie wie am Spieß: "Nein! Mein Baby! Mom, Dad, Carmen - geht nicht weg! Lasst mich nicht allein!" Sie schlug und trat so wild um sich, dass sie sich die Infusionsnadel aus dem Arm riss. Trotz seiner Schmerzen packte er ihre Arme und drückte sie aufs Bett.
"Cassandra! Wach auf, du träumst!" Sie warf den Kopf auf ihrem Kissen hin und her und schrie immer wieder nach ihrer Familie. Dann kamen endlich Emily und Greg. Er gab ihr eine Beruhigungsspritze und erklärte, dass die Sepsis auch Halluzinationen heraufbeschwor. Aber es würde ihr bald besser gehen. Sie hatte schon jetzt eine viel gesündere Hautfarbe. Außerdem war sie ein Mensch. Man könnte eine so schnelle Genesung, wie bei einem Wolf, nicht mit der eines Menschen vergleichen. Er klebte ihr ein Pflaster auf die Stelle, wo zuvor die Infusion gewesen war und nahm den halb vollen Beutel mit hinaus, als er das Zimmer verließ. Auch Emily verabschiedete sich wieder und schloss die Tür.
Cassandra hatte doch ein Baby gehabt.
Die ganze Nacht konnte er nicht mehr richtig einschlafen. Immer wieder gingen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf.
Im frühen Morgengrauen kam Cassandra langsam wieder zu sich und schlug flatternd ihre Augenlider auf.
"Wie geht es dir?" Sie sah ihn verwundert und gleichzeitig erschrocken an und setzte sich auf. Im gleichen Moment fiel sie wieder in die Kissen. Josh stützte sich auf seinem Ellbogen ab und sah ihr in die Augen.
"Der Arzt hat dir ein Beruhigungsmittel gegeben. Schlaf noch etwas." Sie legte sich eine Hand vor die Augen und fuhr sich dann durch die Haare.
"Was ist passiert? Ich erinnere mich nur noch, dass ich in mein Zimmer gegangen bin und furchtbar müde war." Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte sie gequält an.
"Du hast eine Blutvergiftung." Er deutete auf ihre Handgelenke.
"Als du vor mir davon gelaufen bist, hast du dir wohl irgendwas eingefangen." Cass entspannte sich etwas.
"Zumindest keinen Pfeil." Josh drehte sich weg und legte sich auch wieder hin. Nach einer Weile fragte Cass leise: "Bist du mir böse?" Josh wandte sich ihr wieder zu und sah sie mit einem grimmigen, aber niedergeschlagenem Blick an.
"Wieso sollte ich böse auf dich sein? Du bist meinetwegen nur knapp dem Tod entgangen." Cassandra lächelte ihn an.
"Dito. Wäre ich nicht so engstirnig und bockig gewesen, hättest du den Pfeil nicht abbekommen." Nun lächelte er auch.
"Soll das heißen, wir sind quitt?" Ihr Lächeln wurde verführerischer.
"Eine Blutvergiftung kann mit einer Pfeilwunde nicht ganz mithalten. Du hast was gut bei mir." Damit kuschelte sie sich an ihn und schloss die Augen. Nach einer kurzen Pause fragte er leise: "Du hast im Fieber von einem Baby gesprochen." Als sie nach einiger Zeit noch nicht geantwortet hatte, dachte er schon, dass sie wieder eingeschlafen wäre, aber dann begann sie leise zu erzählen.
"Als ich zwanzig wurde, hatte ich einen festen Freund. Nach drei Monaten Beziehung stellten wir fest, dass ich schwanger geworden war. Ich hab mich riesig gefreut. Als ich im vierten Monat war, stürzte ich im Treppenhaus. Zwei Nachbarn haben es mitbekommen und sofort einen Rettungswagen gerufen." Sie schluchzte.
"Es hat nicht überlebt. Der Sturz war zu schwer gewesen." Er streichelte sanft über ihr Haar und versuchte sie etwas zu beruhigen.
"Danach bin ich in eine schwere Depression gefallen. Mein Freund hat mich verlassen, kurz darauf sind meine Eltern bei einem Unfall im Urlaub umgekommen. Sie waren auf dem Weg nach Hause, weil sie mir beistehen wollten." Wieder schüttelte sie ein Weinkrampf.
"Carmen hat mich gefunden, als ich... als ich versucht habe..." Sie sah ihn unter Tränen an.
"Ich wollte nicht mehr leben. Meine ganze Existenz war wertlos geworden." Josh hielt sie noch etwas fester im Arm, als er erfuhr, dass er sie beinahe nie kennengelernt hätte.
"Carmen hat mir wieder aufgeholfen und mir gezeigt, dass das Leben lebenswert ist. Sie ist einfach mit mir ins Tierheim gefahren und hat mir Mia geschenkt." Wenn er schon an dieses Mistvieh dachte, schüttelte es ihn. Aber als er ihr kleines Lächeln sah, als sie von der Katze sprach, schien sie ihm auf einmal gar nicht mehr so böse.
"Ich hatte jemanden, um den ich mich kümmern konnte und war etwas abgelenkt. Aber das Baby konnte ich einfach nie vergessen. Es ist, als wäre ich verflucht." Er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund und sah sie lächelnd an.
"Du bist nicht verflucht. Das habe ich dir neulich auch schon gesagt, als du im Drogenrausch warst. Ich bin nicht so schnell tot zu kriegen." Cassandra lächelte kurz und berührte seinen Bauch.
"Du warst aber nahe dran." Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen.
"Schlaf jetzt. Du brauchst deine Kraft."

Etwas später, als Cassandra wieder eingeschlafen war, verließ Josh mit ihrem Handy das Zimmer. Er suchte Dereks Nummer heraus und löschte sie sofort aus ihrem Telefonspeicher. Danach nahm er sein eigenes Mobiltelefon und rief Derek an.
Nach dem vierten Klingeln nahm Derek ab.
"Was gibt es?" Josh holte tief Luft und erwiderte: "Hier ist Joshua. Der Rudelführer der Alexandria-Wölfe." Ein kurzer Moment der Stille machte sich breit, den Derek schließlich durchbrach.
"Wie kann ich dir helfen?"
"Ich würde dir gern deinen Pfeil wieder geben." Derek klang amüsiert.
"Ich weiß nicht, was du meinst." Josh hasste diese aufgesetzte Scheinheiligkeit.
"Du hast auf Cassandra gezielt, aber mich getroffen. Warum willst du sie töten?" Dereks Stimme klang nun belustigt, als er erwiderte: "Wieso treffen wir uns nicht? So etwas am Telefon zu besprechen ist nicht mein Stil."
"Heute Nachmittag an der Brücke?" Derek stimmte zu.
"Dort gibt es ein kleines Büro, vom Sicherheitsdienst." Josh schnaubte abwertend.
"Ich sehe, du bist nicht das erste Mal in meinem Revier, Derek."
"Erwischt! Aber lass uns das zu gegebener Zeit besprechen." Damit beendete Derek das Telefonat.
Als Josh sich wieder umdrehte, stand plötzlich Cassandra in der Tür.
"Was soll das? Gib mir sofort mein Handy zurück!" Josh sah sie entschuldigend an.
"Ich kann dir nicht gestatten, dich weiterhin mit Derek zu treffen. Es ist zu gefährlich." Cass schnaubte verächtlich.
"Er ist mein Onkel." Er sah ihr tief in die Augen um ihre Reaktion abzuschätzen.
"Er hat den Pfeil auf dich abgefeuert." Ihre Augen weiteten sich, sonst blieb sie ruhig.
"Pah! Woher willst du das wissen? Ich hab niemanden gesehen und außerdem hab ich dir schon mal gesagt, dass ich nicht dein Besitz bin, über den du frei bestimmen kannst." Die Wut brodelte wieder in ihr hoch und das versöhnliche Gespräch von vor ein paar Stunden war wieder vergessen. Er ging zu ihr und drängte sie gegen die Tür.
"Du gehörst zu mir."
"Nein! Und ich werde auch nicht länger hier bleiben. Ich hätte schon viel früher gehen sollen. Ich hätte gar nicht auf dich warten dürfen. Ich bin so dumm!" Angst kroch sein Rückgrat hoch. "Bitte bleib! Du bist immer noch krank." Obwohl sie schon wieder recht sicher stehen konnte, wie er eben bemerkte. Er musste unbedingt mit Greg darüber reden. Normalerweise heilten Menschen nicht so schnell.
"Warum nimmst du nicht wieder die Handschellen? Sonst hast du ja keine Möglichkeit, mich hier zu halten."
Das sie ihm das immer noch vor hielt! Er hatte sich entschuldigt.

"Cassandra!" Sein Ton wurde schneidend.
"Nicht Cassandra! Ich verachte dich und will dich nie wieder sehen." Damit stürmte sie so schnell ihre wackeligen Beine sie trugen aus dem Zimmer. Josh blieb betrübt zurück. Er konnte sie nicht zurück halten. Aber sobald alles geklärt war, würde er sie wieder zurück holen. Er hatte immerhin ihr Geständnis, dass sie ihn liebte. Derek war für den Moment auch kein Problem, da er sich auf das Treffen mit ihm vorbereitete.

Cassandra betrat ihre Wohnung und ließ ihre Tasche und ihren Mantel einfach fallen.
Ihr Leben war ein riesengroßes Durcheinander!
Auf ihrem Anrufbeantworter hatte Annika zwei besorgt klingende Nachrichten hinterlassen und Charly hatte gefragt, ob Cassandra am Sonntag auf einen Kaffee vorbei kommen wollte. Sie seufzte. Im Moment hatte sie weder auf das fröhliche Geschnatter von Annika Lust, noch auf die melancholische Stimmung ihres Schwagers. Also ging sie in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Als Mia um ihre Beine herum schlich und sich mit leisen, schnurrenden Lauten bemerkbar machte, fiel Cass wieder ein, dass Mia die ganze Zeit über nicht gefüttert worden war.
"Oh mein Schatz. Ich hab dich ganz vergessen. Das tut mir so Leid." Zum Glück hatte Mia einen automatischen Trockenfutter-Automat. Auch das Wasserschälchen war noch gut gefüllt. Wahrscheinlich hatte Mia wieder aus der Toilette getrunken. Cassandra hasste das normalerweise, aber dieses Mal war es nicht so schlimm.
Sie holte ihr Versäumnis sofort nach und setzte sich dann auf ihr Sofa. Ihre Handgelenke brannten wie Feuer, genau wie ihre Augen. Sie weinte. Sie wollte es nicht, doch ihr Herz schmerzte so sehr über seinen Verrat. Seine ganze Art schien sie plötzlich abzustoßen. Und trotzdem liebte sie ihn. Das passte alles nicht in ihr Leben. Alles war so schön ruhig und normal gewesen, bevor sie ihn getroffen hatte. Jetzt war alles kaputt.
Sie hatte die letzten paar Fetzen von dem Gespräch zwischen Josh und Derek mitbekommen und war neugierig geworden. Warum sollte Josh ihr den Umgang mit ihrem Onkel verbieten? Das ergab keinen Sinn. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr eigener Onkel auf sie schießen würde. Josh musste den Verstand verloren haben.
Vielleicht sollte sie einfach zu dem Treffen gehen und die beiden Männer zur Rede stellen. Möglicherweise hatten sie einen alten Zwist. Aber erst mal brauchte sie eine Dusche. Sie fühlte sich unwohl, so ganz in fremden Klamotten. Als sie sich umsah, schüttelte es sie regelrecht. "Ich muss putzen. Hier ist ja überall eine dicke Staubschicht."

Am Nachmittag fand sich Josh bei der Brücke am verabredeten Ort ein und sah, dass Derek bereits auf ihn wartete.
"Freut mich, dich offiziell kennenzulernen." Er reichte Josh seine Hand. Ohne die freundliche Geste zu beachten, betrat Josh den Raum und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Er wollte das so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich dann wieder ins Herrenhaus begeben, um sich um Sylvester zu kümmern. Er tobte immer noch wie ein Berserker und Josh hatte ihn in Ketten legen lassen müssen. Das war ebenfalls Dereks Schuld. Außerdem musste er sich noch etwas wegen Cass überlegen. Immer gingen sie im Streit auseinander. Das musste ein Ende haben.
"Warum willst du Cassandra töten?" Dereks Blick war abwägend und verschlossen. Er würde Josh nicht die volle Wahrheit sagen. Oder er würde ausweichen.
"Ich habe meine Gründe."
Also ausweichen.
Da halfen nur handfeste Drohungen.
"Wenn du es mir nicht erklärst, eröffne ich offiziell die Jagd auf dich und dein Rudel. Gründe hätte ich ja mehr als genug." Das schien ihn etwas nervös zu machen, aber im nächsten Moment war er wieder so selbstsicher wie zuvor.
"Es ist eine lange Geschichte." Josh wollte Einzelheiten. Und diese würde er heute auch bekommen.
"Ich hab Zeit." Derek gab sich geschlagen und sah Josh lachend ins Gesicht.
"Carla, meine Frau, hat mich damals betrogen. Mit einem Menschen! Ich habe sie von Rudel ausgeschlossen." Er erzählte es recht nüchtern. Nicht wie ein betrogener Ehemann, mehr so, als hätte er diese Geschichte schon ein paar mal wiederholen müssen.
"Und was hat Cassandra damit zu tun?" Derek ballte die Fäuste, sodass man die weißen Knöchel sehen konnte. Eine Gefühlsregung.
Interessant.

"Carla war von diesem Abschaum schwanger. Ich habe es erst erfahren, als sie die zwei Mädchen zur Welt gebracht hatte. Sie hat sie zur Adoption freigegeben, sodass ich sie nicht finden konnte." Josh hob verwundert eine Augenbraue.
"Das kann nicht stimmen. Wölfe und Menschen können keine Kinder zeugen." Derek sah zur Seite und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
"Das dachte ich auch. Aber es war so. Die Kinder sind halb Wolf, halb Mensch." Er sah auf seine Hände.
"Sie wollte mir nichts sagen... da bin ich total aus gerastet. Erst als sie sich nicht mehr bewegte..." Er sah Josh wieder in die Augen.
"Ich musste diese Bastarde finden und aus dem Weg schaffen. Das hat mir mein Stolz vorgeschrieben. Und es ist mein gutes Recht." Eine Pause entstand.
"Carmen war einfach. Doch Cassandra entpuppt sich als äußerst schwierig." Er verschränkte seine Arme vor der Brust und sah Josh direkt in die Augen.
"Ich hab schon alles probiert. Beim joggen sollte sie ein Auto überfahren, aber sie traf eine Freundin und verließ ihre Stammroute. Dann hatte ich ihr Auto manipuliert und ein Dieb klaut es. Hab ihre Gasleitung beschädigt und diese verdammte Katze läuft weg. Ich hab zwei Männer engagiert, die sie betäuben und dann töten sollten. Den Fehlversuch mit der Armbrust hast du ja selbst mitbekommen." Das war eine gefühllose Aufzählung von verschiedenen Methoden, einen Menschen zu töten.
Und den Fehlversuch mit der Armbrust sollte Josh nun einfach so hinnehmen, als wäre es nur ein Kratzer gewesen und keine tiefe Fleischwunde?
Zuerst loderte in Josh eine Flamme der Wut auf, doch dann hatte er einen riesigen Kloß im Hals. Wäre nur einer von Dereks Pläne erfolgreich gewesen, hätte er Cassandra nie kennen gelernt.

Cassandra, die hinter der angelehnten Tür des Büros stand und gelauscht hatte, konnte es nicht fassen.
Dieser Mann, der Carmen und sie so liebevoll als Onkel in der Familie willkommen geheißen hatte, wollte sie umbringen - hatte Carmen schon getötet.
Josh hatte Recht gehabt. Derek war gefährlich.
Sie wollte gerade weg rennen, als Josh Derek an die Kehle sprang und gegen die Wand schleuderte. Ein heftiger Kinnhaken traf Derek ziemlich unvorbereitet.
"Wenn du oder dein Rudel ihr auch nur ein Haar krümmt, wirst du sterben. Sie ist meine Gefährtin." Derek wischte sich etwas Blut aus dem Mundwinkel und lachte ihn gehässig an.
"Du hast dich in diesen kleinen Bastard verliebt? Sie ist kein vollwertiger Wolf und wird es auch nie sein. Wenn du sie zu deiner Gefährtin machst, wirst du auf dein Rudel verzichten müssen." Josh schnaubte verächtlich.
"Das ist mir egal! Selbst als ich dachte, sie wäre ein Mensch, wollte ich sie zu meiner Gefährtin machen. Jetzt, wo ich weiß, dass sie zur Hälfte ein Wolf ist, wird sie erst recht meine Gefährtin. Rudel hin oder her." Cass hatte bis jetzt noch nicht gewusst, wie sehr er sie liebte.
Er würde für sie alles aufgeben. Sein Leben. Sein Rudel.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und Tränen der Freude stiegen ihr in die Augen. Derek wand sich aus Joshs groben Griff und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
"Dann werde glücklich mit dem kleinen Bastard." Josh packte Dereks Hand und hielt dieses fest.
"Außerdem würde ich in nächster Zeit keine Anschläge mehr auf die Mitglieder meines Rudels unternehmen. Die Explosion in der Fabrik wäre schon allein ein Grund, um einen Krieg vom Zaun zu brechen." Derek befreite seine Hand.
"Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich bin nur hinter Cassandra her gewesen." Bevor die Männer den Raum verließen, versteckte sich Cass hinter dem Gebäude und ließ sich weinend auf den Boden sinken.
Bastard! Sie war das Ergebnis eines Seitensprunges, der ihrer Mutter das Leben gekostet hatte. Genau wie Carmen.
Derek war krank, wenn er dachte, dass sie sich einfach umbringen lassen würde. Aber solange sie hier war, waren alle in ihrer Nähe in Gefahr. Auch wenn Derek gesagt hatte, dass er sie nicht mehr verfolgen würde, kannte sie Männer wie ihn. Er würde nie aufgeben. Er würde sie ewig verfolgen und alle auf seinem Weg töten.
Charlott, Charly, Josh, sein Rudel.
Ihr Herz krampfte sich zusammen.
Wie konnte sie alle beschützen?

Dann reifte ein Plan in ihr. Sie wischte sich die Tränen ab und stand auf. Sie wusste, was zu tun war.
Sie konnte stark sein.