23 Zu behaupten, Ians Auto wäre ins Zentrum
von Charleston gehumpelt, wäre eine grobe Beleidigung aller
gewesen, die humpeln. In der letzten Stunde seines geschäftigen
Lebens kroch und schnaufte der Wagen mit weniger als zwanzig Meilen
die Stunde voran und stieß dabei ständig Dampf unter der Haube
hervor. Die Fahrer der anderen Autos auf der Straße hätten den Biss
und die Entschlossenheit der sterbenden Kreatur beklatschen
sollen.
Stattdessen hupten sie, brüllten
Kraftausdrücke und zeigten Felicia immer wieder den
Stinkefinger.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Die Heizung lief auf Hochtouren, so dass das Wageninnere zu einem
regelrechten Schmelztiegel wurde. Ian, Lance und Felicia waren
schweißgebadet. Die Fenster zu öffnen brachte wenig Erleichterung,
da das Atmen der heißen Luft von South Carolina sich anfühlte, als
würde man heiße Brühe einsaugen. Aber die Kreatur tuckerte weiter,
auf die hellen Lichter der Stadt zu.
Ihren endgültigen Parkplatz fand
sie im Parkverbot an der Ecke Queen- und Meeting-Straße, nahe der
südlichen Spitze der Halbinsel, auf der die Stadt Charleston liegt.
Felicia schob den Ganghebel auf Parken und hörte den Motor noch
eine Minute lang stottern. Dann knallte es laut unter der Haube.
Die Kreatur stieß eine weiße Wolke aus, wie einen letzten Atemzug,
und verstummte. Felicia drehte den Zündschlüssel um, erfolglos. Es
war kurz nach 23 Uhr.
»Verdammt«, sagte Lance und stieg
aus. »Wenigstens sind wir hier. Ich kann nicht glauben, dass wir’s
tatsächlich geschafft haben.« Er zog das schweißnasse Hemd von
seiner Brust ab und wedelte sich heftig Luft zu.
Ian schob sich aus dem Wagen und
knallte die Tür zu, dann griff er bei der Fahrerseite durchs
Fenster und zog an einem Hebel unterhalb des Armaturenbrettes, mit
dem sich die Kofferraumhaube öffnen ließ. »Bitte nehmt all eure
Sachen raus.« Er schnappte sich seinen Rucksack und die Plastiktüte
mit dem vollgekotzten Donut-Kostüm.
»Häh?«, machte Felicia.
»Wir lassen den Wagen stehen und
gehen zu Fuß.«
»Was meinst du mit ›den Wagen
stehen lassen‹?«, fragte Lance, deutlich geschockt.
»Ganz einfach: Wir gehen weiter
und das Auto bleibt da. Oder: Wir lassen es am Straßenrand stehen.
Oder: Hasta la vista, Kreatur.« Ian hängte sich den Rucksack
über die Schulter, dann warf er Felicia und Lance ihre Sachen
zu.
»Aber Ian«, sagte Felicia. »Es ist
dein Auto.«
»Es hat nur dreihundertundfünfzig
Dollar gekostet. Lance hat doch die ganze Zeit gesagt, es ist
praktisch zum Wegwerfen. Also werfe ich es weg. Und außerdem, wenn
ich es nie wieder von innen sehe, ist das in Ordnung. Wisst ihr,
woran es mich erinnert? An drei Dinge: Arbeit, Schule und die
völlige Erschöpfung nach der Arbeit oder nach der Schule.«
»Ich glaube, das sind vier Dinge,
Alter.«
»Egal. Mir gefällt nichts davon.
Und es erinnert mich auch an diese verdammte Fahrt. Auch das
spricht nicht für das Auto.« Er wickelte das Donut-Kostüm in eine
zweite Plastiktüte, die er dann in eine freie Tasche seines
Rucksackes stopfte. »Gehen wir, Leute.«
»Ähm … wie sollen wir denn ohne
Auto irgendwohin kommen?«
»Wir laufen. Es ist nicht weit bis
zu Danielles College, wirklich. Vielleicht noch eine Meile oder
so.« Er hielt inne. Felicia machte einen erschöpften Eindruck.
»Hier gibt’s jede Menge historischen Krempel, Felicia. Es könnte
ein schöner Spaziergang werden.«
»Wie kommen wir nach Hause?«
»Amtrak. Es gibt täglich einen
Zug. Oder vielleicht mit dem Greyhound. Busse fahren immer. Ich
habe jede Menge Dunkin’-Donuts-Geld auf dem Konto, mit dem ich die
Fahrkarten bezahlen kann. Mach dir keine Sorgen, Felicia.«
»Wird dein Dad nicht einen Anfall
kriegen wegen dem Auto?«, meinte Lance.
»Klar. Keine Frage. Ich glaube,
wir werden ihm sagen müssen, ich hab’s verkauft.«
»Verkauft?«, fragte Felicia. »Wer
würde das denn kaufen?«
»Lances’ Cousin Doug.«
»Doug? Der hat noch nicht mal
genug Geld für Bier, ganz abgesehen von Knete für ein
Au…«
»Darauf kommt’s nicht an. Wir
sagen meinem Dad einfach nur, Doug hat mir, sagen wir, vierhundert
Dollar geboten und ich hab’s angenommen. Wenn er denkt, ich habe
fünfzig Dollar aus einem Auto rausgeholt, das älter ist als ich,
dann umarmt er mich und stellt weiter keine Fragen.«
»Wird die Stadt Charleston euch
nicht eine Menge Strafzettel nach Hause schicken und das Teil dann
irgendwann mal abschleppen lassen?«, fragte Felicia.
»Das ist wirklich Dougs Problem«,
antwortete Ian.
Felicia und Lance schauten sich
einigermaßen verwundert an.
»Können wir jetzt bitte
losgehen?«, sagte Ian.
Sie gingen los, vorbei an den
stattlichen alten Häusern der Stadt, von denen viele mit
verschlungenen Geländern, vornehmen Säulen, Gittern und
bleigefassten Fenstern ausgestattet waren. Die drei
Vorstadtmenschen kamen sich vor wie in einer anderen Welt.
Beziehungsweise zwei von ihnen fühlten sich wie in einer anderen
Welt. Auch Ian hätte sich wie in einer anderen Welt gefühlt, wenn
er seine Umgebung wahrgenommen hätte. Aber er war damit
beschäftigt, Danielle eine Nachricht zu schicken. Sie jedoch
antwortete nicht.
Das war’s. Ich hab’s total
vermasselt. Wenn ich vor ihrer Tür stehe, ist es Mitternacht, sie
wird irgendwo eingepennt sein und ich muss – nein, Lance, Felicia
and ich müssen uns einen Ort zum Übernachten suchen. Weiß Gott, wo.
Und ich werde mit Sicherheit keinen Sex haben. Und warum nennt mich
Felicia andauernd Schisser und Mega-Schisser? Das gefällt mir
nicht.
»Sind wir bald da?«, fragte
Lance.
»Es ist nicht weit. Halte das
Tempo.«
Ein ziemlich großes Insekt summte
an Felicia vorbei. Sie schnappte nach Luft, schlug mit den Händen
um sich, fiel in ein Blumenbeet und verschüttete ihr Getränk. »Habt
ihr das Scheißteil gesehen!?«, rief sie aus. »Meine Güte!«
»Das ist eine amerikanische
Großschabe«, sagte Ian matt und half ihr auf die Füße.
»Das sah aus wie eine fliegende
Ratte!«
»Ist auch so was Ähnliches. Ein
fliegender Kakerlak. Könnte der Wappenvogel dieses Staates hier
sein.«
Felicia musste sich fast
übergeben. Sie liefen weiter, bis sie zum Campus der Southern
University von South Carolina kamen. Ian beschleunigte seine
Schritte. Lances’ Kopf war auf »Schwenken« eingestellt. »Alter,
hier gibt’s ja irre Frauen! Und das Ding ist, die müssen ja alle
ganz schön schlau sein, wenn sie hier sind, oder? Meine
Fresse!«
Als sie an ein Gebäude mit
griechischen Buchstaben kamen, fing Ian an zu joggen. »Wir suchen
die George Street«, rief er. »Es ist das
Sigma-Tau-Delta-Haus.«
»Ein Glück, dass wir alle
fortgeschrittene Mathematik hatten«, sagte Felicia, die nicht ganz
mithalten konnte. »Mein Griechisch ist echt nicht besonders gut.«
Sie blieb stehen, weil sie in ihrem Zustand und bei der Hitze nicht
rennen konnte. »Ich schwitze durch meine Schuhe!«, rief sie. »Ich
sehe mich zum wiederholten Mal veranlasst, euch daran zu erinnern:
Krankes Mädchen an Bord!«
Zu ihrem Glück war auch Ian stehen
geblieben. Er befand sich auf dem breiten Bürgersteig vor einem
wunderschönen alten, zweistöckigen Haus, über dessen Tür die
Buchstaben ΣΤΔ standen. Im ersten Stock hing ein Spruchband
zwischen zwei Fenstern:
»Das wird’s wohl sein, was?«,
fragte Lance.
Ian nickte. »Ich denke, ja.«
Auf dem Rasen vor dem
Verbindungshaus hielten sich einige Partygäste auf, mehrere
tanzten, die meisten tranken und einige waren offensichtlich schon
hinüber.
»Alter«, sagte ein grinsender
Lance. »Das sind die attraktivsten Mädels, die ich in meinem ganzen
Leben gesehen habe. Oje, oje.«
»Du kannst nicht bleiben«, sagte
Ian. »Such dir selber eine scharfe Verbindung. Die hier gehört
mir.«
»Alter! Du hast doch schon ein
Mädchen. Komm schon, du kannst doch nicht erwarten, dass ich
abhaue.«
»Doch, das ist genau das, was ich
erwarte«, sagte Ian und wandte sich zu Lance um.
»Jungs, Jungs …«, sagte Felicia,
die langsam zu ihnen aufschloss. »Ich bin sicher, ihr findet eine
Möglichkeit, euch die Mädchen zu teilen. Es gibt eine für Ian und …
warte mal … ein, zwei, drei … ungefähr vierzig für Lance. Damit
sollte er sich bis morgen früh amüsieren können. Ich geh einfach
rein und suche mir ein Bett oder eine Couch zum Schlafen. Bei dem
Trubel hier wird das niemandem auffallen. Ich brauche
wahrscheinlich nicht mal dem Verein beizutreten.«
»Ihr kommt nicht mit rein«,
erklärte Ian entschlossen. Sein orangefarbenes Gesicht war
schweißnass. Er roch tatsächlich wie eine Mischung aus Hund, Socken
und Feuerzeugbenzin. Seine hochgeschwungenen Augenbrauen verliehen
seinem Gesicht einen irren Ausdruck, den es normalerweise nicht
hatte.
»Was verlangst du?« Lance legte
eine Hand auf Ians Schulter, aber Ian schüttelte sie ab.
»Ich verlange, dass ihr mich hier
alleine lasst. Ich weiß, dass es ein Fehler war, euch beide
mitzunehmen. Wenn ihr mich nicht aufgehalten habt, habt ihr mich
beleidigt.« Er machte ein paar Schritte auf die Eingangstür zu.
Zwei betrunkene Studentinnen mit Plastikbechern in der Hand liefen
lächelnd zwischen Lance und Ian durch. Lance hatte Mühe, sich auf
das Gespräch zu konzentrieren.
»Äh … Alter. Ich habe gedacht, uns
allen hat die Fahrt Spaß gemacht. Ich meine, sogar trotz der
Kopfschmerzen und dem Kotzen und den wütenden Boyfriends und dem
Stress mit der Polizei – also, mir hat das jedenfalls Spaß
gemacht.«
»Mir eigentlich auch«, sagte
Felicia. »Aber auf das Kotzen hätte ich verzichten können.«
»Das war doch als
Lance-Super-Fahrt geplant. So was wie The Real World, das
spielt auch immer in einer anderen Stadt. Ich habe gedacht, wir
könnten nächstes Jahr den Lance-Super-Hammer vielleicht in Miami
veranstalten. Oder in New Orleans. Oder in New York. Oder in
Bost…«
»Lance, das hier ist nicht so was
wie The Real World! Das hier ist die Welt des falschen Ian!
Bei dieser Fahrt geht es darum, dass ich aus dem alten Trott
rauskomme! Bei dieser Fahrt geht es darum, dass ich einmal in
meinem bescheuerten Leben was mache, das wenigstens entfernt nach
Abenteuer schmeckt. Bei dieser Fahrt geht es darum, dass ich
endlich was mit einem Mädchen hinkriege – einem echten, lebendigen
Mädchen! Nein, sie ist nicht gerade eine, die ich unbedingt
lieben würde – oder die mein wirkliches Ich kennt. Einfach
ein Mädchen. Außerdem würde sie mein wirkliches Ich sowieso nicht
mögen. Das tut ja offensichtlich keine. Ian Lafferty ist ja immer
nur einer, mit dem man bei der Arbeit die Schicht tauscht oder von
dem man sich Notizen aus dem Unterricht geben lässt oder dem man
irgendeinen langweiligen Scheiß aufdrücken kann, mit dem sich sonst
keiner beschäftigen will. Ich bin bloß ein Scheiß-Werkzeug, Lance.«
Ian machte eine Pause. »Aber bei Danielle ist das anders.«
»Genau, da läuft eine fette Lüge«,
sagte Felicia. »Das ist der Unterschied.«
»Aber du musst doch zugeben, dass
es funktioniert, wie Lance gesagt hat.«
»Ich habe gedacht, bei dieser
Reise nach den Sommerferien geht es um drei gute Freunde, die
wieder Anschluss aneinander finden und einfach Spaß haben wollen.
Ihr beide habt mir total gefehlt.« Lance hatte einen ausgesprochen
beleidigten Ton. »Ist das nicht ein bisschen wichtiger als das, was
du von dieser Braut kriegen kannst?«
»Offensichtlich sieht Ian das
nicht so«, sagte Felicia grimmig.
»Ich habe euch beiden von Anfang
an gesagt, dass ich das hier lieber alleine machen sollte.«
»Nein, Alter, du hast uns von
Anfang an gesagt, dass deine Großmutter krank ist.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Hört mal, ich möchte, dass ihr
euch in Charleston amüsiert«, sagte Ian. »Aber nicht hier, nicht,
wo Danielle wohnt.« Er griff in seine Brieftasche, holte einen
Packen Zwanziger raus und drückte ihn Lance in die Hand. »Das ist
alles Bargeld, was ich bei mir habe. Bezahlt damit den Bus oder die
Bahn – was immer. Es tut mir leid, dass ich euch nicht zurückfahren
kann. Ich nehme morgen den Zug. Und ich werde wohl meinen Chef
anrufen müssen und der wird mich wahrscheinlich rausschmeißen, aber
das ist mir eigentlich egal. Meinem Dad wird das nicht egal sein,
doch den werde ich schon beschwichtigen können.« Ian seufzte. »Ich
muss jetzt.«
Er machte einen Schritt auf das
Haus zu.
»Warte, Ian«, sagte Felicia. »Da
ist noch was anderes. Ich will dir noch was sagen. Ich habe
…«
»Was denn noch?«, sagte er und
fuhr herum. »Was habe ich denn noch nicht zu hören bekommen? Gehen
wir die Liste durch: ›Du hast die falschen Motive, Ian.‹ Und:
›Deine Haare sind nicht in Ordnung, Ian.‹ Und: ›Deine Augenbrauen
sind zu buschig, Ian.‹ Und: ›Du machst einen Fehler, Ian, was du
bestimmt bedauern wirst.‹ Und: ›Denk beim Sex an was Widerliches,
Ian. Zum Beispiel an deinen Vater.‹ Ich glaube, das hat mir am
besten gefallen. Oh, und dann noch: ›Sei nicht so ein Schisser,
Ian.‹ Und dann natürlich: ›Ich muss pinkeln, Ian.‹ Und: ›Möchtest
du eine Käsetasche, Ian?‹« Er blickte Felicia beinahe verbittert
an. »Also, was willst du mir jetzt noch sagen?«
Sie war offensichtlich
erschüttert.
»Ich, ähm …« Sie versuchte, die
Fassung zu bewahren. »Ich wollte dich nur daran erinnern, dein
Mango-Kondom zu benutzen, du Macker.«
Sie wandte sich um und ging
Richtung Straße. Ian schritt zur Eingangstür des
Verbindungshauses.