03 Als Ian die Augen aufschlug, war sein
Zimmer voller Sonnenschein. Die digitale Uhr neben seinem Bett
zeigte 9:48.
Es dauerte einige Augenblicke, bis
er sich drei wichtige Faktoren vergegenwärtigt hatte:
-
Er hatte nicht bloß ein Nickerchen gemacht, sondern die ganze Nacht hindurch geschlafen.
-
Seine Eltern hatten versäumt, ihn zu wecken, als sie zum Flughafen aufbrachen.
-
Wenn er um Mitternacht in Charleston sein wollte, lag er bereits hinter seinem Zeitplan zurück. Und …
-
Felicia und Lance werden in – in zehn Minuten hier sein! Ähm … Scheiße!
Er hechtete aus dem Bett und
warf ein paar Klamotten in einen Rucksack, dann schnappte er sich
die Karte, seinen Lacai, die Wagenschlüssel und seine Brieftasche.
Er legte den Schaumstoff-Donut dazu, für den Fall, dass er Montag
früh direkt zur Arbeit fahren musste. Dann sprang er unter die
Dusche, putzte sich die Zähne und zog sich ein unbedrucktes T-Shirt
und Cargo-Shorts an.
Seine digitale Uhr zeigte 9:56. Er
raste zur Tür.
Als er sie öffnete, kam Felicia
Alpine bereits lächelnd die Auffahrt heraufgeschlendert. Sie
umarmte Ian, noch bevor der ihren Namen hatte sagen können, und er
war – obwohl er sich mitten in einem hektischen, quasi
fluchtartigen Aufbruch befand – ausgesprochen froh, sie zu sehen.
Eine Art Nach-Ferien-Glanz umgab ihre ansonsten vertraute
Erscheinung. Ihr braunes Haar war in asymmetrischen Zöpfen
zusammengebunden; sie trug verschlissene Jeans und dazu ein
kleines, grellgrünes T-Shirt mit der Aufschrift JOLEYS
EIERKUCHEN-LADEN, darunter das Bild eines verwirrt aussehenden
Typen, der auf einem riesigen Stapel Eierkuchen stand. Felicia
küsste Ian auf die Wangen, was ihn erschreckte.
»Ich in Europa, Monsieur Lafferty.
Da wir uns begrüßen so.«
»Also dann, hallo.« Er lächelte
und blickte über ihre Schulter hinweg. »Ähm, Lance … sag einfach
hallo. Wir brauchen uns nicht zu küssen. Ich hoffe, das ist
cool.«
Lance stieg aus seinem winzigen
Mazda und Ian sauste an ihm vorbei. Er öffnete den Kofferraum der
Kreatur und warf seinen Rucksack sowie das Donut-Kostüm
hinein.
»Schön, dass du schon fertig bist.
Als du gestern so rumgeeiert hast, dachte ich schon, du willst dich
drücken.«
Ian sagte nichts. Genau diese
Situation hatte er vermeiden wollen. Er suchte verzweifelt nach
einer plausiblen Ausrede, um den Lance-Super-Hammer schwänzen zu
können, da packte ihn Felicia am Arm.
»Hast du gestern Abend wirklich
schon geschlafen, als ich angerufen habe? Das hat jedenfalls deine
Mutter gesagt. Sie hat sich solche Sorgen gemacht, weil ihr Junge
in die große, böse Stadt fährt …« Felicia kniff Ian in die Wange.
»Aber ich habe ihr versprochen, dass wir auf dich aufpassen.«
»Doch.« Er grinste. »Ich habe
geschlafen. Ich weiß, ich bin ziemlich daneben. Bloß Arbeit und
Videospiele. Manchmal ’ne Sitkom. Mit der Zeit kann einen das ganz
schön fertigmachen.«
»Mach dir keinen Kopf, Kumpel. Uns
steht das ganze Wochenende bevor, da können wir alles nachholen.
Ich habe viel zu erzählen.« Sie drückte seine Hand.
»Genau«, sagte Ian und blickte zu
Lance rüber. »Wegen dem Wochenende …« Er hielt inne, gelähmt von
eisiger Verlegenheit. »Ich kann nicht. Ich muss …«
Er blickte zu der Kreatur, die er
im vergangenen Jahr Norma abgekauft hatte, der Zimmernachbarin
seiner Oma im Altenheim.
»Wegen meiner Oma. Der geht’s
nicht gut. Überhaupt nicht. Richtig krank ist die. Meine Eltern
sind schon bei ihr. Sie sind gestern Abend gefahren. Hab dann spät
in der Nacht einen Anruf bekommen. Könnte ernst sein. Ich muss echt
dahin.« Er merkte sofort, dass er zu schwafeln anfing, weil er
nervös war. Konnte aber nichts dagegen machen. »Krank. Krank.
Krank. Ist wichtig, dass ich hinfahre. Total wichtig.«
Ian warf Felicia kurz einen Blick
zu, dann schaute er zur Seite. Sie wirkte geknickt und
durcheinander. In ihm zog sich alles zusammen. Das waren
schließlich seine ältesten und besten Freunde. Er guckte noch
einmal zu Lance hinüber.
»Ehrlich. Ich kann echt nicht. Ich
wünschte, ich könnte. Aber es geht nicht.«
Er stieg hinter das Steuer der
Kreatur.
»Und du musst jetzt sofort los?«,
fragte Felicia.
»Ja, leider, ich bin schon spät
dran. Ich melde mich am Montag.«
Ian brauste die Auffahrt runter,
wobei er sich total mies fühlte. Felicia und Lance standen im
Vorgarten der Laffertys auf dem Rasen neben dem Rasensprenger und
blickten sich fassungslos an.
So schlimm dieser Moment auch
gewesen war – seiner lieben armen Großmutter so eine Schwäche
anzudichten –, viel schlimmer wäre es gewesen, die ganze Wahrheit
über Danielle zu erzählen.
Sobald er auf der Autobahn war,
würde er sich voll und ganz auf den lebensverändernden Gewinn der
vor ihm liegenden Reise konzentrieren können, da war sich Ian
sicher. Aber erst musste er noch in eine Drogerie.