09 Lance schoss aus dem kleinen Gebäude, am
Laden von Ed vorbei und rutschte über die Kofferraumhaube von Ians
Auto, wobei er einen Strumpf verlor. Ian bückte sich und wollte ihn
einsammeln.
»Lass die Scheißsocke liegen!«,
brüllte Lance panisch. »Fahr los, Ian! Fahr los! Dieser Rick kann
jeden Moment hier sein! Und ich wette, der fährt irgend so einen
sauschnellen El Camino! Oder einen Pick-up mit einem
Maschinengewehr hintendrauf! Und mit einem Killer-Pitbull!« Ian
ließ die Socke liegen und rannte um die Kreatur herum zur
Fahrerseite.
»Mach schon!«, drängte
Lance.
»Cool, du Hirnie.« Ian wollte ihm
einen strengen Blick zuwerfen, aber daraus wurde schnell ein
Lachen. Vor ihm auf der Straße stand ein bedripster und barfüßiger
Lance mit einem riesigen Hello-Kitty-Gesicht vor dem Unterleib.
Felicia kicherte. Alle drei atmeten heftig von dem kurzen Sprint,
aber nur Lance schien wahrhaftig Angst zu haben.
»Ich sollte dich so stehen lassen,
Lance. Allein. Nackt. Voller Panik, wie der letzte Dussel.« Ian
öffnete die Wagentüren. Lance ließ sich auf den Rücksitz
fallen.
»Bitte fahr los«, sagte er.
Ian wendete seinen Wagen auf der
verlassenen Hauptstraße von Bodner, Indiana, so schwungvoll, dass
er Staub aufwirbelte. Lance blickte durch die Rückscheibe hoch zur
Wohnung von Susie.
»Ich sehe nichts«, sagte er, immer
noch schnaufend. »Wie schnell kann die Kreatur fahren, Alter? Lass
uns das mal ausprobieren. Lass jucken, Junge. Hol aus der Maschine,
was du kannst.«
»Also, die Kreatur ist jedenfalls
nicht schnell genug, um die Zeit aufzuholen, die wir vertrödelt
haben, weil du mit Susie rummachen wolltest.« Ian holte Luft. »Also
echt. Keine Seitensprünge mehr, Lance. Keine. Null.«
Ian fuhr eine scharfe Biege zurück
zur Autobahn. Die Kreatur schlingerte ein wenig, dann griffen die
Reifen wieder und rollten auf die niedrig stehende Sonne zu.
»Ist ja gut«, sagte Lance. »Aber
du musst doch zugeben, das war eine süße Biene, oder?«
»Lance, sobald wir wieder zu Hause
sind, kannst du so viel Sex haben, wie du willst, mit wem auch
immer. Aber ich schwöre dir, wenn du mich auf dieser Fahrt noch
eine Sekunde Zeit kostest – egal aus welchem Grund – fliegst du
raus.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und bitte zieh dir
was an.«
Lance warf seine Sachen auf den
freien Platz neben sich und überprüfte kurz, ob er wirklich nur
eine Socke verloren hatte. Dann hielt er seine Boxershorts
hoch.
»Ian, ich kann dir schnell noch
eine Lektion geben. Nur damit du wenigstens etwas von diesem
zugegebenermaßen enttäuschenden Teil unserer Reise hast.« Er hielt
die karierten Boxershorts nach vorne. »Kannst du an denen was
Ungewöhnliches feststellen?«
»Das reicht, Lance«, sagte
Felicia. »Zieh das Ding an, aber schnell.«
»Guck ja nicht nach hinten,
Felicia.«
»Keine Bange«, sagte sie. »Von dir
habe ich mehr als genug gesehen.«
»Also, Ian«, sagte Lance. »Kannst
du was Ungewöhnliches entdecken?«
»Könnten wir dies als eine
rhetorische Frage behandeln?«, sagte Ian. »Denn ich habe wirklich
keine Lust, mir deine Unterhosen anzugucken.«
»Klar, sicher. Rhetorisch. Also,
was ich meine, ist, dass meine Boxershorts überhaupt nicht
ungewöhnlich sind. Gar nicht. Das heißt, wenn ein Mädchen die
sieht, dann wird ihr weder die Luft wegbleiben noch gerät sie in
Panik oder stürzt aus dem Bett und schreit nach ihrer Mutter. Diese
Boxershorts stellen kein Hindernis dar.«
»Und was willst du damit sagen?«,
fragte Ian. »Denkst du vielleicht, ich hätte für Danielle so ein
ekelhaftes Leder-Reißverschluss-Teil angezogen? Habe ich aber
nicht. Also, mach dir keine Sorgen.«
»Nein, es ist nur … du hast ein
bestimmtes Renommee.«
»Häh?«
»Wa…?«, sagte Felicia.
»Erinnerst du dich daran, als wir
bei Greg Blanc übernachtet haben, 1998?«
»Lance, da war ich elf.«
»Du hattest gelbe Unterwäsche an,
Ian.«
»Das war keine gelbe Unterwäsche,
Lance. Das war Chewbacca-Unterwäsche. Das ist was ganz
anderes.«
»Sie war gelb, Ian.«
»Das war Star-Wars-Unterwäsche.«
Der Geschwindigkeitsmesser zeigte über neunzig Meilen. »Die war
total cool. Und außerdem habe ich die schon lange nicht mehr. Ist
mir doch viel zu klein.«
»Also, was ich dir eigentlich
sagen will: Bloß nichts Albernes untendrunter tragen, Ian. Keine
Kampfstern-Galactica-Unterhemden, keine Boba-Fett-Medaillen, keine
Power-Rangers-Slips, kein …«
»Verstanden. Und ich weiß deine
Fürsorge zu schätzen, Lance. Jetzt zieh bitte deine Boxershorts
an.«
»Wie sehen denn die
Power-Rangers-Unterhosen aus, Ian?«, fragte Felicia. »Hört sich
scharf an. Im Ernst.«
»Ach, halt die Klappe.«
»Hmm. Nö, mach ich nicht.« Sie
drehte sich zu Lance um. »Hey, wie wär’s, wenn du mich mal ein
bisschen unterstützen würdest? Der Typ hätte dich zu Hackfleisch
verarbeitet, wenn ich nicht so getan hätte, als wäre ich deine
Freundin – übrigens eine Vorstellung, die ich ziemlich abturnend
finde. Rick war ganz schön angefressen. Und groß.«
»Du hast echt hart zugeschlagen,
Manno. Unnötig hart. Mein Schienbein tut irre weh. Ich sollte dich
wegen Körperverletzung anzeigen.« Er machte eine Pause. »Aber
danke. Ich wäre bei einem Kampf gegen Rick wegen fehlender
Bekleidung echt gehandicapt gewesen.«
»Ähm … mal ganz abgesehen von
deiner mangelnden Kampferfahrung. Du hast nämlich keine. Null. Du
hübscher Junge.« Sie schnüffelte an dem geklauten Schwung
Käsetaschen. »Mmmm, Käse.«
Fahr schneller, sagte sich
Ian. Er wurde langsam sauer. Der Zeitplan ist im Eimer. Wir
werden nicht mehr anhalten. Vielleicht muss ich noch mal über die
Pinkelpausen verhandeln. Wir könnten schon in Kentucky sein, wenn
wir keine Pinkelpause gemacht hätten. Und wenn wir Lance nicht
dabeihätten.
Er drehte am Knopf des Autoradios
und suchte nach Musik, die zu seiner Stimmung passte – was zu dem
Zeitpunkt eigentlich nur irgendein ätzender Death-Metal-Sound hätte
sein können. Er fand nichts als Countrymusic, Berichte aus der
Landwirtschaft und hin und wieder einen Sender aus Indianapolis mit
den vierzig Top-Hits. Frustriert schaltete er das Radio aus.
»Ich hoffe, Susie kommt mit diesem
Rick klar«, sagte Lance. »Vielleicht sollten wir doch lieber
zurü…«
»Sag’s nicht, Lance. Ich bin
sicher, dass sie klarkommt«, sagte Ian. »Sie haben wahrscheinlich
ein nettes, vernünftiges, erwachsenes Gespräch über ihre Beziehung.
Ihr geht’s gut.«
»Wahrscheinlich werden sie sich
gerade heftig lieben«, sagte Felicia grinsend. »Käsetaschen?« Sie
hielt die lauwarmen Teile erst Ian hin, dann Lance.
»Nein, danke«, sagte Ian.
»Später«, sagte Lance. »Vielleicht
nach dem Abendessen. Wir halten doch bald, oder? Wo sollen wir
essen?«
»Du isst auf dem Rücksitz, Lance«,
sagte Ian ausgesprochen verstimmt. »In der Tüte sind jede Menge
Chips. Felicia hat ihre Käsetaschen. Ich habe meine
Früchtetörtchen. Wir fahren.«
»Das ist so was von daneben. Das
ist total daneben. Vielleicht ein schnelles Sparmenü? Steak ’n’
Shake? Arby’s? Taco Be…«
»Nein. Weißt du, was daneben ist,
Lance? Wir sind schon ungefähr sechs Meilen gefahren und du bist
immer noch nackt.«
»Der Junge ist ein
Hello-Kitty-Fetischist«, sagte Felicia.
»Du würdest staunen, wenn du
wüsstest, was ich für Fetische habe.«
»O nein, das würde ich
nicht.«
Lance zog sich an. Felicia
schaltete das Radio wieder ein, fand einen Sender aus Indianapolis,
der Hits aus den siebziger und achtziger Jahren spielte, und sang
mit lächerlich lauter und vollkommen atonaler Stimme mit. Wenn
Lance ein Lied gefiel und er sich nicht gerade Doritos in den Mund
stopfte, stimmte er ein.
Ian jedoch sang nicht. Er sprach
auch nicht. Er raste einfach durch die ländliche Gegend, vorbei an
Kühen, Feldern, Silos und Scheunen, an denen er auf dem Weg nach
Bodner schon einmal vorbeigekommen war. Er ging im Kopf noch einmal
alle Fehlentscheidungen und Missgeschicke durch, die zu einem so
unsinnigen und überflüssigen Umweg geführt hatten. Als er die
Bundesstraße 65 erreichte, hatte er sich in eine miese, angespannte
Stimmung gegrübelt.
In einer Pause zwischen zwei
Liedern sprach ihn Felicia an.
»Ian, könnten wir mal kurz für
eine Minute ranfahren und …«
»Nein.«
»Hast du nicht ein kleines
bisschen …?«
»Nein.«
»Aber wir müssen ja nicht …«
»Nein.«
»Aber wir haben doch überhaupt
nichts Richtiges zu essen dabei …«
»Nei-ein.«
Ians Blick war auf die Straße
geheftet. Felicia kicherte.
»Weißt du, Ian, wenn du Danielle
triffst, musst du aber ein bisschen bessere Laune haben. Mit der
miesen Stimmung wirst du nicht weit kommen.«
»Und«, fügte Lance hinzu und
versprühte beim Sprechen ein bisschen orangen Dorito-Staub, »wenn
du so eine miese Laune hast, kann das zu einer Dysfunktion der
erekti… – hey, sind das Dexys Midnight Runners?! Cool!« Lance
reckte den Finger Richtung Radio. »Hey, das ist richtig klassischer
Scheiß! Mach lauter!«
Ian tat nichts. Felicia stellte
das alte Radio lauter. Lance und Felicia schaukelten in ihren
Sitzen und brüllten die Liedtexte in den brausenden Fahrtwind, der
durch die offenen Fenster drang.
»At this moment, you mean
everything
With you in that
dress
My thoughts, I
confess
Verge on dirty …«
Ian schlängelte sich durch den
Verkehr, nutzte alle Spuren, überholte alle Autos. Er wünschte, er
wäre entspannt genug, um singen zu können. Felicias und Lances’
nervtötende Duette liefen bis gegen acht Uhr abends. Ihr Gejammer
über den Mangel an Essen und Trinken hielt wesentlich länger
an.
Lance: »Komm schon. Du bringst uns
um. Ich habe solchen Durst.«
Ian: »Trink deine Spucke.«
Felicia. »Erks. Aber durstig genug
bin ich.«
Und so ging es weiter. Felicia
verspeiste still alle Käsetaschen und gab hin und wieder einen
zufriedenen Laut von sich. Die Kreatur rollte durch das heiße Land,
immer weiter nach Süden, bis nach Kentucky hinein. Schließlich
waren Lance und Felicia ausgepowert und machten es sich nach einer
der raren Benzin-Getränke-Pinkelpausen zum Schlafen bequem. Lance
streckte sich auf der Rückbank aus, den Kopf auf dem Schaumstoff
des Donut-Kostüms, das Ian großzügig aus dem Kofferraum
hervorgeholt hatte. Felicia kippte den Beifahrersitz nach hinten
und klemmte ihre Füße in den Winkel zwischen Armaturenbrett und
Windschutzscheibe.
»Ian«, murmelte Felicia um 23:02.
»Du hast mir immer noch nicht erzählt …« Sie gähnte. »Wie oft du an
Sex denkst.«
»So selten, dass ich in
Trigonometrie ’ne Eins kriege. Aber so oft, dass ich jetzt mit
neunzig Meilen pro Stunde gen Süden brause.«
»Sehr seltsam«, sagte Felicia und
seufzte. Es verging eine kleine Weile. Sie gähnte wieder. »Bist du
nicht müde, Ian?«
»Nein, nicht die Spur.«
»Denn wir könnten mal anhalten.
Mir ist ein bisschen blümerant.«
»Du brauchst einfach Schlaf. Mir
geht’s gut. Ich fahre.«
»Wie weit?«
»Keine Ahnung. Die Nacht durch.
Oder bis ich ohnmächtig werde und wir von einer Klippe stürzen und
den Flammentod sterben. ›Zu schnell, um am Leben zu bleiben‹, wird
es heißen. ›Zu jung, …‹«
»… um flachgelegt zu
werden.«
Ian lachte verlegen. Felicia
gähnte wieder.
»Ich muss dir was sagen, Ian. Aber
es ist nie der …«
Lance warf seine einsame Socke
nach vorne.
»Seid jetzt stille«, murmelte er.
»Hier hinten versucht jemand zu schlafen.«
»Genau, es ist nie der richtige
Zeitpunkt.« Felicia rollte ihr Fenster runter und warf die Socke in
das dichte Unkraut am Rand der Autobahn.
»Das ist nicht nett«, sagte Lance
regungslos.
Er und Felicia waren bald
eingeschlafen. Ian Lafferty setzte seine Fahrt entschlossen
fort.