15 Die Uhr der Kreatur zeigte 13:32. Aber, fiel Ian ein, jetzt war Ostküstenzeit. Also 14:32. Er stellte die Uhr um.
Lance saß am Steuer. Er hatte darauf bestanden zu fahren, als Kompensation für frühere Missetaten. Ian hätte protestiert, wenn ihm nicht so der Schädel gebrummt hätte. Fehlender Schlaf, die stressigen Zwischenfälle und jede Menge extrem ungesunde Nahrung hatten ihn zur Strecke gebracht. Außerdem hatte Lance den Ruf, ungehörig schnell zu fahren und dazu mit rücksichtsloser Präzision. Für jemanden, der verlorene Zeit aufholen wollte – und darum ging es Ian –, war Lance der richtige Mann.
Die Kreatur scherte aus und ließ auf dem Parkplatz der Boone County Clinic eine Wolke aus Staub und Sand zurück. Die Reifen qualmten. Das Auto fuhr quietschend über einsame Landstraßen, vorbei an dem Gorilla, dem bösen Omen von Woodys Provinz-Oase, und zurück auf die Autobahn. Der alte Motor der Kreatur klang wie eine Waschmaschine voller Backsteine, dennoch konnte sich Ian nicht dazu durchringen, einen Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige zu werfen. Immerhin kamen sie wirklich sehr gut voran.
Die Insassen des Wagens waren still. Lance konzentrierte sich auf die Straße, Felicia krümmte sich voller Unbehagen und Ian fürchtete um sein Leben. Zu hören waren nur eine CD aus der Stereoanlage – ein Mix, den Felicia aus Chicago Hip-Hop und wütenden jungen Briten hergestellt hatte –, das donnernde Rattern des Wagens und ein gelegentliches Nachbeben von Felicias gastronomischem Schock.
Ian berechnete, wie lange sie noch unterwegs sein würden.
Vorausgesetzt, wir halten selten an und machen keine Umwege, werden wir etwa eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten durch North Carolina fahren. Aber Lance fährt so irre, als machten wir eine Probefahrt für ein NASCAR-Rennen. Also, wenn ich die ursprünglich angenommene Zeit mit einem Nesbitt-Faktor von, sagen wir, 0,85 multipliziere, dann bleiben uns noch … Moment, eine Stunde und zwölf Minuten. Und von der Landesgrenze an sollen es noch mal drei Stunden und fünfzig Minuten bis Charleston sein. Berücksichtigen wir Lances’ verrücktes Affentempo, bleiben uns … hmm … drei Stunden und sechzehn Minuten. Nicht schlecht, echt. Nein, ganz und gar nicht schlecht.
Aber Danielle hatte sich schon eine ganze Weile nicht gemeldet. Vielleicht hat sie mich abgeschrieben. Vielleicht sollte sie das. Oder sie hat auch ein bisschen Schiss bekommen. Schnell tippte er eine SMS an Danielle.
*KLEINER* UMWEG. TML. BIGE8DA.
VERSPROCHEN, ECHT!:)
Er hatte bereits auf Senden gedrückt, da merkte er, dass er vor lauter Sorge diese SMS als echter Ian, nicht als Ian, der Arsch, geschickt hatte. Der Arsch Ian würde sich nicht entschuldigen, würde keine Ausrufezeichen benutzen und würde ganz sicher keine Smileys schicken. Scheiße, Mann, bleib in deiner Rolle. Du bist bald da.
»Wir müssten um 20:39 in Charleston sein«, verkündete Ian seinen Freunden. »Plus/minus.«
»Heißt das, er kann langsamer fahren?«, fragte Felicia. »Oder muss er dieses Höllentempo beibehalten?«
»Langsamer geht nicht.«
»Ich gebe mein Bestes, Kapitän Solo.«
»Du weißt doch, dass Han Solo am Ende der Rückkehr der Jedi-Ritter General war, oder?«
»Und du«, sagte Lance, »warst am Ende der Rückkehr der Jedi-Ritter der blasseste Typ der ganzen Galaxie. Deshalb solltest du bei deiner Schnucki-Schnecke deine Science-Fiction-Kommentare auf ein Minimum beschränken.«
Sie fuhren weiter, über Flüsse und fast ständig durch Naturschutzgebiete. In regelmäßigen Abständen lobte Lance die Kreatur. Felicia erfand trotz ihrer andauernden Übelkeit ein Spiel, das ihnen die Zeit und die Langeweile vertrieb. Sobald sie an einem Ort mit einem einigermaßen merkwürdigen Namen vorbeikamen, komponierte sie ihm zu Ehren einen Country-Song.
»Oh, da kommt ein Schild. Prima. Mal sehen … ›Junaluska‹. Perfekt. Hmm. … Mein Hund stinkt nach Kack und ich kipp nen Zwölferpack / Ich sitz am Telefon, doch mein Lance, der ruft nicht an / Donnerstag hab ich mich hingegeben und nun ist alles umsonst gewesen / Er hat mich sitzen lassen, besoffen und pleite, in Junaluskaaaaa …«
»Super«, sagte Ian und klatschte. »Wieder ein Meisterwerk. Du hast echt eine Begabung für Country-Musik, Felicia. Fast so, als wärst du eine verlorengegangene Schwester der Judds oder so. Aber mit mehr Düsternis und Selbsthass.«
»Danke, Ian.«
»Genau, das war schön«, sagte Lance. »Aber warum muss ich in deinen Liedern immer der weiße Provinzler sein? Vielleicht will ich ja lieber der raue, verträumte Cowboy sein, dem du – die weibliche Balladensängerin – treu bist. Eigentlich müsste ich der Farmhelfer mit der großen Gürtelschnalle sein, nach dem du schmachtest.«
»Hmm«, sagte sie. »Das Gefühl krieg ich nicht hin, Lance. Okay, hier kommt das nächste Schild …«
Sie fuhren weiter, schossen die Bundesstraße 40 entlang. Sie erreichten South Carolina fast zu der Zeit, die Ian vorausberechnet hatte. Was er mit leisem Stolz registrierte. Und ebenso leise wurde er langsam nervös. Es gab keine Landesgrenzen mehr zu überqueren, keine Meilensteine mehr zu passieren. Jedenfalls nicht vor Charleston. Er bibberte innerlich.
Felicia rief zu Hause an – vorgeblich, um sich bei ihren Eltern zu melden, wie es jede verantwortungsbewusste Tochter tun würde, aber hauptsächlich, weil sie wissen wollte, ob die Boone County Clinic mit den Eltern Kontakt aufgenommen hatte. Es hatte den Anschein, als wäre das nicht der Fall gewesen. Mit Felicias Mutter, die gerade beim Unkrautjäten war, als Felicia anrief, hatten sie zumindest nicht gesprochen. Der Vater war Golf spielen. Felicia bemühte sich, so gesund und munter wie möglich zu klingen.
»Geht’s euch gut, da in der Stadt, Liebes?«
»Ja, Mom.«
»Ist bestimmt toll, dass du wieder mit deinen Freunden zusammen bist.«
»Ja, Mom.«
»Tja, nächste Woche fängt die Schule wieder an, stimmt’s?«
»Ja, Mom.«
»Na gut, dann.«
»Tschüs, Mom.«
Klick.
»Hat keinen Sinn, ihnen von den Käsetaschen zu erzählen, bevor die Rechnung da ist«, sagte sie.
Auch Ian rief seinen Vater auf dem Handy an. Larry und Deborah Lafferty ging es offenbar ganz gut in Las Vegas. Larry informierte sich über neue Onlay-Techniken mit Polymeren – »Ich sag dir, Ian, manche dieser Typen sind keine Zahnärzte, die sind Zauberer!« – und Deborah spielte bis in den frühen Morgen an einarmigen Banditen. Alles schien sehr gut zu laufen, niemand hatte Verdacht geschöpft. Lance lehnte es ab, zu Hause anzurufen. Sein Fahrstil erlaubte nicht unbedingt den Gebrauch eines Telefons, und abgesehen davon hätten seine Eltern ihn, da er ja angeblich bei seinem Cousin übernachtete, bitten können, Doug ans Telefon zu holen. »Und außerdem«, sagte Lance, »ich bin einfach nicht der Typ, der zu Hause anruft. Ich glaube, meine Eltern wissen das. Die würden bloß dumm gucken.«
Im Westen zog eine Wolkenfront auf. Ian, der sich freute, wie gut sie vorankamen, und immer noch das Gefühl hatte, in seinem Schädel würde ein winziger Goldsucher hämmern, schlug vor, dass sie zum Tanken und Essen anhalten sollten.
»Benzin und was zu essen?«, fragte Lance. »Boah. Du bist ja ausgesprochen großzügig. Wie haben wir uns diese Wohltat verdient?«
»Klar, Anhalten ist riskant. Keine Frage. Denn sobald wir dir gestatten, längeren Kontakt zu einem weiblichen Wesen jedweden Alters – oder jedweder Art – aufzunehmen, scheinen wir Schwierigkeiten zu bekommen. Aber wir sind gut vorangekommen und, na ja … ich habe Hunger. Und du hast ja selbst gesagt, ich muss fit sein für meinen Auftritt.«
»Exzellent«, sagte Lance.
»Krass«, sagte Felicia. »Beides, der Gedanke an Essen und an deinen Auftritt. Total krass.«
Bei der nächsten Abfahrt verließen sie die Autobahn Richtung Westen. Schilder hatten sie zu der Annahme veranlasst, irgendwo in der Nähe von Forkboro, South Carolina, würden sich mehrere Tankstellen und Restaurants befinden. Sie schlängelten sich eine erstaunlich kurvige, zweispurige Straße entlang, bis sie auf Einkaufszentren und Benzinoasen stießen. Lance verspürte plötzlich einen Heißhunger auf Nuggets und hielt vor einem Chick-fil-A.
»Juhu, industriell verarbeitete Hühner!«, sagte Lance.
Felicia stöhnte. »O Gott. Ich glaube, ich kann das nicht mit ansehen, wenn ihr diesen Scheiß fresst. Ich kotze euch in die Dips.«
»Du solltest dir zumindest was zu trinken holen«, meinte Ian. »Du weißt doch, was die Ärztin gesagt hat. Flüssigkeit, Hydration et cetera.«
»Okay, klar, mach ich. Aber ihr müsst mir versprechen, diskret zu essen. Und ohne irgendwelche ekelhaften Schmatzgeräusche. Und – am allerwichtigsten – keinen Käse.« Sie stiegen aus dem Auto. Es hatte den Anschein, als würde bei jedem Halt die Luft draußen stickiger und heißer. Kaum hatten sie das Restaurant betreten, da hatte Ian schon große Schweißflecken auf seinem Hemd.
Ian und Lance holten sich ihre Tabletts mit frittierten Hühnerteilen und eilten an einen Tisch. Felicia blieb zögernd zurück, sie wollte nicht an Essen denken und vor allem nicht Leute beobachten, die welches zu sich nahmen. Sie traute Ian und Lance nicht zu, sich an ihre Bitte, »diskret zu essen«, zu halten – und das wurde ihr auch bestätigt. Die beiden aßen wie Höhlenmenschen. Felicia drehte ihnen den Rücken zu und nahm einen Schluck Limo.
»Na, Ian«, sagte sie. »Wirst du langsam nervös? Hast du schon Lampenfieber?«
»Hör nicht auf sie«, sagte Lance kauend. »Gibt keinen Grund, nervös zu sein.«
»Was ist, Ian? Fürchtest du dich nicht mal ein kleines bisschen? Sag schon.«
Als würdest du das nicht längst wissen. Natürlich fürchtete Ian sich vor der Sache mit dem Sex. Aber er fürchtete sich inzwischen auch vor dem nicht unbedeutenden Unterschied zwischen den mit dem Computer bearbeiteten Bildern, die er Danielle geschickt hatte, und dem Jungen, der vor ihrer Tür stehen würde. Allerdings hatte er nicht das Bedürfnis, das mit Felicia zu besprechen.
»Ich bin einfach gespannt«, antwortete er, ohne Augenkontakt mit ihr aufzunehmen. »Sagen wir mal so.«
Sie beugte sich zu ihm vor.
»Warum ist das für dich so wichtig, Ian?«, fragte sie.
»Sex?«
»Nein, dein Hühnchen, du Knallkopf. Ja, Sex.«
»Es geht nicht nur um Sex«, sagte er. »Ich will auch Danielle kennenlernen.«
»Und mit ihr schlafen!«, sagte Lance grinsend.
»Also, was ist mit dem Sex? Warum ist das so oberscheißwichtig, Ian?«
»Mann«, sagte Lance, hob den Kopf und blickte Felicia verwundert an. »Du fragst einen Jungen, warum er auf Sex scharf ist? Da könntest du genauso gut einen Clown fragen, warum er sich eine Knollennase aufsetzt. Das gehört dazu.«
»Ich habe einfach nicht geglaubt, dass Ian ein Clown ist, nehme ich mal an.«
Die drei saßen schweigend da und lauschten dem Musikmix, in dem Phil-Collins-Lieder verbraten wurden.
Lance und Ian waren bald fertig mit dem Essen. Als sie das Restaurant verließen, war der Himmel dunkler geworden. Sie tankten schnell an der nächsten Tankstelle. Bei der Abfahrt stand die Uhr auf dem Armaturenbrett auf 15:41.
»Wenn alles gut geht, war Forkboro unser letzter Halt vor Charleston«, sagte Ian.
Er zog den Lacai unter dem Passagiersitz hervor. Danielle hatte ihm endlich geantwortet.
8 UHR? WTF?! FAHR SCHNELLER!
Sekunden später hatte sie noch eine SMS geschickt.
… ABER WENN DU KOMMST, MACH ICH LANGSAM:)
»Nachricht von dem Mädchen?«, fragte Lance.
Ian sagte nichts. Er zeigte Lance einfach seinen Lacai.
»Ich bin Sklave der Landstraße.«
Lance schaute nach links und nach rechts, weil er zurück auf die Straße wollte. In dem Moment fuhr ein Jeep voller Mädchen an der Tankstelle vorbei.
»Oh … nein!«, sagte Lance.
Sein Kopf schwang herum, in Richtung der Mädchen. Sein Fuß trat das Gaspedal durch. Die Kreatur rutschte kurz über den Seitenstreifen und fuhr dann mit quietschenden Reifen auf die Straße. Schon raste die Kreatur mit hundert Meilen pro Stunde und kam dem grünen Jeep immer näher.
Sie fuhren in die völlig falsche Richtung.