06 »Also, ein paar Sachen müssen wir klären«, sagte Ian, als er am späten Vormittag auf die Bundesstraße 88 fuhr. »Auf dieser Fahrt gelten bestimmte Regeln. Und es gibt einen Zeitplan. Und eine Karte.«
Ian guckte kurz zu Felicia rüber, die auf dem Beifahrersitz saß, dann wandte er den Kopf nach hinten, um Lance seinen Standpunkt zu verdeutlichen.
»Du sollst nicht abweichen von den Regeln, dem Zeitplan oder der Karte.«
»Okay, Moses«, sagte Lance. »Wie auch immer. Also nichts mit Graceland?«
»Ich meine das ernst«, sagte Ian. »Ich meine es absolut, total, tödlich ernst. Wir müssen in einem Auto, das älter ist als ich, in drei Tagen 1870 Meilen durch sechs Bundesstaaten zurücklegen. Auf den ersten 935 können wir die meiste Zeit sparen. Wir halten nur zum Tanken. Zum Essen oder Trinken oder Pinkeln halten wir nicht. Auf der Rückfahrt – wenn wir unsere Mission erfolgreich erledigt haben – könnte ich euch mehr Entgegenkommen zeigen. Das entscheidende Wort ist könnte. Ich muss Montag früh um sechs Uhr dreißig auf der Arbeit sein. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich nicht zu spät kommen darf.«
»Ähm … ich darf nicht pinkeln?«, fragte Felicia.
»Wir pinkeln in Getränkedosen«, sagte Ian beschwingt. Über seinem Armaturenbrett schaukelte ein kleines Hulamädchen aus Plastik.
»Ich pinkele nicht in Dosen, Ian. Ich benutze Toiletten. Richtige Toiletten, die regelmäßig geputzt werden und nach Kiefernnadeln duften. Ich pinkele weder in Autos noch in Dosen. Ich bin keine Exhibitionistin und ich kann nicht zielen beim Pinkeln.«
»Okay, das ist ein gutes Argument. Felicia bekommt zusätzlich zum Tanken drei Pinkelpausen. Aber versuch, deine Flüssigkeitsaufnahme zu begrenzen. Und du kriegst nur eine Pinkelpause pro Staat.« Er hielt inne. »Lance, du musst trotzdem in Dosen pinkeln.«
»Und wenn ich aber nun mehr als hundertachtzig Kubikzentimeter pinkeln muss, Ian?«
»Das ist einfach ekelhaft«, sagte Felicia.
»Du nimmst zwei Dosen. Und du musst schnell wechseln.«
»Echt, das ist zu krass.«
»Alter, du hast noch nicht mal Halter für die Dosen. Wo sollen die Pinkeldosen denn hin?«
»Schmeiß sie aus dem Fenster. Aber wir werden nicht langsamer fahren, also pass auf, dass dir das Zeug nicht …«
»Im Ernst jetzt, hört auf damit!«, sagte Felicia. »Das ist mehr als krass. Das ist mittelalterlich. Lass mich hier raus. Ich trampe zurück.«
»Ian, mach doch nicht so einen Stress wegen der Zeit. Du hast das Mädchen an der Angel. Keine Frage. Sie wird dich nicht wegschicken, bloß weil du nicht pünktlich bist. Aber egal, da gibt es sowieso ein paar Sachen, über die du dir mehr Gedanken machen solltest als über Pünktlichkeit.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Ian«, fing Lance an und schob sich zum Vordersitz vor. »Wie oft hast du eigentlich schon Sex gehabt?«
Ian sagte nichts.
»Na?«, sagte Lance und wartete auf die Antwort, die er schon kannte.
»Worauf willst du hinaus?«
»Und wie viele Kondome hast du schon benutzt? Nein, wie viele Kondome hast du überhaupt schon gesehen? Du brauchst Unterricht, Alter, oder du wirst wie ein Amateur dastehen.«
»Ich bin ein Amateur. Als Profi machst du dich strafbar, möchte ich wetten.«
»Na ja, du weißt schon, was ich meine. Du wirkst dann wie ein Anfänger. Ein bisschen zu unschuldig. Mädchen finden das nicht besonders sexy, wenn der Typ das Kondom nicht locker draufbringt. Da habe ich doch recht, oder, Felicia?«
»Wollen wir nicht lieber wieder übers Pinkeln reden?«, fragte sie.
»Nö. Höchste Zeit, dass Ian ein paar Sachen lernt.«
Lance kramte in den Walgreens-Tüten, bis er das Päckchen mit der Lakritze fand. Er riss es schnell mit den Zähnen auf, dann holte er eine einzelne Lakritzstange raus. Er zog sie gerade, nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt das Ding genau zwischen Ian und Felicia.
»Sagen wir, diese Lakritzstange ist Ians, ähm … Hast du einen Namen dafür, Alter?«
Ian nahm für einen Moment den Blick von der Straße und überprüfte die Länge der roten Lakritzstange. »Soll das etwa mein … mein Ding sein?«
»So also nennst du es. Einfach ›Ding‹? Das ist ja furchteinflößend.«
»Nein. So nenne ich es nicht.« Er hielt inne. »Ich meine, ich sage gar nichts dazu.«
»Egal. Ich will ja nur, dass du dich bei der Demonstration wohl fühlst.«
»Ich würde mich viel wohler fühlen«, sagte Felicia, »wenn du endlich die Klappe hältst. Und nichts demonstrierst. Guter Gott, das ist doch obszön.«
»Nein«, sagte Lance, »das ist eine öffentliche Bekanntmachung.« Er nahm eine Hand von der Lakritzstange, die sich sofort nach unten bog. »Sagen wir mal, dieses eher traurige und schlaffe Kerlchen ist Ians ›Ding‹, wie er es nennt.«
Lance griff in seine hintere Hosentasche und holte seine Brieftasche heraus, aus der er ein verpacktes Kondom fischte.
»Felicia, bist du mal so nett und hältst Ians ›Ding‹, damit ich das Kondom auspacken kann?«
Er schob ihr die Lakritzstange hin.
»Ähm … nein. Nein, das tue ich nicht.«
»Nun nimm’s schon, du prüde Person«, sagte Lance und ließ die Lakritze Felicia auf den Schoß fallen.
Sie zuckte zusammen, kreischte aber nicht los. Ian hatte genau verfolgt, was Lance tat.
»Du hast ein Kondom in deiner Brieftasche? Ich meine, ständig?«
»Man kann nie wissen, Alter. Oder zumindest ist es das, was du bei Mädchen rüberbringen willst – das ist ein Typ, bei dem man nie wissen kann. Mit dem alles möglich ist. Für den Fall der Fälle hat er ein Kondom dabei.«
»Hm«, grunzte Ian.
»Übrigens, es ist sehr wichtig, dass du deinen Mango-Zauber in deiner Brieftasche stecken hast«, sagte Lance. »Hast du ihn in der Hosentasche, wirkt das zu begierig. Zu drängelig. In der Brieftasche ist es am besten. Wenn’s in der Brieftasche ist, dann denkt Danielle nur, …«
»… dass mit mir alles möglich ist«, beendete Ian den Satz.
»Genau. Als wärst du andauernd in so einer Situation.«
»Guter Gott, Ian«, sagte Felicia. »Du wirst eine kleine Lance-Kopie. Ein Mini-Lance. Sehr ungut, Ian. Sehr ungut.«
Lance packte schnell das Kondom aus. Dann schnappte er sich die Lakritzstange von Felicias Schoß.
»Das geht so, Ian.« Er drückte ein Ende der Lakritzstange auf die flache Scheibe des Kondoms, dann rollte er den Gummi über die Lakritze. »Ganz einfach, wirklich. Man muss es schnell machen.« Er klatschte Ian die umhüllte Lakritzstange ins Gesicht. »Oder du kannst es die Frau machen lassen, dann gibt’s keinen Grund zur Eile. Aber das ist ein ziemlich kühner Zug.«
»Das reicht!«, sagte Felicia. Sie riss Lance die Lakritzstangen-Kondom-Kombination aus der Hand und schleuderte sie auf den Boden. »Neues Thema, okay? Von mir aus auch gar kein Thema. Können wir vielleicht mal für eine Weile ganz und gar auf Sex-Lektionen verzichten?«
Ian schwieg verlegen. Lance widersprach unverfroren: »Aber Felicia, wir haben wirklich gehofft, dass du uns zeigst, wie …«
Sie funkelte Lance an und hob die Hand, um einen Schlag anzudeuten. »Du wirst ja wohl nicht scharf drauf sein, die Alpine Rückhand zu kosten, oder? Und außerdem bin ich sicher, dass ich dir nichts zeigen könnte, das du nicht längst gemeistert hast, stimmt’s?«
»Du bist zu freundlich.«
Danach wurde es still im Auto. Felicia kämpfte noch mit dem Jetlag. Sie rollte sich auf dem mit Vinyl bezogenen Vordersitz der Kreatur zusammen und schlief bald ein. Lance blätterte durch die Zeitschrift für Computerspiele und lästerte ab und zu über deren Leser. Er rief Doug an, um ihm mitzuteilen, dass sie ihren Lance-Super-Hammer gestrichen hätten. Doug erwiderte: »Oh, das ist cool. Warte mal, ihr wolltet mich besuchen kommen? Wann? Wozu?«
Ian fuhr.
Er durchquerte die ordentlichen Vororte von Chicago, bewegte sich im starken, nervtötenden Mittagsverkehr zentimeterweise an den Hochhäusern der Stadt vorbei, fuhr östlich entlang des Lake Michigan, wo er die Raffinerien, die Stahlwerke und andere Dreck spuckende Ungetüme im Industriesektor am Rande der Bundesfernstraße 80/94 passierte. Schließlich sauste er auf der 65 nach Süden, Richtung Indiana, raste an Maisfeldern, Schweinefarmen, Einkaufszentren, Autobahn-Oasen und geschäftigen Collegestädtchen vorbei. Und er dachte nach. Insbesondere darüber, dass er bei dem Versuch, mit einem Mädchen zu schlafen, die – wenn sie sich ihm so ohne Weiteres anbot – mit Sicherheit keine Jungfrau mehr war, sich total dämlich anstellen könnte. Natürlich wollte Ian den Eindruck erwecken, auf sexuellem Gebiet präsent zu sein, obwohl der Hauptgrund für diese Reise ja gerade darin bestand, erste Blätter für seine Sexualmappe zu erstellen. Und natürlich, um Danielle kennenzulernen. Aber vor allem, um Sex kennen zu lernen. Es kam ihm auch der Gedanke, dass es ihm möglicherweise darum ging, einen eher unbewussten Wunsch zu befriedigen, nämlich einfach das zu tun, was Jungen – die typischen amerikanischen, papierkügelchenschießenden, bierschluckenden Dumpfbacken – dringend tun wollten.
Das ist doch bescheuert. So bin ich doch gar nicht, oder? Nein. Mir geht’s um Spannung. Um Zufälle. Ums Ungewisse. Raus aus Naperville. Und wer weiß, wie sich die Dinge mit Danielle entwickeln? Vielleicht läuft einfach nur was Nettes.
Er fuhr und fuhr, hielt kaum an, lag gut in der Zeit. Dann wachte Felicia auf.
»Wo sind wir?«, fragte sie mit wackliger Stimme und hob zum ersten Mal seit drei Stunden den Kopf.
»Ungefähr fünfundzwanzig Minuten hinter Indianapolis«, sagte Ian. Er deutete über seine Schulter nach hinten. Felicia drehte sich um. Die Skyline der Hauptstadt Indianas war von einem einzelnen Hochhaus dominiert, das direkt aus dem Zentrum der Stadt aufzuragen schien. Als würde die Stadt uns den Finger zeigen, hatte Ian gedacht, als sie darauf zugefahren waren.
»Müssen wir bald mal tanken?«, fragte Felicia.
»Nö. Ich habe vor etwa einer Stunde getankt. Du hast die ganze Zeit geschlafen.«
»Tja, dann will ich jetzt meine Pinkelpause.«
»Kannst du nicht noch ein bisschen warten?«, fragte Lance. »Die Gegend hier zeigt keinerlei Anzeichen von Zivilisation.«
»Ähm – nein.«
»Super!«, zwitscherte Lance sarkastisch. »Ein Hoch auf die kleine Blase! Wie schön, dass wir ein bisschen ländliches Amerika zu sehen bekommen.«
»So ist das nun mal, wenn die Natur ihr Recht verlangt, Lance.«
Nach ein paar angespannten Minuten – in denen Felicia mit bloßen Füßen hektisch auf den Boden der Kreatur trappelte – fand Ian kurz hinter einer Abfahrt eine relativ sauber wirkende Mobil-Tankstelle. Kaum war er an einer Zapfsäule zum Halten gekommen, stürzte Felicia zum Eingang, kam kurz darauf mit dem Kloschlüssel heraus und rannte hinter das Gebäude.
»Das Klo muss hinten sein«, sagte Lance und bewegte sich auf das Gebäude zu. »Ich werde auch mal gehen, da für mich ja nicht angehalten wird zum Pinkeln. Das ist so was von sexistisch.«
»Genau. Kau mir ruhig die Ohren ab, Lance. Aber beeil dich. Beeil dich.«
»Füll du einfach die Kreatur ab, Ian.«
Ian ließ für weitere $ 6.82 Benzin in seinen Riesenschlitten laufen, putzte die toten Insekten von der Windschutzscheibe und wartete nervös auf seine Freunde.
Und wartete. Er schickte Danielle eine kurze Nachricht.
INDIANA. LAND DER 1 000 AROMEN.
Und er wartete noch eine Weile. Und wartete und wartete.
Schließlich kam Felicia zurück.
»Erleichtert?«, fragte Ian.
»Ja, das bin ich, danke.«
»Bitte, steig ein«, bat Ian.
Felicia schüttelte den Kopf und stöhnte. »Ian, ich muss wirklich mit dir reden. Ich glaube …«
»Du glaubst, ich mache einen Riesenfehler. Ich weiß. Und es kann auch sein, dass ich einen Riesenfehler mache. Das kann ich nicht bestreiten. Aber in diesem Sommer, da … ich war noch nie so … so gar nichts. Ich war überhaupt nichts. Ich habe nichts getan, was von Bedeutung wäre. Diese Fahrt gibt mir wenigstens ein Gefühl von Abenteuer, als würde ich etwas ausprobieren wollen. Keine Ahnung …«
»Darüber will ich gar nicht mit dir reden, Ian. Ich meine, das ist ein gutes Thema. Ein sehr wichtiges Thema. Wahrscheinlich sollte ich darüber mit dir reden. Aber das ist es nicht, worauf ich hinauswill.« Sie hielt inne, machte die Tür der Kreatur auf und setzte sich. »Also, auf meiner Reise, da hatte ich jede Menge Zeit zum Nachdenken, über …«
»Siehst du, das ist das Problem! Du hast diese fantastischen Ferien gehabt. Du hast wer weiß was gesehen und hast wer weiß was gegessen und hast wer weiß wen getroffen. Und was habe ich gemacht? Nichts. Rein gar nichts. Ich meine, ich habe Halo gespielt. Und Halo 2. Und Warcraft. Und ich habe Donuts verkauft. Das war’s, Felicia. Das war’s.« Er blickte zur Seite. »Ich brauche diese Fahrt, um was klarzukriegen. Und im Moment bedeutet das, dass ich Lance Dampf machen muss.«
Er marschierte los, zur Rückseite des Gebäudes.
Ian hatte fast zu sprinten begonnen, da stand er bereits vor der verrosteten Metalltür, auf der mit schwarzen Magnetbuchstaben TO ETT N stand. Er donnerte mit der rechten Faust an die Tür.
»Mach schon! Was treibst du da drinnen? Ein Nickerchen? Das ist echt unglaublich! Wie lange kannst du denn pissen?«
Ian hörte das Rauschen der Spülung, dann das Geräusch von fließendem Wasser.
»Wird langsam Zeit, du Blödhammel. Mann, ey!«
Die Tür ging quietschend auf.
»Ernsthaft, Mann, was zum Teu…«
Es war nicht Lance, der da aus der Toilette kam.
Es war ein Mann, etwa dreimal so groß wie Lance. In seinem langen Bart, der bis auf seine Brust reichte, hingen Fleischkrümel. Er trug ein zerrissenes T-Shirt von der Motorsportliga und eine schwarze Fernfahrerkappe mit der Aufschrift: FIESER FETTSACK. Auf seinen linken Arm war ein einzelnes Wort tätowiert: APFELKUCHEN. Auf dem rechten Arm prangte ein Schädel, der eine Fernfahrerkappe mit der Aufschrift FIESER FETTSACK trug. Auf dem Nacken hatte der Mann ein Reißverschluss-Tattoo. Seine Stimme war tief und monoton.
»Hast du mich gemeint?«
»Ähm … nein«, sagte Ian und wich zurück. »Also, ich wusste nicht, dass Sie Sie sind. Ich dachte, Sie wären mein Freund.«
»Das war nicht besonders freundlich, was du da von dir gegeben hast.« Er machte eine Pause. »Du hast Blödhammel zu mir gesagt.«
»Nein, das war nicht sehr freundlich, Sie haben recht. Ganz und gar nicht. Und ich möchte mich für den Ausdruck entschuldigen. Ehrlich. Tut mir leid, dass Sie sich das anhören mussten. Es ist nur … ähm, mein Freund, der ist vor ungefähr einer Stunde pinkeln gegangen. Ich dachte … Na ja, ist ja nicht so wichtig, was ich dachte. Wichtig ist, denke ich, dass man sich so viel Zeit lässt, wie man braucht. Da drinnen.« Ian zeigte auf die Toilette. »Zum Pinkeln. Oder egal wozu.«
Die beiden starrten einander schweigend an.
»Es war gedankenlos, was ich da gesagt habe«, versicherte Ian.
Der riesige Mann ging langsam auf Ian zu, klopfte ihm auf die Schulter und tappte schwerfällig auf den Eingang des Tankstellenshops zu. Kurz darauf tauchte Lance an der anderen Seite des kleinen Gebäudes auf. Neben ihm ging eine attraktive Blondine. Lance hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Sie schien geweint zu haben.
»Hey, da bist du ja, Alter«, sagte Lance. Das Mädchen an seiner Seite schniefte laut. »Ich habe dich überall gesucht.« Lance schwieg einen Moment, dann zwinkerte er seinem Freund zu: »Hey, Ian, kennst du Susie schon?«