14 Ian war nicht gewillt, Felicia das letzte Wort zu lassen, also folgte er ihr. Das war auch gut so. Durch den enormen Flüssigkeitsverlust wurde es Felicia schwindelig, sie blieb plötzlich stehen und schwankte. Ian konnte sie gerade noch auffangen und verhindern, dass sie in ein großes Gesteck Plastikblumen fiel. Die Kinder mit den Rotznasen gackerten über ihren Beinahe-Sturz.
»O je«, sagte Felicia schwach. »Danke, Ian.«
Die Krankenschwester nahm Felicias Arm. »Du siehst nicht so richtig gut aus, Kind.«
»Mir ging’s schon besser«, antwortete sie.
Die Krankenschwester führte Felicia und Ian in einen kleinen Untersuchungsraum und zog zur Wahrung der Intimsphäre einen gelben Vorhang um sie herum. Sie stellte Felicia eine Reihe von Fragen, maß Fieber und Blutdruck und gab ihr einen papierdünnen, blauen Kittel.
»Zieh das an, Kleines. Die Ärztin kommt gleich. Ein Stück den Flur runter ist ein Badezimmer, wenn du dich ungestört umziehen willst. Dein Freund kann derweil hier warten.«
»Oh, das ist nicht mein Freu…«
Die Krankenschwester verschwand hinter dem Vorhang und stapfte davon. Felicia hielt den Kittel hoch.
»Gott, ich hasse diese Dinger«, sagte sie. »Warum müssen die hinten offen sein?«
»Weil die Firmen, die Krankenhäuser ausstatten, in den Händen von Pornographen sind. Du bist so was von naiv, Felicia.«
»Wird wohl so sein.« Sie fläzte sich auf den Untersuchungstisch. »Hör mal, Ian, tut mir leid, dass ich dich wegen dieser Danielle so angeranzt habe.«
»Tut es dir gar nicht.«
»Okay, dann nicht. Weil ich nämlich recht habe. Aber ich versuche, edelmütig zu sein. Und ich möchte nicht, dass du sauer auf mich bist. Ich möchte nur, dass du dir das noch mal durch den Kopf gehen lässt.« Sie hielt inne, dann seufzte sie wehmütig. »So habe ich mir unser letztes Wochenende vor Schulanfang ganz bestimmt nicht vorgestellt.«
Sie knüllte den Kittel zusammen und rutschte vom Untersuchungstisch. »Ich werd mich wohl umziehen müssen. Bitte geh für einen Moment raus, damit ich in dieses hinternlose Teil schlüpfen kann.«
Ian schob den Vorhang zur Seite und sah, dass er sich in der Nähe des Stationszimmers befand, offenbar dem Nabel der Notaufnahme-Station. Telefone klingelten, Ärzte bellten Anweisungen heraus, Krankenschwestern machten unleserliche Notizen auf einer Tafel. Ian stand still an der Seite und achtete darauf, niemandem im Weg zu sein, bis Felicia ihren Kopf aus dem Untersuchungsraum herausstreckte und ihn zurückwinkte.
Sittsam saß sie auf dem Stahltisch und mühte sich, den blauen Kittel so unter ihren Beinen festzuklemmen, dass ihr Hintern bedeckt blieb. »Man ist krank, man ist müde, und dann wird man in so ein Ding gesteckt, das eigentlich nicht für dreidimensionale Figuren gedacht ist. Das ist so erniedrigend.« Sie atmete hörbar aus. »Mir fehlt mein blöder Hund.« Felicia sah vollkommen fertig aus.
Spontan schnappte Ian sich aus einem großen Glasgefäß einen Spatel, zog aus einem Metallspender ein paar Gummihandschuhe und machte von einigen Hepatitis-Broschüren das Gummiband ab, verband die drei Dinge miteinander, griff sich einen schwarzen Marker, der an einem Bioabfalleimer festgemacht war, und malte auf den Kopf des Spatels ein Smiley. Dann hielt er sein Werk Felicia hin.
»Gefällt’s dir?«
»Klar, Ian. Was soll das sein?«
»Ein Hund. Weil, du … dir fehlt deiner doch. Die Handschuhe sind seine Ohren.«
»Aber wo sind die Pfoten? Und der Schwanz?«
»Tja, dahinter verbirgt sich eine tragische Geschichte …«
Sie lächelte und tätschelte den flachen Holzkopf des Hundes. »Wuff«, sagte sie.
Der Vorhang wutschte zur Seite und herein trat die Ärztin. Sie war recht jung und trug eine dicke Brille. Im Knoten auf ihrem Kopf steckten nicht weniger als vier Bleistifte.
»Hallo – ich bin Dr. Eggelston. Felicia, stimmt’s?« Die Ärztin sprach schnell und deutlich ohne Südstaatenakzent. Sie wartete die Antwort nicht ab. »Schlecht gewordener Käse, habe ich gehört. Das ist abscheulich. Ich mag Käse. Darf ich fragen, wo du ihm begegnet bist?«
»In Bodner. Stimmt das, Ian? Bodner?« Er nickte. »In Bodner, Indiana. Bei einer Freundin. Alte Käsetaschen. Haben aber ganz gut geschmeckt. Sie hatten eine dünne Kruste aus Blätterteig und eine dicke Käsefüllung. Nicht schlecht. Ich konnte nicht aufhören mit essen. Jetzt kann ich nicht aufhören mit spucken.«
»Also, ihr beide seid mit dem Auto unterwegs?« Die Ärztin blickte in einen Ordner und las mit augenscheinlichem Interesse. »Schön. Auf dem Weg zum College? Oder durchgebrannt? Aus dem Gefängnis geflohen?« Sie blickte auf. »Ich mache nur Spaß. Ich bin sicher, dass ihr keine entflohenen Gefangenen seid. Die Polizei sagt uns Bescheid, wenn jemand ausgebrochen ist.« Sie blickte wieder in den Ordner. »Also, wollen wir mal sehen. Erbrechen, unwesentlich erhöhte Temperatur, Magenkrämpfe …«
Die Ärztin machte ein paar kurze Untersuchungen, fragte alles noch mal, was die Krankenschwester schon gefragt hatte, und kam dann ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich wahrscheinlich um eine Lebensmittelvergiftung handelte und dass vermutlich die Käsetaschen schuld waren.
»Also, verschreiben Sie ihr was? Muss Sie in der Klinik bleiben? Was passiert jetzt?«, fragte Ian.
»Entschuldigen Sie«, sagte Felicia. »Mein Freund hier hat es eilig. Ich bereite ihm gerade ziemliche Umstände.«
»Ich mache mir Sorgen«, erklärte er mit Nachdruck.
»Da kommt nichts mehr«, sagte die Ärztin. »Höchstwahrscheinlich wird das Erbrechen bald aufhören – wenn das nicht sowieso schon der Fall ist – und es wird ihr besser gehen. In zwei oder drei Tagen. Ihr Magen mag noch eine Weile empfindlich bleiben. Sie sollte beim Essen vorsichtig sein. Und sie braucht Flüssigkeit, sie muss klare Flüssigkeit zu sich nehmen – das ist das Allerwichtigste.«
Ian nickte. Er war außerordentlich erleichtert. Aber fast unmittelbar nachdem er erfahren hatte, dass Felicia nicht das Schicksal der Freundin der Cousine von Lances’ Mutter ereilen würde, verspürte er das dringende Bedürfnis, ins Auto zu steigen und so schnell über die Autobahn zu flitzen, wie es die Kreatur gefahrlos hergab.
»Also, wir können gehen?«, fragte er.
»Nun, wir würden gerne etwas Blut abnehmen, um genau rauszufinden, was die Symptome verursacht hat.«
»Klar«, sagte Ian. »Natürlich. Machen Sie das.«
»Vielleicht sollte ich das mit der Patientin klären, ja?«, sagte die Ärztin. Ian hielt den Mund.
Dr. Eggelston wandte sich an Felicia. »Sind Sie damit einverstanden, Miss Alpine?«
»Ähm …« Felicia hatte einen eher nachdenklichen Ausdruck im Gesicht, obwohl ihr doch eine Frage gestellt worden war, auf die es nur eine sinnvolle Antwort gab, wie Ian fand, nämlich »Ja«. Aber sie zögerte noch. »Ähm … ich weiß nicht.«
Ian mischte sich ein.
»Felicia, lass dir doch einfach Blu…«
Sie warf ihm einen vernichtenden Halt-die-Klappe-Blick zu. Also hielt er die Klappe.
»Ich glaube, ich schaff das nicht mit dem Blutabnehmen. Wirklich nicht. Mir ist jetzt schon übel genug, und wenn ich dann noch Blut sehen muss – vor allem mein Blut –, also, nein, das schaffe ich nicht. Aber ich verspreche, wenn’s mir schlechter gehen sollte, dann kommen wir sofort zurück. Wirklich.«
»Felicia«, sagte die Ärztin in einem belehrenden Ton. »Das gehört einfach dazu. Und wir brauchen ja nicht literweise Blut, sondern nur ein kleines bisschen. Dein Freund hier wird dir zur Seite stehen. Ich bin sicher, dass deine Eltern …«
»Oh, ich glaube, meine Eltern wissen genau, wie ich auf Blut und Spritzen reagiere. Ehrlich. Und Sie haben mir schon sehr geholfen, mir geht’s wesentlich besser.«
Ian bemerkte, dass Felicia versuchte, so fit und klar wie möglich zu erscheinen.
»Nun, ich kann Sie nicht zwingen, Miss Alpine. Also, ab sofort keine Käsetaschen mehr. Und denken Sie dran: Flüssigkeit.« Dr. Eggelston gab Felicia eine Broschüre über Lebensmittelvergiftungen, dann riss sie den Vorhang auf und kritzelte im Gehen ein paar Notizen in ihre Mappe.
Ian drehte sich zu Felicia um. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er. »Sollten wir nicht überprüfen lassen, ob du dir irgendeinen tödlichen Bandwurm oder so was eingefangen hast?«
»Was ist denn mit dir los, Ian? Du weißt doch, dass sie für eine Blutabnahme die Erlaubnis meiner Eltern brauchen, oder? Es ist schon Scheiße genug, dass meine Eltern eine Rechnung von dieser kleinen Katzenklo-Klinik kriegen. Und ich kann jetzt ganz bestimmt nicht brauchen, dass eine Ärztin meinen Vater anruft und ihn fragt, ob sie mein Blut auf Ungeziefer untersuchen darf. Verdammt, vielleicht haben die ihn ja längst angerufen.«
Sie hielt ihre Jeans hoch und suchte nach Kotzespritzern. »Jetzt hau ab, damit ich mich anziehen kann. Dir ist wahrscheinlich auch aufgefallen, dass weder die Ärztin noch sonst jemand vom Personal Zugang zu meinem Hintern brauchte. Was soll der Scheiß mit diesen Kitteln?«
Ian grinste. Er verließ den Raum und schlenderte auf das Stationszimmer zu.
»Ian«, rief Felicia hinter ihm her, »du solltest mal gucken, wo Lance ist.« Ian drehte sich zum Vorhang um. »Der könnte längst sonst wo sein und was weiß ich mit dieser Linda anstellen. Oder mit wem auch immer.« Zufällig war zwischen Vorhang und Wand eine Lücke, durch die Ian gucken konnte. »Wir treffen uns draußen im Warteraum. Du wirst mich leicht finden, denn ich werde wahrscheinlich über einem Abfalleimer oder einer Topfpflanze hängen.« In der Tür eines Metallschrankes sah Ian ganz deutlich das Spiegelbild von Felicia. Sie zog den Kittel aus. »Ich glaube, ich schaff’s ohne deine Hilfe. Ich geh langsam und halte mich an der Wand fest.« Ian blickte weg. Es war nicht richtig, sie so heimlich anzustarren. Aber er hatte genug gesehen, um festzustellen, dass Felicia – unter ihrer Schale androgyner Kleidung in Übergröße – ein süßes Mädchen war. Irgendwie war ihm das geraume Zeit entgangen.
»Bist du noch da draußen, Ian? Sag was.«
Er sagte nichts, jedenfalls so lange nicht, bis er für sich wieder ganz klar hatte, dass Felicia seine engste Freundin war und sie beide auf dem Weg nach Charleston waren, damit er mit einer Schlampe schlafen konnte. Nein, das hat Felicia gesagt. Danielle ist keine Schlampe. Sie hat die süßesten IMs geschickt. Hat super Emoticons benutzt. Ich kann echt von Glück sagen, dass ich sie gefund…
»Ian!?«, japste Felicia. »Bist du da draußen?«
»Ja, bin ich. Bin gleich hier. Entschuldige. War grad abgelenkt.«
»Also, ich bin jetzt fertig.« Sie zog den Vorhang zurück, sehr langsam. Sie hielt sich den Bauch. »Ich habe solche Magenschmerzen. Meinst du, ich könnte eine Schmerztablette drinbehalten?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Ian stützte sie am Ellbogen. Sie lehnte sich an ihn. »Wir machen einfach langsam. Lance kann nicht weit sein. Es sei denn, es hat einen Schichtwechsel gegeben und er ist mit einer nach Hause.«
Sobald sich Ian und Felicia durch die Schwingtür geschoben hatten, sahen sie, was sie schon ein paar Sekunden vorher gehört hatten. Lance sang für die schnatternde Kinderschar im Warteraum. Die Kinder hockten im Schneidersitz um ihn herum und wiegten sich hin und her. Lance saß auf einem Schemel, eine Gitarre auf den Knien. Seit wann konnte Lance Gitarre spielen? Und wie hatte er in dieser Landklinik eine auftreiben können? Und seit wann hatte Lance Nesbitt ein Interesse daran, kleine Kinder zu unterhalten?
Ian entdeckte bald, dass offenbar alle hübschen jungen Schwestern – und die schien es in großer Zahl zu geben – irgendwo in der Nähe von Lance standen und klatschten. Ian erkannte sofort, welches Lied Lance spielte: Monkey Gone to Heaven von den Pixies, ein Lied, das Lance zweifelsohne irgendwann einmal bei Ian gehört hatte.
There was a guy
An underwater guy who controlled the sea.
Lance nickte den Kindern zu und lächelte. Die Schwestern strahlten ihn voll besinnungsloser Zuneigung an. Felicia lachte lautlos. Ian starrte Lance verwirrt an, der nun zum Refrain kam:
This monkey’s gone to heaven, this monkey’s gone to heaven …
Als Lance mit dem Lied fertig war, bedrängten ihn die Kinder, bettelten um noch ein Lied. Die Schwestern kicherten und zogen ihren Kreis um Lance enger. Unglaublich. Er mag das Lied noch nicht mal. Er hat nicht mal die CD. Und er singt wie ein Schaf. Trottel! Er weiß einfach, dass Kinder Affen mögen und scharfe junge Schwestern Kinder. Ian und Felicia bahnten sich ihren Weg durch die Menge und packten Lance am Arm.
»Komm schon, Elvis«, sagte Ian. »Wir müssen.«
»Aber … ähm, muss Felicia nicht eine Infusion kriegen? Müsste sie nicht die Nacht hierbleiben? Du weißt schon, zur Beobachtung? Sollte sie nicht …?«
»Nein. Sie kommt schon klar. Gehen wir.«
Ian führte Lance von seinen hingerissenen Fans weg.
»Ist der süß!«, sagte eine Schwester. »Zum Fressen ist der!«
»Bittäh!«, rief ein kleiner Junge. »Spiel noch mal das Affenlied.«
Aber Lance war schon an der Tür. Er blieb kurz stehen und reichte die Gitarre einem kräftigen, kleinen Mann, der wie ein mexikanischer Mariachi-Sänger gekleidet war. Er saß neben einem stöhnenden Kameraden, der ein blaues Auge, dicke Lippen und einen grauslich gebrochenen Arm hatte.
»Gracias, Senõor!«, sagte Lance.
»Nein, Senõor«, sagte der Mariachi. »Ich danke Ihnen.« Der Mann mit dem gebrochenen Arm nickte.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Ian.
»Wenn wir noch eine Stunde geblieben wären, hätte ich garantiert eine stille kleine Vorratskammer gefunden, wo Linda und ein paar ihrer Freundinnen und ich …«
»Ach, gib nicht so an, Lance«, sagte Felicia.
»Nein, im Ernst. Schwestern sind scharfe Bräute, echt.«
»Macht dir unsere Fahrt denn keinen Spaß, Lance?«, fragte Felicia.
»Ist nicht übel«, antwortete Lance und ging aufs Auto zu. »Aber Lafferty ist ’ne fette Spaßbremse.« Sie traten aus der Klinik in die drückend heiße Sonne des Südens.