16 »Was soll die Scheiße, Lance?!«, schrie Ian. »Was soll die verdammte Scheiße?!« Lances’ Blicke klebten an dem Jeep, der über die zweispurige Landstraße fegte. Ian schrie weiter.
»Dreh um! Was soll das?! Lass die Mädchen in Ruhe, Lance!«
»Ohhh«, stöhnte Felicia, der die Geschwindigkeit der Kreatur zu schaffen machte. »Krankes Mädchen an Bord! Hallo?«
Lance sagte nichts. Er blieb auf den Jeep fixiert, der sich nicht gerade langsam durch das ländliche South Carolina schlängelte. Nein, er heizte regelrecht, schnitt manchmal die Kurven so scharf, dass er auf die entgegengesetzte Fahrbahn geriet. Bei Gegenverkehr hätte es ernsthaft Probleme geben können. Aber die Straße vor ihnen war leer. Die drei weiblichen Passagiere des Jeeps streckten die Arme aus dem offenen Verdeck. Für Ian sah es aus, als tanzten sie. Nicht, dass ihn das interessierte – ihm ging es einzig und allein darum, das eigene Auto zu wenden, und zwar umgehend. Aber Lance holte jedes bisschen Pferdestärke aus dem Motor der Kreatur und kam dem Jeep immer näher, entfernte sich aber immer weiter von Danielle.
»Lance, bitte! Auch in Charleston gibt es Mädchen – jede Menge. So viele, dass sogar ich eine abkriege. Also bitte! Ich flehe dich an. Wir müssen umdrehen.«
»Ich glaube, der kann dich nicht hören, Ian«, sagte Felicia. »Der hat gerade einen Heißhunger auf Mädchen. Wie ein Haifisch auf Fischeingeweide. Er kann nicht rational handeln. Er ist wie ein supertödliches Raubtier. Ich habe totalen Schiss.«
Der Jeep schlitterte, dann schoss er auf eine Schotterstraße. Graue Kiesel stoben von den Reifen auf. Lance blieb dicht dahinter. Beim Abbiegen jaulte die Kreatur auf.
»Das«, sagte Lance schließlich, »das sind nicht einfach nur gewöhnliche Mädchen.«
»Okay, sie sind süß. In Charleston gibt es jede Menge süße Mädchen.«
»Es geht nicht darum, dass sie süß sind, Freunde. Obwohl ich natürlich nichts dagegen einzuwenden habe, dass sie süß sind. Aber das ist es nicht.«
»Warum zum Teufel fährst du ihnen dann hinterher?«
»Ich kenne das Mädchen am Steuer.«
»Was?«
»Ich kenne das Mädchen am Steuer ganz genau.«
»Wir sind in South Carolina, Lance, verdammt noch mal«, sagte Felicia. »Wir kennen keine Menschenseele in South Carolina und du kennst das Mädchen nicht! Draußen sind ungefähr 500 Grad. Du bist verrückt vor Hitze. So was kommt vor. Jetzt halt endlich an, verdammt noch mal!«
»Ich bin nicht verrückt.« Lance hatte sein rechtes Bein mit dem Fuß auf dem Gaspedal ganz und gar durchgedrückt. Die Kreatur kreischte voller Protest auf. »Und ich kenne das Mädchen am Steuer. Nie im Leben könnte ich die vergessen.« Er zögerte. Ein nostalgischer Unterton ließ seine Stimme weich werden. »Es ist Elise Millwood. Wir haben uns im Naturkunde-Ferienlager am Birdeye Creek in Missouri kennengelernt. Wir waren dreizehn. Und wir haben weiter nichts gemacht als Händchenhalten, aber es waren die zwei schönsten Wochen meines Lebens!« Er seufzte. »Und gleichzeitig die schlimmsten. Ich habe es völlig verkackt. Könnt ihr euch das vorstellen?« Er schlug mit den Händen auf das Steuer aus imitiertem Holz. »Sie war faszinierend. So cool. Zum Fürchten cool. Aber ich habe immer gewusst, dass das Schicksal – oder Gott oder eine Sendung von Mark Burnett, was auch immer – uns wieder zusammenbringen würde.« Schottersteinchen sprangen an die Windschutzscheibe. Die Mädchen hatten aufgehört zu tanzen und wandten sich interessiert und ungläubig zu der Kreatur um.
»Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, schon so bald mit Elise vereint zu sein«, fuhr Lance fort. »Irgendwie habe ich immer gedacht, wir würden alt sein, wenn wir uns wiedersehen. Vielleicht in einem Altersheim. Wo wir beide die Hand nach derselben Schüssel mit Erbsen ausstrecken oder zur selben Zeit Bingo sagen oder – oh, Scheiße.«
Der Jeep bog plötzlich nach links ab auf einen von Bäumen gesäumten Weg. Die Mädchen fuhren in einen dunklen, unheimlichen Wald. Lance blieb ihnen auf der Spur und wutschte gerade so an einer riesigen Kiefer vorbei. An Ians Seite kratzten Zweige über den Lack.
»Lance, das ist doch irre! Du glaubst, dass eine Frau, die du in einem gottverlassenen Kaff bei achtzig Meilen pro Stunde für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hast, genau dieselbe ist, in die du vor fünf Jahren verknallt warst, in einem ganz anderen Staat?«
»Genau. In einem Naturkunde-Ferienlager. Sie hat wahre Wunder mit der Petrischale vollbracht.« In der Ferne grollte Donner. »Ich bin nicht der blöde Hund, für den du mich hältst, Felicia«, sagte Lance. »Ich liebe das Mädchen. Ernsthaft. Ich habe sie damals in den Sommerferien geliebt. Ich liebe sie immer noch.« Er wandte den Blick nicht von der Fahrbahn.
Der Jeep bog immer wieder ab, auf immer schmaler werdende Forstwege, die eigentlich kaum noch Wege waren, sondern vielmehr grasbewachsene Schneisen, auf denen einfach weniger Bäume wuchsen als im Wald ringsum. Voller Panik blickte Ian Felicia an. Sie presste ihr Gesicht an die Rückenlehne und fing an zu murmeln. »Mein Gott. Das ist wie Ein Duke kommt selten allein. Weck mich, wenn wir tot sind, damit ich Lance in die Eier treten kann.«
Lance klebte an der verrosteten Stoßstange des Jeeps. Die Mädchen schaukelten über das holprige Gelände und grinsten Lance zu. Er winkte.
»Ich brauch bloß Platz, damit ich neben sie fahren kann, Alter.«
»Nein, Lance«, sagte Ian. »Das ist eine unglaublich bescheuerte Idee – vielleicht die bescheuertste Idee von all den bescheuerten Ideen, die du im Verlauf der letzten anderthalb Tage gehabt hast. Ist dir schon aufgefallen, dass wir uns in einem Wald befinden? Wo es große, unbewegliche Bäume gibt? Und keine Überholspur.« Er packte den Türgriff ganz fest mit der rechten Hand und stützte sich mit der linken am Armaturenbrett ab. Die Kreatur holperte übers Gras. Lance starrte mit einem verzweifelten, ernsten Ausdruck im Gesicht nach vorne, über den Jeep hinaus, und hielt nach einer etwas breiteren Stelle Ausschau.
»Ich muss neben sie. Ich muss mit ihr reden. Wenn Elise mich sieht, dann … aha!«
Plötzlich kamen sie aus dem Wald. Der Weg wurde bald zu einer asphaltierten Straße, die sich an einem Bach entlangwand. Auf dem Asphalt schaukelte die Kreatur nicht mehr ganz so heftig. Eine Reihe von Häusern tauchte auf. Obwohl die Straße keine Mittellinie hatte, war sie dennoch breit genug, dass zwei Autos nebeneinanderfahren konnten. Lance drehte auf. Die Mädchen wurden langsamer und ließen die Kreatur aufschließen.
»O Mann«, sagte Lance aufgeregt. »Ich kann’s nicht glauben! Elise Millwood. Das ist ein ganz besonderes Mädchen. Sie ist unglaublich. Vergesst die anderen Bräute, mit denen ich rumgemacht habe.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist sie. Die eine.« Er hielt inne. »Was zum Teufel soll ich sagen?«
Lance ließ den Wagen zurückfallen.
Eine der drei – eine wohlproportionierte Rothaarige in einem engen, lavendelfarbenen Top – drehte sich um und zuckte mit den Achseln, als wollte sie sagen: »Jetzt willst du aufgeben?«
Ian starrte Lance an und hatte dieselbe Frage im Kopf. Ein paar Regentropfen platschten aufs Auto.
»Mensch, Lance! Du kannst doch jetzt nicht aufgeben, nachdem du uns meilenweit durch Staub und Gestrüpp und Mist gezerrt hast! Mach schon! Fahr neben sie!«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das Mädchen ist … also, sie ist einfach anders als alle anderen Mädchen.«
Die Rothaarige im Jeep johlte und winkte Lance und Ian zu, dass sie heranfahren sollten. Auf der Rückbank stöhnte Felicia gequält.
»Verdammt noch mal, du bist Lance Nesbitt!«, sagte Ian. »Dir braucht man nicht Mut zu machen. Du machst anderen Leuten Mut. Versagern wie mir. Also los jetzt! Lass deinen Charme blitzen, zieh dein Ding durch.«
Lance sah ausgesprochen ängstlich aus.
»Oder sag ihr einfach, was du die ganze Zeit gefühlt hast«, fügte Ian hinzu.
»Genau«, antwortete Lance. »Das ist es.«
Er gab wieder Gas und die Kreatur schob sich an den Jeep heran. Als die riesige Limousine näher kam, kreischte und juchzte die Rothaarige und mit ihr eine kurvenreiche Blonde mit einer Zahnlücke, deren Gesicht eine erschreckende Menge Mascara und Röte aufwies. Nun war auch die Rückseite des Kopfes der Fahrerin sichtbar. Aus ihrer Baseballkappe quoll sandfarbenes, zu einem Zopf zusammengebundenes Haar. Die Kreatur rückte heran.
»Sag ihr, wie du dich die ganze Zeit über gefühlt hast«, murmelte Lance.
»Das ist doch ganz einfach«, sagte Ian. Er hätte sich nicht so großmütig gezeigt, wenn dies eine übliche Lance-ist-einem-Mädchen-hinterher-Situation gewesen wäre. Aber als Ian sah, wie Lance sich mühte, eine zweite, höchst unwahrscheinliche Chance wahrzunehmen, war er auf einmal voller Mitgefühl.
»Alter, du musst fahren.«
Lance ließ das Steuer los, machte den Gurt ab und kurbelte das Fenster runter. Ian schnaufte vor Angst, packte das Steuerrad und brachte den Wagen in die Spur zurück.
»Komm ganz rüber«, drängte Lance. Er nahm den Fuß vom Gas und schob sich halb aus dem Fenster. Regen schlug ihm ins Gesicht. Ian schaltete die Scheibenwischer an. Lance hing aus dem offenen Fenster und hielt sich am Dach der rasenden Kreatur fest. Das schrille Johlen der Mädchen ließ nicht nach. Langsamer fahren kam nicht in Frage, also brausten sie mit sechzig voran – was sich nach dem halsbrecherischen Höllenritt durch den Wald wie eine Spazierfahrt anfühlte. Lance rief der Fahrerin etwas zu. Es war deutlich zu sehen, wie sie lächelte, dass ihr die Verfolgungsjagd gefiel.
»Hey! Fahr mal ran!« Der Regen wurde stärker. Lance grinste und winkte mit den Armen über dem Kopf. »Das reicht! Lass uns reden!«
Die Mädchen lachten.
»Mann, du gehst ja echt ran!«, rief die Rothaarige.
Ian konzentrierte sich auf die Straße. Felicia guckte kurz zum Vordersitz, dann barg sie ihr Gesicht wieder in den Händen. Sie stöhnte leise.
Lance mühte sich, den Wind zu übertönen, und schrie zu der Fahrerin rüber: »Fahr ran! Wir müssen reden!« Er hielt die Hände zusammen, als würde er beten. »Bitte! Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Endlich wandte sich die Blonde, die den Jeep fuhr, zu Lance um. Sie hatte ein ebenmäßiges Lächeln, strahlende Augen und war dunkelbraungebrannt. Ian sah sie kurz an.
Lance schrie weiter: »Bitte, halt an! Bitte! Wir müssen reden! Seit dem Ferienlager habe ich nur an dich gedacht, Eli…«
Er brach ab. Die Fahrerin blickte ihn fragend an.
Lances’ Mund bewegte sich, aber es kam kein Wort heraus. Regentropfen fetzten ihm übers Gesicht. Nach ein paar kurzen Stotterlauten fand er die Sprache wieder.
»Schon gut, Mädchen. Ähm … war ’ne nette Fahrt mit euch. Danke. Cooler Jeep.« Dann ließ er sich auf den Fahrersitz fallen, quetschte sich zwischen Ian und die Fahrertür.
»Mein Fehler. Das ist nicht Elise.«
»Was?«, schrien Ian und Felicia gleichzeitig.
»Wir machen alle mal Fehler, Leute. Ganz ruhig.«
Die Kreatur verlangsamte die Fahrt. Der Jeep schoss davon. Ian überließ Lance das Steuer, dann rutschte er auf den Beifahrersitz. Er schwieg wie gelähmt. Erst in dem Moment bemerkten sie das Heulen einer Sirene und das rotblau blinkende Licht eines Streifenwagens.
»O Scheiße, Ian«, sagte Lance. »Du bist doch nicht etwa zu schnell gefahren?«