01 Das wird ein Scheißtag, dachte Ian
Lafferty.
Er lenkte seinen Wagen auf seinen
Stammplatz unter der Weide nahe dem am wenigsten genutzten Eingang
des Fox Valley Einkaufszentrums. Es war Ende August an einem
Donnerstagmorgen um kurz nach halb sieben. Ian war müde, ungeduscht
und würde gerade so auf den letzten Drücker an seinem Arbeitsplatz
erscheinen, dass sein Chef sich ärgern musste.
Er stieg aus seinem lächerlich
großen Auto – einem alten gelben Oldsmobil, das er sehr gerne
mochte und das seine Freunde »Die Kreatur« getauft hatten – und die
morgendliche Schwüle umfing ihn. Er seufzte, dann schleppte er sich
über den Parkplatz, stolperte über ein Beet voller Farne und
schloss eine Tür mit der Aufschrift »Nur für Personal« auf. Unter
einem Baldachin aus Deko-Blättern trottete er Richtung
Imbiss-Bereich. Er zog seine Dunkin’-Donuts-Kappe tiefer ins
Gesicht. Er betrachtete sein Spiegelbild in den noch dunklen
Schaufenstern von Hot Topic, Abercombie und Origins und
registrierte, dass die Angestellten jener Läden nicht gezwungen
waren, zu einer so unchristlichen Zeit anzutanzen, wie er es
musste. Nur damit er den Senioren nach ihrem morgendlichen Walking
Eclairs servieren konnte. Dabei hatte er gar nichts gegen die Alten
im Einkaufszentrum. Nein, sie zählten sogar zu seinen liebsten
Kunden. Was ihm absolut gegen den Strich ging, war halb sieben Uhr
morgens.
Dieser ganze Sommer war
beschissen, dachte er.
Die galaktischen Ausmaße der
Beschissenheit dieses Sommers wurden besonders augenscheinlich
durch die Tatsache, dass Ians beste Freunde, Felicia Alpine und
Lance Nesbitt, fantastische Ferien sehr weit weg von Naperville,
Illinois, verlebten. Felicia war mit ihrer Familie am Mittelmeer
unterwegs und Lance half seinem Onkel, in einem kleinen idyllischen
Urlaubsort in Michigan Häuser zu renovieren (Leistungsanforderung:
Malochen-im-eigenen-Schnecken-Tempo, vermutete Ian). Die
Abwesenheit seiner beiden Freunde hatte Ians Leben zu einer äußerst
langweiligen Angelegenheit degradiert. Und damit er nicht den
ganzen Sommer im Hobbykeller des Hauses der Laffertys zubrachte,
hatte sein Vater darauf bestanden, dass sein siebzehnjähriger Sohn
sich einen Job suchte. Deswegen war Ian bei Dunkin’ Donuts
gelandet.
Allerdings hatte sein Vater ihn
nicht gezwungen, ausgerechnet im Einkaufszentrum zu arbeiten, nein,
das war Ians Wahl gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte er gedacht,
der Job bei Dunkin’ Donuts würde ihm helfen – oder ihn zwingen –,
neue Leute zu treffen. Exotische Mädchen aus anderen Läden zum
Beispiel. Mit denen er dann im Rahmen seiner Tätigkeit ins Gespräch
kommen könnte: »Was darf’s denn sein, Miss? Boah, das ist ja ein
cooler Zehenring. Ist der von Claire? Möchtest du was Süßes?« Oder
so was in der Art. Leider schienen exotische Mädchen nicht
Stammkundinnen bei Dunkin’ Donuts zu sein. Die einzige Ausnahme war
ein kleines, dunkelhaariges Mädchen namens Laila, die das Karussell
im Einkaufszentrum bediente. (Bedienen ist vielleicht nicht
das richtige Verb für das, was Laila tat. Sie stellte einen
Schalter an oder aus und läutete eine Glocke.) Seit Anfang Juni kam
Laila regelmäßig jeden Nachmittag in ihrer Pause und bestellte zwei
Donuts mit Himbeerfüllung und einen DunkaLatta Caramel Swirl. Da
Ian es nun mal auf ein Mädchen aus dem Einkaufszentrum abgesehen
hatte, verknallte er sich auch ziemlich bald in sie. Und dann lief
es genauso wie immer, wenn Ian sich verknallt hatte: Er freundete
sich schnell mit dem betreffenden Mädchen an, und es dauerte nicht
lange, da erzählte sie ihm, wie sehr sie irgendeinen anderen Typen
mochte. In Lailas Fall war der andere Typ ein gefühlloser,
widerlicher Kollege von ihr, der Flynn hieß. Anfang Juli erweiterte
Laila ihre tägliche Bestellung um zwei Puderzucker-Donuts und einen
Iced Espresso. Für Flynn. Dann gingen die beiden miteinander aus.
Anfang August ersetzte Laila ihre tägliche Portion Donuts und Latte
durch eine Banane und eine Pepsi light. Flynn hatte sie offenbar
»Pummelchen« genannt und zudem machte er einem dürren Wesen bei
Food Locker schöne Augen. Laila war völlig auf ihr Gewicht fixiert.
Ian sagte ihr immer wieder, dass sie super aussehe, worauf sie zum
Beispiel erwiderte: »Nein, Flynn hat recht. Ich bin ein Haus. Ein
dickes, fettes Haus mit einer Terrasse und einer Garage für drei
Autos.« Auf Donuts verzichten zu müssen fand Ian total traurig. Für
jeden. Laila sah mit einem breiten Lächeln und einem Himbeer-Donut
vor sich viel hübscher aus als mit einem ängstlichen Stirnrunzeln
und einer Pepsi light. Ein paar Pfund mehr oder weniger machten
überhaupt nichts aus. Aber Flynn war offenbar anderer Meinung, und
letztlich war er es, der den Platz des Liebhabers besetzte.
Ian blickte auf seine Uhr.
Oh, Mist.
Er war viel später dran, als er
beabsichtigt hatte, und nun sprang er lärmend und wenig anmutig die
Treppe zum Imbissbereich hinunter. Er schob ein paar Strähnen
seines reichlich langen, braunen Haares unter seine Mütze, und als
er an den dunklen Leuchtreklamen von Arby’s, McDonald’s, Taco Bell
und Panda Express vorbeilief, schlug ihm über die Bodenfliesen das
Echo einer schrillen Stimme entgegen.
»Schön, dass du’s heute mal wieder
geschafft hast, Sportsfreund!«, sagte Ron Fleshman, langjähriger
Geschäftsführer der Donut-Filiale. »Sieben Minuten zu spät. Ian
Laffertys Chancen, Angestellter des Monats zu werden, haben einen
weiteren Rückschlag erlitten.«
»Tut mir leid, Ron«, erwiderte
Ian. »Ist spät geworden gestern Abend.«
Das war keine Lüge, nicht
wirklich. Aber der Satz deutete genau die Art nächtlicher
Ausschweifungen an, die Ians Leben schmerzlich vermissen ließ. Er
war tatsächlich bis nahezu zwei Uhr morgens wach geblieben, hatte
Chips gefuttert, in seiner Xbox mystische Figuren erschlagen und
Radiohead gehört. Klar, echt spät geworden. Ui!
Ron leckte Puderzucker von seinen
dicken Fingern, dann nahm er eine Zange und schob Krapfen hin und
her.
»Setz ’ne Kanne Koffeinfreien auf,
Ian.«
Ian nickte, pulte einen
Kaffeefilter vom Stapel und schaufelte dunkle Körnchen in die
Kaffeemaschine. Sein Telefon klingelte. (Eigentlich war es mehr als
ein Telefon. Es war ein Lacai 2.0, das neueste, irrsinnig teure,
hauchdünne, total angesagte, drahtlose Gerät, für das er kürzlich
einen Teil seiner Donut-Ersparnisse verbraten hatte. Mit dem Lacai
2.0 konnte er telefonieren sowie per IM, SMS und E-Mail
kommunizieren. Er vermutete, dass er damit auch Fleisch braten,
Außerirdische ausweiden und das Wetter bestimmen könnte. Das Ding
hatte wirklich jede Menge winzige Knöpfe.) Ian zog den Lacai aus
seiner Tasche.
Wer zum Teufel ruft so früh
an?
Ron warf Ian einen fragenden Blick
zu, der sich in ein finsteres Starren verwandelte. Ian reagierte
nicht.
Er blickte auf die Nummer des
Anrufers. Die Vorwahl war 231, was ziemlich sicher bedeutete, dass
es Lance war.
»Hallo, Lance.«
Er hörte nur wirres Geplapper,
Lachen und Musik.
»Hallo?«, wiederholte er.
»Allllter!«, sagte eine bekannte,
leicht besoffene Stimme. »Was läuft? Was haste letzte Nacht
gemacht, Kumpel?«
»Nichts. War zu Hause.« Er sah zu,
wie Ron die Arme über seinem dicken Bauch zusammenlegte, um
möglichst bedrohlich zu wirken. »Ich muss Donuts und Kaffee
verkaufen, Lance. Was’ los? Hast ’ne geile Nacht gehabt, denk ich
mal.«
»Alter, die Nacht ist immer
noch geil«, sagte Lance. »Bin noch gar nicht zum Schlafen
gekommen.« Wieder Gelächter im Hintergrund. Eine eindeutig
weibliche Stimme. »Hier geht’s voll ab. Der beste Ferien-Job, den
ich je hatte. Also …«
»Mir kommt gleich der Kaffee hoch,
Lance.«
»… der Grund, warum ich dich
anrufe, ist …«
»Im Ernst. Mir steht’s bis
hier.«
»… ich muss wissen, ob wir immer
noch …«
»Ich kotze gleich.«
»… für dieses Wochenende
verabredet sind.«
Totenstille. Ian hantierte mit der
Kaffeetüte, verstreute ein paar Krümel auf der Theke, was seinem
Chef einen wütenden Seufzer entlockte. Ron murmelte was vor sich
hin, rülpste, schnappte sich einen Puderzucker-Donut vom Regal und
biss hinein.
»Dieses Wochenende«, sagte Ian
verwirrt. »Dieses Wochenende …«
»Der Lance-Super-Hammer, Alter!
Wie jeden Sommer. Du, ich, Felicia. Mein Cousin rechnet total mit
uns. Am Sonnabend ist im Metro ein Konzert, jugendfrei. Am
North-Avenue-Strand gibt’s eine Luft- und Wassershow. Das wird
geil.«
Ian blieb still. Er schob die
Kaffeekrümel mit der Hand zusammen und zurück in die Tüte. Er hatte
den Lance-Super-Hammer nicht vergessen, aber er wollte noch nicht
zusagen. Nicht, solange es immer noch die Möglichkeit gab, egal wie
vage, dass dieses Wochenende ihm etwas Riskanteres und weitaus
Kitzligeres zu bieten hatte – was er allerdings nicht mit Lance
besprechen wollte. Oder mit sonst wem. Aber der Lance-Super-Hammer
war etwas, was sie jeden Sommer machten, eine Art Tradition. Drei
Jahre hintereinander schon hatten die drei immer am Wochenende vor
Beginn des neuen Schuljahres ihren Vorort Naperville verlassen und
die Tage bei Lances’ windigem Cousin Doug in Chicago verbracht.
Klar, dass Lance das Ereignis nach sich benannt hatte.
Lance ließ nicht locker.
»Nun komm schon. Kann doch wohl
nicht sein, dass Ian Lafferty auf das Einzige verzichten will, was
zwischen Juni und September wenigstens entfernt was mit Leben zu
tun hat. Du bist doch dabei, oder? Ich fahre heute nach Hause und
morgen schweben wir in die Stadt.« Dann, ein Stück vom Hörer
entfernt, sagte Lance: »Obwohl ich mich natürlich auch überzeugen
lassen könnte, noch ein bisschen hierzubleiben …«
Ein gedämpfter, feuchter
Schmatzlaut, gefolgt von weiblichem Gelächter. Dann war Lance
wieder am Apparat.
»Also, Ian, du fährst uns doch mit
deiner Kreatur, oder? Wann kommt Felicia zurück, Alter? Hast du was
von ihr gehört?«
»Ähm, nein«, sagte Ian. »Ich habe
von Felicia nicht mehr gehört, seit – he, warte mal, warum denn
mein Auto? Warum können wir nicht mit deinem …«
Ron bewegte sich knurrend auf Ian
zu. »In fünfzehn Minuten sind die ersten Kunden da, Ian! Die
Senioren! Die erfreuen sich beim Walking gerne an einem
vollmundigen koffeeinfreien Getränk.« Er hielt sich die fleischige
Faust vor den Mund und erstickte den nächsten Rülpser.
Verärgert fragte Ian Lance: »Warum
können wir nicht mit deinem Auto fahren?«
»Weil wir meinen Mazda nicht dem
Stadtverkehr aussetzen können, ohne seine Gesundheit zu riskieren.
Deine Kreatur ist bloß ein Fünfzig-Dollar-Wagen.«
»Zu seiner Zeit war das ein
Luxusgefährt. Und außerdem habe ich ihn für
dreihundertundfünfzig Dol…«
»Also, du bist dabei. Super. Sehr
gute Nachricht. Ich kann’s kaum erwarten. Hör mal, Alter …« Wieder
Mädchenkichern. »Ich muss jetzt Schluss machen.«
Ian hörte ein Rascheln im Hörer,
ein kurzes Auflachen, dann eine beschwipste weibliche Stimme.
»Halloooo?«, sagte sie.
»Ähm … hallo. Wer bist du?«,
fragte Ian.
»Lances’ letzte Flamme in diesem
Sommer, glaube ich. Obwohl, er ist ja noch ein paar Stunden hier,
also, wer kann das wirklich wissen …?« Die Stimme verlor sich in
einem Schmatzer, der wahrscheinlich Lance galt.
Es verstrichen mehrere peinliche
Sekunden. Ian hätte beinahe aufgelegt. Doch dazu war er viel zu
fasziniert. Er hatte noch nie ein Mädchen geküsst, noch nie.
Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, jemals eine geküsst
zu haben. Es hatte zwar, als er in der zehnten Klasse war, jene
katastrophale Felicia-Dosenbier-Plastik-Hirsch-Szene gegeben, aber
das war in seinen Augen kein romantisches Intermezzo gewesen,
sondern eher eine persönliche Tragödie. Felicia und Ian hatten sich
zum ersten Mal in ihrem Leben unerschrocken betrunken und gegen
Ende der Party sollen sie sich geküsst haben. Jedenfalls war Ian
das von halbwegs verlässlichen Zeugen berichtet worden. Er konnte
sich an den Vorfall nicht erinnern und mit Felicia hatte er nie
darüber gesprochen. Der Abend hatte damit geendet, dass er im
Vorgarten einem Plastik-Hirsch seine unsterbliche Liebe gestanden,
dann auf besagten Hirsch gekotzt hatte und auf dessen Plastikhufen
eingeschlafen war. Alles in allem eine sehr, sehr üble
Nummer.
Lance und das beschickerte Mädchen
setzten ihren eher konventionellen Kuss noch mehrere Sekunden lang
fort, bevor das Mädchen wieder an den Apparat kam.
»He, bist du auch so ’n Typ wie
Lancey?«, fragte sie. »Hast du ’ne Freundin oder so?«
»Nein. Ganz und gar nicht. Keine
Freundin.«
Im Hintergrund hörte Ian Lances’
Stimme. »Ian ist ein netter Junge.« Nett klang wie
ein Schimpfwort. Lance nutzte jede Möglichkeit, um Ian vorzuhalten,
dass er zu verantwortungsbewusst, zu freundlich, zu gefühlsbetont,
zu … nun, einfach zu nett war, um Mädchen heiß zu machen.
Normalerweise verdrehte Ian bei dieser Aufzählung bloß die Augen,
aber zu Herzen nahm er sich das schon. Schließlich wollte er, dass
Mädchen ihn mochten. Oder wenigstens zur Kenntnis nahmen.
Ron hustete auffällig, blickte Ian
scharf an und tippte mit dem Finger auf seine Armbanduhr. Das
Mädchen redete weiter.
»Weißt du, Ian«, sagte sie.
»Irgendwas ist schon dran an den Jungs, die vielleicht nicht immer
so rücksichtsvoll sind. Wie dein alberner Freund hier.« Ian hörte
kaum zu. »Ich meine, ruft der mich mal an? Nein. Geht er mit mir
irgendwohin? Natürlich nicht. Aber erwartet er, dass ich bei meinen
Eltern Alk klaue und mich dann mit ihm in einem leeren Ferienhaus
treffe, wo wir, äh …«
Schmatzende Geräusche.
»… rummachen? Ja.« Sie seufzte.
»Und tue ich das?«
Wieder schmatzende
Geräusche.
»Ja.«
»Warum?«, fragte Ian frustriert.
»Der ist doch gar nicht so umwerfend.«
Lance nahm das Telefon.
»Ich bin sicher, es hat Vorteile,
wenn man so ein total netter Kerl ist wie du, Ian. Du kannst sie
mir ja irgendwann alle mal aufzählen. Aber manchmal solltest du es
mit der Nummer Nicht-so-netter-Kerl versuchen. Wenn du mal an einer
heißen Braut dran bist. Und dann gucken, was läuft.«
Egoistischer Wichser. Taktloser
Arsch.
Wieder schmatzende
Geräusche.
Schweinepriester.
Wie Lance Nesbitt an Mädchen
rankam, war Ian ausgesprochen unheimlich. Lance sah gut aus – er
war ständig braungebrannt, hatte eine sportliche Figur, ein
charmantes Lächeln –, dennoch war der Grund für seine
Anziehungskraft ganz sicher nicht seine physische Erscheinung.
Hinderlich war sie allerdings auch nicht. Lance war selbstsicher,
klug und gut drauf – niemals zurückhaltend. Er war ein Meister im
Flirten, der jedes Abblitzen mit Leichtigkeit wegsteckte, und er
hatte offensichtlich einen angeborenen Sinn dafür, wann er einem
Mädchen Komplimente machen musste und wann er sie veralbern konnte.
Wenn Lance einen Raum betrat, stand er sofort im Mittelpunkt aller
Aufmerksamkeit. Lance verstand sich darauf, eine bestimmte Sorte
meist unglaublich schöner weiblicher Wesen mit verblüffender
Leichtigkeit zu umgarnen, zu erobern und fallen zu lassen. Niemals
hätte Ian Mädchen so behandeln wollen – vor allem das mit
dem Erobern und anschließenden Fallenlassen hätte ihm vermutlich
nur ein schlechtes Gewissen bereitet. Trotzdem hatte er sich immer
gewünscht, ein Mädchen wirklich beeindrucken zu können, wenn’s
drauf ankam.
»Ich weiß nicht, wie du das
aushältst, so ein Armleuchter zu sein, Lance. Und ich weiß nicht,
warum es Mädchen gibt, die das gut finden.«
»Nein? Also wirst du dein Leben
lang ehrlich und anständig bleiben?«
Ian sagte nichts. Denn schließlich
hatte er bereits vor, ein kleines Experiment durchzuführen, das ihm
etwas weniger Ehrlichkeit und Anstand abforderte. Aber noch war er
nicht bereit, darüber mit Lance zu sprechen.
»Komm schon, Ian. Was bringt dir
denn deine nette Tour? Bei Mädchen, meine ich. Hast du dir schon
mal eine Verabredung erhöflicht?«
Wieder sagte Ian nichts.
Ron war inzwischen einem
Schlaganfall nahe, ein einziger zitternder, ältlicher Klops
Feindseligkeit. Er hielt Ian seine Uhr unter die Nase.
»Hör zu, Lance«, sagte Ian mit
Blick auf seinen Chef, »die Donuts rufen.«
»Bis später, Alter. Wir sehen uns
morgen.«
»Genau, darüber …«
Klick.
Ron schoss sofort auf Ian
los.
»Ich schwöre, Lafferty, wenn dein
Vater nicht mein Zahnarzt wäre! Ich hätte dich längst
rausgeschmissen. Zweimal! Immer hängst du am Telefon. Oder tippst
auf diesen kleinen Tasten rum.«
Ron seufzte, dann wischte er seine
Hände an der Vorderseite seines Hemdes ab, wo sie breite
Puderzuckerstreifen hinterließen. »Putz die Theke. Und kipp nicht
wieder was aus. Ich muss noch ein paar Sachen checken.«
Er stakste ins Hinterzimmer zum
Computer, wo er vorgab, arbeitsbezogene Tabellen zu überprüfen, oft
aber am Solitär-Spiel hängen blieb.
Ian spritzte Reinigungsspray auf
die Theke. Innerhalb von Sekunden klingelte sein Lacai wieder. Er
ging sofort ran, ohne zu gucken, wer anrief – er nahm an, dass es
entweder Lance war oder dessen neue »Freundin«.
»Mann! Es reicht. Ich hab’s
gerafft. Lance Nesbitt ist ein Sexbolzen und ich bin ein fader
Langweiler. Ich stecke schon metertief in der Scheiße, weil ich mit
dir telefoniert habe. Also, was zum …«
»Ähm, hallo, Ian.« Die Verbindung
war schlecht, aber die Stimme am anderen Ende war fraglos die von
Felicia.
»Hab ich dir gefehlt?«, fragte
sie.
»O Gott. Tut mir leid, Felicia.
Bist du endlich zu Hause?« Ian flüsterte, schielte in den hinteren
Raum, um sicherzugehen, dass Ron tatsächlich seinen beschränkten
Geist mit dem alten PC der Donuts-Filiale, also sozusagen mit dem
Rest der Welt, maß.
»Nein, ich bin in Paris, auf dem
Flughafen. Ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an. Hier ist jetzt
Nachmittag und wir fliegen in ungefähr zwanzig Minuten los. Und ich
langweile mich zu Tode. Ich habe meine Tante angerufen. Sie passt
auf meinen Hund auf. Ich habe eine Weile mit dem Hund geredet. Das
war schön. Und jetzt rufe ich dich an. Weil mir so langweilig ist,
so fürchterlich langweilig …«
»Genau. Geht mir auch so. Bloß hab
ich keinen Hund zum Anrufen. Bin auf der Arbeit. Das
Einkaufszentrum öffnet gleich. Und dann werden sich die
Walking-Rentner ihren Kaffee holen kommen.«
»Ach ja, deine Alten. Sind die
süß? Tragen sie schicke Turnschuhe? Und Hosen mit Gummibund?«
»So ähnlich. Doch, die sind süß.«
Er stockte. »Und, ja, du hast mir gefehlt.« Er stockte wieder. »Ich
meine, ihr beide, du und Lance. Weißt du, hier ist es ganz schön …
öde gewesen.«
»Du hast mir auch gefehlt.«
»Also bist du heute Abend wieder
da?«, fragte Ian.
»Genau, und total scharf drauf,
morgen nach Chicago zu fahren. Bloß weg von der Familie.«
Ians Freude ließ nach. Die
Vorstellung, drei volle Tage mit Lance zu verbringen, machte ihn
nicht unbedingt glücklich, aber Felicia würde er wirklich gerne
sehen. Eigentlich unbedingt. Aber er hatte schon andere Pläne
geschmiedet.
Im hinteren Raum rollte und
knackte ein Bürostuhl. Ron bewegte sich.
»Mist, Felicia, ich will dir jetzt
nicht blöd kommen, aber mein Boss darf mich nicht noch mal am
Telefon erwischen. Ich muss aufhören. Ruf mich an, wenn du da bist.
Egal wann, ich bin auf jeden Fall noch wach.«
»Eigentlich würde ich gerne gleich
bei dir vorbeikommen, wenn ich an…«
Klick.