04 Ian parkte die Kreatur auf dem Parkplatz von Walgreens. Beim Betreten des Ladens dudelte eine elektronische Glocke. Er senkte den Kopf und hoffte, er könnte – nur für die Dauer dieses speziellen Einkaufs – vollkommen unsichtbar sein. Oder zumindest gut getarnt. Dabei hatte er das Gefühl, auffälliger denn je zu sein. Natürlich hatte er noch nie Kondome gekauft.
Erst mal musste er rausfinden, wo sich die Dinger überhaupt befanden, ohne jemanden fragen zu müssen: »’tschuldigung, Ma’am, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir sagen könnten, wo ich Kondome finde? Sie wissen schon, ähm … die Hilfsmittel zur Verhinderung der Übertragung von Spermien und Krankheiten beim Sex.« Nein, so nicht.
Er schnappte sich einen Einkaufskorb aus Plastik. Einfach schnell in den Laden rennen, ein paar Lappen aus der Tasche ziehen und mal eben eine Schachtel Kondome kaufen, dann atemlos wieder hinausstürmen … puh, nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Er würde noch was anderes kaufen müssen als Kondome. Was für die Fahrt. Eine Zeitschrift vielleicht. Was zu knabbern. Eine Karte.
Er schlenderte durch die Reihen und warf dies und das in seinen Korb. Eine Sonnenbrille. Mundwasser. Eine Wegwerfkamera. Eine Tüte Gummifischchen. Vier Erdnussriegel. Einen selbstklebenden Kompass fürs Armaturenbrett. Eine Reisepackung Shampoo. Die Septemberausgabe von PC Spiele. Ein Glas grobe Erdnussbutter. Plastikbesteck. Ein Sixpack Mountain Dew. Eine Packung Lakritzstangen. Sechs Früchtetörtchen – zwei Kirsch, zwei Pfirsich, einmal Blaubeere, einmal Apfel. Papierservietten mit Blümchenmuster. Einen großen Autoatlas. Zwei Riesentüten Doritos. Eine Packung Twinkies. Eine Dose Kartoffelchips.
Aber einige Minuten später hatte er immer noch keine Kondome.
Ian fing an zu schwitzen, und nicht nur ein bisschen. Auf seiner Stirn und seiner Brust bildeten sich dicke Tropfen. Er hatte gehofft, es wäre leicht, sich das Verhütungsmittel im Vorbeigehen zu schnappen, aber langsam kroch die Furcht in ihm hoch, dass dem nicht so sein würde. Er sah Regale mit Vitaminen, Tabletten gegen Erkältungen, Schmerzmitteln, Rasenpflegeprodukten, Windspielen, Grußkarten, eine Riesentonne Gummibälle.
Aber keine Kondome, nirgends.
Dann stieß er auf diverse Hygieneartikel für Frauen und Briefchen für Schwangerschaftstests. Babyzeugs, dachte er, jetzt muss ich nahe dran sein.
Und das war er auch. In der Nähe der Apothekenabteilung fand Ian die Lösung für sein Verhütungsproblem. Jede Menge Lösungen. Er starrte auf die Kondom-Auswahl wie auf eine riesige Wand voller Hieroglyphen, die er entziffern musste. Die Fülle der Formen und Ausstattungen war umwerfend.
Ultradünn?
L? XL? XXL?
Gerippt? »Für ihre Lust!«, versprach die Packung. Das war umsichtig.
Prickelnoppen? Das klingt ein bisschen sadistisch.
Leuchtkondom »Glow in the dark«? Werden Frauen durch radioaktive Erektionen erregt? Wohl kaum.
Eine alte, großmütterliche Frau mit einer Riesenhandtasche schlurfte vorbei. Als sie Ian die Kondom-Auswahl studieren sah, warf sie ihm einen äußerst indignierten Blick zu. Er wurde rot. Hinter der Frau zockelten zwei junge Mädchen her – keine älter als vierzehn. Zunächst blickten sie schweigend auf ihre Flip-Flops. Aber sobald sie in der nächsten Reihe waren, fingen sie an zu kichern. Ihr Glucksen löste in Ian eine Welle von Angst aus, so als würde er auf einmal ohne Hosen in der Schul-Cafeteria stehen.
Er stürzte sich auf die Auswahl, packte die nächstbeste Packung, ohne darauf zu achten, was für eine Sorte das sein mochte. Er legte die Kondome ganz unten in seinen Korb, unter die Zeitschrift, wo sie ihm keine weiteren Peinlichkeiten bescheren konnten.
Das war’s. So gut wie geschafft.
Ein Teil von ihm wollte schnurstracks zur Kasse stürzen, aber Ian fand es vernünftiger, seinen behäbigen Schritt beizubehalten.
Keine Aufmerksamkeit erregen. Bleib cool. Entspann dich. Als würdest du Socken einkaufen.
Er ging weiter in die Richtung der Apothekenabteilung, an der er ganz unbekümmert vorbeischlendern wollte, bevor er sich zur vorderen Kasse und dann, endlich, zum Ausgang begab.
Eine Verkäuferin, die sich über eine Plastikwanne mit Medikamenten gebeugt hatte, blickte auf, als er näher kam. Sie war blond, etwas über zwanzig, tief gebräunt – sah fast unnatürlich gut aus für eine, die im Gesundheitsbereich tätig war, fand Ian. Und viiiiel zu gut aussehend, um bei ihr Kondome zu kaufen. Sie lächelte ihn an. Ian zuckte zusammen. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Er wandte sich abrupt ab, machte fast auf dem Absatz kehrt. Das war wahrscheinlich nicht so richtig cool, dachte er. Aber umblicken konnte er sich einfach nicht. Tu einfach so, als hättest du was vergessen.
»Ach …«, sagte er, fuhr mit der Hand an den Kopf und hoffte, auf diese Weise den Eindruck zu vermitteln, er hätte was ganz Wichtiges vergessen, was sich überhaupt nicht in der Nähe der Apothekenabteilung befand. Er spürte den Schweiß auf seinem hageren Gesicht. Jetzt komm schon. Du bist bloß ein Typ, der hier einkauft, weiter nichts. Zack. Du suchst dir nur ein paar Sachen zusammen. Bleib cool. Hastig entfernte er sich von der Apothekenabteilung und eilte zur Kasse.
Da merkte er, dass am Ende der langen Schlange vor der Kasse die beiden Kichermädchen standen und hinter dem Rücken ihrer Großmutter feixten. Ian nahm an, dass sie ihn – den Kondom-Knaben – bemerkt hatten und hinter vorgehaltener Hand flachsten. Er erstarrte. Er konnte sich unmöglich in eine bewegungslose Reihe direkt hinter die beiden Mädchen stellen, die sich offen über ihn lustig machten. Nein, er brauchte mehr Distanz zu den Kichermädchen. Er brauchte …
»Verehrte Kunden, an der Kasse in der Apothekenabteilung brauchen Sie nicht zu warten«, sagte eine körperlose Stimme. »Bitte gehen Sie zur Kasse in der Apothekenabteilung, dort müssen Sie nicht warten.«
O Mann! Soll ich bei der abnorm scharfen Apothekerin Kondome kaufen oder mich weiter von zwei bescheuerten Mittelstufenbräuten verspotten lassen?
Einige Kunden verließen die Schlange und bewegten sich Richtung Apothekenabteilung. Die beiden Mädchen blieben jedoch wie Spielzeugpudel neben der alten Frau stehen. Ian überlegte kurz, dann marschierte er zurück zum anderen Ende des Ladens. Er wollte die Begegnung mit der attraktiven Apothekerin riskieren.
Just als er an den Schwangerschaftstests vorbeikam, nahm er Augenkontakt mit ihr auf und sie grinste ihn wieder an. Ian erreichte die Apothekenkasse kurz vor der Meute ungeduldiger Kunden. Die Apothekerin – auf ihrem Namensschild stand BETSY – grinste noch breiter, als er seinen Korb auspackte. Ian nickte und erwiderte verlegen ihr Lächeln.
Die Frau kicherte. Ian war entgeistert.
Er legte die Dose mit den Kartoffelchips auf den Ladentisch, die langsam auf die Frau zurollte. Sie stoppte sie mit dem Zeigefinger.
»Hey, du«, zwitscherte die Frau.
Wa…? Macht die mich an? Mann, die ist Apothekerin. Also beinahe eine halbe Ärztin! Ich meine, wenn ich mit einer Apothekerin gehen würde – das wäre das Beste, was mir passieren könnte. Keine Frage. Aber mit mir flirten nicht mal Mädchen in meinem Alter. Und außerdem flirten Apothekerinnen nicht, die spielen Golf. Oder plaudern einfühlsam mit alten Leuten über deren Krankheiten. Flirten tun sie ganz sicher nicht. Also was zum Teufel geht hier vor?
»Ähm … hallo«, entgegnete er. Die Apothekerin lachte wieder und beugte sich weiter zu ihm vor. Er knallte das Sixpack Mountain Dew auf den Ladentisch.
»Du weißt nicht, wer ich bin, was?«
»Sie sind, ähm … na ja, Sie sind eine freundliche Verkäuferin. Und bestimmt eine gute.«
»Ian Lafferty, du Doofi. Ich lach mich tot.«
»Doofi«? Niemand hat mich mehr Doofi genannt, seit …
Sie nahm seine rechte Hand und sagte: »Ich bin’s, Betsy. Betsy McNaughton? Haaallo! Ich war deine Babysitterin, na, bestimmt sechs Jahre lang.« Sie lehnte sich über seinen Reiseproviant und umarmte ihn.
In Ian wallte plötzlich ein Schwall totaler Vertrautheit auf, gefolgt von einem warmen Gefühl des Wiedersehens. Die brandheiße Apothekerin, die ihm am Hals hing, war wirklich die beste Babysitterin, die er als Kind gehabt hatte – aber da überkam ihn schon das blanke Entsetzen. Das war mit Sicherheit nicht die Person, bei der er seine Kondome kaufen wollte. Nein, ganz und gar nicht.
»Na und? Wie geht’s dir, Ian?«, fragte sie und half ihm, seinen Korb auszuräumen. »Und wie geht’s deinen Eltern? Mein Gott, ich habe euch ja ewig nicht gesehen. Was machst du so? Ich bin Apothekerin geworden, wie du siehst, und du … Hm, du bist jetzt in der Zwölften, stimmt’s? Oder sogar schon auf dem College?«
Er zuckte kaum wahrnehmbar die Achseln. Sie hielt inne, blickte ihn an und schüttelte sachte den Kopf.
»Boah, Ian Lafferty!«
Sie sagte seinen Namen, als wäre er eine beinahe vergessene Berühmtheit, die zufällig in ihrem Laden gelandet war. Wie »Boah! Corey Haim.«
Das gibt’s doch nicht. Er klopfte auf den Stapel mit seinen Früchtetörtchen, hoffte, dass er die Kondome ausbuddeln und außer Sichtweite befördern konnte, bevor Betsy sie entdeckte.
»He, Ian, erinnerst du dich daran, wie wir den Lafferty-Fünfkampf erfunden haben?« Sie grinste, nahm eine Tüte Doritos aus dem Korb und scannte sie in die Kasse. »Was war das noch mal? Warte mal … Seilball, Scrabble, Daumendrücken, Tödliche Schlacht … oh, auf welcher Spielkonsole? Nintendo? Und was noch? Was war die fünfte Disziplin?«
»Hungrige Hungrige Hippos«, sagte Ian voller Panik.
Kondome, Kondome, Kondome … Wo zum Teufel sind die verdammten Kondome?!
»Richtig!«, rief Betsy. »Das Hippo-Schnappspiel war die fünfte Disziplin. Der Lafferty-Fünfkampf war ›der ultimative Geschicklichkeitstest in fünf Disziplinen‹!« Sie lachte und lächelte. »Du warst zum Schreien, Ian! Du warst so ein niedlicher Junge, ich schwör es! Und erinnerst du dich an den Tag, als wir dachten, deine Katze wäre beim Nachbarn in den Swimmingpool gefallen und käme nicht von alleine rau…«
Sie blieb mitten im Wort stecken und beäugte den Gegenstand in ihrer Hand. Ian betrachtete ihn gleichfalls. Es handelte sich um ein Dreierpack Kondome in Neonorange mit Mangogeschmack. Die Packung hatte eine grellgelbe Aufschrift: Wenn sie erst einmal die Tropen schmeckt …
Betsy riss die Augen auf. Sie ließ die Packung fallen, scannte sie schnell ein – ohne sie zu berühren – und schob sie in eine Walgreens Plastiktüte, als würde sie Tierkot entsorgen. Sie grinste blöde. Ian packte schnell die übrigen Dinge aus dem Korb.
»Ja, na ja … echt, das war eine verrückte Katze«, sagte Betsy, bemüht, die Fassung zu bewahren. »Schöne Zeiten.«
Sie blickte ihn nicht mehr an. Offensichtlich, stellte Ian fest, verspürte sie auch keine nostalgischen Gefühle mehr. War nur amüsiert. Schnell registrierte sie die restlichen Dinge aus Ians Korb und packte sie in die Tüte. Er sagte nichts. Ganz offensichtlich gab sie sich Mühe, nicht zu lachen.
»Das macht $ 59.89, Mister Lafferty«, sagte Betsy.
Ian reichte ihr drei Zwanzigdollarnoten. Er war unglaublich befangen und hatte irgendwie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
»Also, Betsy. War echt schön, dich zu sehen.« Er brachte eine Art Winken zustande.
Sie hob die Augenbrauen, dann zwinkerte sie und zeigte ihm ein breites Grinsen.
»Tschüs, Ian. Hab mich auch gefreut, dich zu sehen.« Sie reichte ihm einen Penny und einen Zehner. »Ich wünsch dir ein schönes Wochenende.« Sie zeigte auf die Tüten. »Ich meine, du scheinst ja was richtig Aufregendes vorzuhaben.«
Ian lächelte ein schmerzliches Lächeln, murmelte: »Danke, Betsy«, und floh.
Gott, war das Scheiße, dachte er. So eine Scheiße, Scheiße, Scheiße, ScheißeScheißeScheißeScheißeScheiße. Puh! Reiß dich zusammen, Ian. Prioritäten setzen. Du hast deine Kondome. Sie sind ziemlich bescheuert, stimmt. Aber sie werden ihren Dienst tun. Wenn’s Licht aus ist. Außer, sie leuchten, da seh ich dann aus wie eine Signallampe. Er atmete hörbar aus. Grrr. ScheißeScheißeScheiße …
Ian ging zum Geldautomaten am Eingang und zog dreihundert Dollar für Benzin, Essen und was sonst noch Geld kosten könnte. Bei einem Stundenlohn von $ 8.35, rechnete er, repräsentierten diese dreihundert Dollar etwa eine volle Woche niedere Donut-Tätigkeit. Unwillkürlich verzog er das Gesicht.
Er verließ den Laden durch die automatische Tür und trat in die warme, helle Freitagssonne. Er atmete tief durch und schüttelte den Kopf, als wollte er seine Panik abwerfen. Langsam schritt er auf die Kreatur zu, starrte auf den schwarzen Asphalt und hoffte, den Kopf klarzubekommen. An seiner Seite schwangen die Einkaufstüten.
»Soll ich Ihnen Ihre Sachen zum Auto tragen, Sir?«, rief ihm eine fröhliche Stimme entgegen – eine fröhliche Stimme, die dort nichts zu suchen hatte. »Das sind ’ne Menge Tüten für so einen dürren Typen wie Sie auf dem weiten Weg zu dem gigantischen gelben Auto.«
Ian erstarrte.
Auf der Motorhaube der Kreatur saß Lance und ließ die Füße baumeln. Felicia hockte neben ihm und winkte fröhlich.