22 »Wieder mal eine gelungene Flucht«, schnaufte Lance, noch außer Atem von seinem Spurt. »Ha, ha, gähn! Nichts Ungewöhnliches mehr, wirklich. Scheint einfach unsere Art zu sein, einen Schauplatz zu verlassen.«
»Das war ein gottverdammter Alptraum«, sagte Ian.
»Ach, jetzt hör doch mal auf, so ein Schisser zu sein, Ian«, schimpfte Felicia. »Ist dir vielleicht schon mal aufgefallen, Ian Lafferty, dass meistens du es bist, der solche Situationen heraufbeschwört? Lance hat dir echt den Arsch gerettet da drinnen.« Sie streckte Lance ihre Hand hin und klatschte auf Hüfthöhe mit ihm ab. »Ich muss zugeben, Nesbitt, das war ein hervorragender Einsatz deiner Flirt-Fähigkeiten. Sehr einfallsreich. Es kommt nicht oft vor – wenn überhaupt –, dass ich dieses Talent hilfreich finde.«
»Vielen herzlichen Dank, danke sehr …«, sagte Lance.
»Eh, ihr spinnt wohl!«, sagte Ian. »Das ganze fast in Gewalt ausgeartete Drama hat nur stattgefunden, weil Lance sich mit jeder beschäftigen muss, die er auf seinem Braut-Radar ausfindig macht. Nur seinetwegen sind wir in die Scheiße geraten.«
»Wir?«, fragten Felicia und Lance gleichzeitig. Wieder klatschten sie ab.
»Alter«, sagte Lance. »Ich glaube, diese Aussage musst du zurücknehmen. Wir sind in die Scheiße geraten, weil du dich den Mädchen gegenüber unmöglich …«
»Und als dann diese Hohlköpfe auftauchten, warst du ein Megaschisser«, fügte Felicia hinzu. »Deshalb musste ich mich hinter einem Schwung Hot Dogs verstecken und mir eine Rettungsmaßnahme ausdenken und deshalb sind wir gerade so an einer Katastrophe vorbeigeschlittert.« Sie hielt inne. »Aber bei dieser Becca hast du echt Mumm gezeigt.«
Die Kreatur ratterte über die Bundesstraße 26 Richtung Südosten. Ian saß mürrisch auf der Rückbank und brummte vor sich hin: »›Du brauchst einen Schub Selbstvertrauen‹, sagt Lance. ›Geh und rede mit ihnen‹, sagt Lance. Also tue ich es. Blöde, blöde, blöde.«
»Ach, hör doch auf. Ich habe gedacht, es würde dir guttun, deine bizarre Rolle mit Mädchen zu üben, die du überhaupt nicht kennst und die dich daher überhaupt nicht hätten einschüchtern können. Weil du in ungefähr einer Stunde oder so – immer noch als bizarrer Ian – mit einer Sex haben wirst, die du noch nie gesehen hast. Und das könnte dich möglicherweise noch ein wenig mehr einschüchtern.«
Ian schmollte.
»Weißt du was, Ian?«, sagte Felicia. »Vielleicht kannst du ja einfach niemand anders sein als Ian Lafferty, der total nette Kerl. Und vielleicht stolperst du gerade deshalb bei diesen Tankstellen-Tussis und ihren heimtückischen Boyfriends immer über deine eigenen Füße. Du kannst dich nicht gut verstellen, Ian. Du kommst mit der künstlichen Bräune und der Frisur und der tiefen Stimme und dem großmäuligen Gequatsche nicht zurecht, weil du das eben nicht bist. Ist schon klar, du willst das können. Ist schon klar, du hast einen wie auch immer gearteten geschlechtsbezogenen Trieb und willst es mit heißen Mädchen treiben. Was auch immer, du Blödhammel. Aber du bist eben trotzdem der nette, freundliche Typ, der nun mal keine Schnallen aufreißen kann.« Sie machte eine Pause. »Und der gefällt mir.«
Ian schmollte weiter.
»Hey, gib mir mal die Sprite«, sagte Felicia. Lance machte die Dose auf und sie trank vorsichtig. »Also, was hat dir das Mädchen da eben gegeben?«, fragte sie Lance. »Die kürzeste Selbstmordankündigung der Welt?«
»Nur ihre Telefonnummer und ihren Instant-Messenger-Namen. Weiter nichts.«
»Und die hast du aufgehoben?«
»Klar.«
»Warum?«
»Man kann nie wissen.«
»Was wissen?«
»Man kann einfach nicht wissen. Wenn ich vor fünf Jahren in dem Naturkunde-Ferienlager am Birdeye Creek daran gedacht hätte, mir die Telefonnummer von Elise geben zu lassen, wer weiß, was dann passiert wäre?«
»Ich kann mir das immer noch nicht vorstellen, du und eine feste Freundin, Lance.«
»Sie wäre es geworden. Jedenfalls sammle ich jetzt alle Nummern, weil man nie wissen kann.«
Ian machte die Flasche Old Spice auf, spritzte ein paar Tropfen auf seine Hand und verteilte sie auf Hals und Gesicht. Es brannte und er zuckte zusammen.
»Ihh«, stöhnte Lance.
»Diese Scheiße ist auch nicht besser als alter Hund. Jetzt riechst du wie … mmm …« Er sog die Luft ein, die von der Rückbank nach vorne wehte. »Du riechst wie eine Mischung aus Feuerzeugbenzin und Schweißsocken, Ian. Nicht gut. Ich kann wirklich nicht sagen, dass das hilfreich ist. Ich habe eine Menge über Frauen und Pheromone und Gerüche und solche Sachen gelesen. Frauen mögen Männer, die gut riechen, aber keine, die stinken.«
Felicia lachte, dann sagte sie: »Ich weiß nicht. Für den falschen Ian ist das vielleicht in Ordnung. Doch, ich glaube, der falsche Ian ist genau der Typ, der sich jedes Abwasser übergießen würde, solange auf der Flasche ein kleines Segelboot abgebildet ist.«
»Der falsche Ian sagt, du spinnst.« Der echte Ian schmollte weiter.
Er setzte die Sonnenbrille auf und lehnte den Kopf an die Rücklehne. Er war erschöpft. Wenig Schlaf und übermäßige Aufregung hatten ihn fertiggemacht. Felicia und Lance hingegen schienen sich vollkommen wohl zu fühlen. Sie machten Witze über die Gorillas an der Tankstelle und überlegten, was sie in Charleston unternehmen wollten. Felicia wollte die historischen Gebäude anschauen, dann schlafen; Lance wollte sich so schnell wie möglich ins Nachtleben stürzen und feiern. Immer mehr Charleston-Schilder tauchten auf. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie tun würden, was immer sie tun wollten. Und Ian näherte sich dem Moment der Wahrheit mit Danielle. Oder besser gesagt, einem weiteren Moment der Unwahrheit mit Danielle. Wie auch immer. Jedenfalls bedeutete es, dass Ian sehr wahrscheinlich bald Sex haben würde, falls er nichts verpfuschte. Oder auf den nächsten vierzig Meilen nichts schiefging.
Er sandte Danielle eine weitere SMS:
WAUMI
Sie antwortete schon bald:
SUPER PARTY! BEBI! WAUDI …
Irgendwie machte das Ian noch nervöser. Ein bedrohliches Gefühl beschlich ihn. Er war sicher, dass Danielle schon weg sein würde, wenn er ankam. Oder sie würde über alle Maßen betrunken sein. Oder einfach enttäuscht sein von ihm. Er ließ sich noch tiefer in die bequeme Rückbank der Kreatur sinken.
»He, äh, Ian«, sagte Felicia. »Haben diese kleinen roten Lichter hier schon auf der ganzen Fahrt geleuchtet? Oder ist das was Neues?«
Ian schoss hoch. Die Öl- und Motorlämpchen leuchteten auf.
»Nein«, sagte er. »Das ist ganz sicher neu.«
»Soll ich anhalten?«, fragte Felicia.
Unter der Haube fing es an zu rattern. Laut. Dann war ein leises Pfeifen zu hören, das schnell zu einem hohen Jaulen wurde. Felicia ging mit der Geschwindigkeit runter.
»Wir können nicht auf der Autobahn anhalten«, sagte Ian.
»Warum nicht?«, fragte sie. »Wir rufen den Automobilclub oder so was. Einen Abschleppwagen.«
»Hör mal, wir können jetzt nicht anhalten«, sagte Ian und wurde lauter.
»Na, dann sollten wir vielleicht meine Eltern anrufen und …«
»Hey!«, fuhr Ian sie an. Seine neuerdings geschwungenen Augenbrauen verliehen seinem Gesicht einen absolut versteinerten, ja beinahe irren Ausdruck. »Eltern werden wir auf keinen Fall anrufen. Wie sind noch weiiiit davon entfernt, Eltern anzurufen, okay? Bleib einfach ruhig.«
»Du meinst, so wie du?«, fragte Felicia.
»Nein, ich meine, wie … wie jemand, der viel ruhiger ist als ich. Bleib einfach ruhig, das ist alles. Und egal was du tust: Fahr weiter.«
Das tat sie. Die Kreatur fuhr noch etwa zehn Meilen lang mit etwa der erlaubten Höchstgeschwindigkeit durch die schwarze Nacht. Für Ian waren das die längsten zehn Meilen seines Lebens. Bis die nächsten zehn Meilen begannen. Der Wagen fuhr durch den dicker werdenden nächtlichen Nebel und brachte nicht mal mehr vierzig Meilen die Stunde. Andere Fahrzeuge flogen an ihnen vorbei. Der Temperaturanzeiger war auf dem Höchststand, die Nadel war bis nach ganz oben gestiegen und steckte in einer roten Markierung, was Schlimmes verhieß.
»Gleich explodiert dein Motor«, sagte Lance. »Die Kreatur ist heiß gelaufen. Viiiiel zu heiß.«
»Du solltest die Heizung anstellen, Felicia«, sagte Ian. »Bis zum Anschlag. Das ist ein klassischer Tipp für solche Fälle. Das zieht die Hitze vom Motor ab, sagt mein Vater, so dass wir nicht stehen bleiben. Oder explodieren.«
»Das ist Wahnsinn«, sagte Felicia. »Bei der nächsten Ausfahrt fahre ich in jedem Fall runter.«
»Ich glaube, die nächste Ausfahrt ist schon Charleston«, sagte Lance.
Sie waren tatsächlich sehr nah. Sie sahen schon Schilder, die den Flughafen von Charleston anzeigten. Die nächste Ausfahrt ist dann nur – wie man so schön sagt – einen Steinwurf von Danielle entfernt, dachte Ian.
Als weißer Dampf unter der Haube der Kreatur hervorkroch, schaltete Felicia die Kühlung aus und die Heizung auf volle Kraft, wie Ian gesagt hatte. Das schien das unerträgliche Pfeifen etwas abzumildern, hatte aber keinen Einfluss auf das heftige Rasseln des Motors.
»Todesrasseln« nannte es Felicia.