20 Felicia fuhr, obwohl ihr immer mal wieder
übel wurde. Ian bestand darauf, Lance vom Beifahrersitz zu
verbannen, also lümmelte der sich auf der Rückbank. Ian saß vorne
und betrachtete seine neue Frisur im Spiegel.
»Die Frisur irritiert mich ein
bisschen«, sagte er. »Die Haare bewegen sich nicht, egal was ich
tue.« Er schwang den Kopf hin und her. »Das ist völlig unnatürlich.
Als würde mir ein Hut aus dem Kopf wachsen.« Ian drückte sich hoch
und rückte ein bisschen näher an den Spiegel heran, presste beinahe
das Gesicht ans Glas. »Diese Augenbrauen sind doch irgendwie
schräg, oder? Ich sehe so … wach aus. Als wäre ich überzuckert.
Oder hätte mich gerade fürchterlich erschrocken.« Ian hob und
senkte die Augenbrauen und versuchte, die Auswirkungen der
Wachsbehandlung zu mindern.
»Ach, das ist okay«, sagte
Felicia. »Du hattest sowieso Augenbrauen wie ein alter Mann. Jetzt
brauchst du nur noch den Bräunungsmist aufzutragen und dann ist
dein Styling perfekt.«
Ian nahm die kleine Dose
Selbstbräunungslotion, die ihm Lorraine gegeben hatte, in die Hand.
Er las laut, was auf dem Etikett stand: »Tan-in-a-Can! Bronze-Teint
durch Selbstbräuner: Leichte Anwendung! Schnelle Wirkung! Trocknet
im Nu! Basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen! Mit Vitaminen
für die Haut! Die Strahlen der Sonne in einer handlichen
Dose!«
»Alter, das Zeug basiert ›auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen‹«, sagte Lance. »Was soll denn da
schiefgehen?«
»›Die Strahlen der Sonne‹«,
wiederholte Ian. »Boah eh. Die ganze Kraft der Kernfusion hier in
der kleinen Dose. Was die Wissenschaft alles möglich macht!«
»Schmier dich ein, Ian«, drängte
Felicia.
Ian drehte am Deckel, bis es
knackte. Er stippte einen Finger in den safranfarbenen Schlabber
und schmierte das Zeug an seinen Hals, dann zog er sein T-Shirt
aus. Felicia pfiff spöttisch.
Lance kniff die Augen zusammen und
hielt sich die Nase zu.
»Boah, das Zeug
stinkt.«
»Es hat einen recht
durchdringenden Geruch«, sagte Felicia.
»Aber ihr beide wolltet doch, dass
ich wie der Typ auf dem Foto aussehe, also …«
»Auf deinem Foto, Ian«, mahnte
Felicia.
»Egal. Ich habe nur noch ein paar
Stunden, um mich zu verwandeln. Also muss das jetzt hier
geschehen.«
Ian fing an, die stark riechende
Pampe auf seinen blassen Armen und Beinen zu verteilen. Dann kippte
er sich einen großen Klecks auf den Bauch und verteilte das Zeug
auf seinem Oberkörper. Felicia und Lance kurbelten ihre Fenster
runter und wandten die Gesichter der hereinströmenden Luft zu. Nach
mehreren Minuten sorgfältigen Einreibens reichte Ian die Dose nach
hinten.
»Lance, schmier mir den Rücken
ein, bitte.«
»O nein.« Lance schüttelte den
Kopf. »Nein, das kannst du nicht verlangen.«
»Komm schon, Lance«, sagte
Felicia. »Schmier deinem Freund ein bisschen Bräunungscreme auf den
Rücken. Eigentlich willst du das doch.«
»Bloß die Mitte vom Rücken. An die
Schultern komm ich selber.«
Lance schnupperte vorsichtig an
der Dose. »Scheiße, Mann. Zwei Wörter: Alter. Hund.« Lance
stippte mit einem Finger in die Pampe, dann schmierte er sie sanft
auf Ians Rücken unterhalb der Schulterblätter. Er blickte Felicia
an. »Keine dummen Sprüche, bitte.«
»Dumme Sprüche?«, fragte sie.
»Wieso denn? Ein hübscher Junge cremt einem anderen hübschen Jungen
den Rücken ein. Läuft das so im Jungs-Umkleideraum?«, fragte sie.
»Dass sich die Typen gegenseitig mit Salbe einschmieren? Sich
vielleicht gegenseitig entblättern? Das habe ich jedenfalls immer
vermutet. Im Mädchen-Umkleideraum ist das so.«
»Ach, du kannst mir nichts
erzählen«, sagte Lance. »Dazu hatte ich zu viele Intermezzi im
Mädchen-Umkleideraum.«
»Was?«, fragte Felicia und
lachte.
»Klar, Mensch. Manche Mädchen
stehen da total drauf. Es ist ein bisschen gefährlich. Es entsteht
eine bestimmte Spannung. Es ist möglich, dass man von so einem
blöden, rattengesichtigen Sportlehrer erwischt wird.«
»Welche Mädchen zum Beispiel
›stehen total drauf‹?«
»Tja, warte mal. Also, im letzten
Frühjahr, da war’s Tracey Wong nach dem Softballtraining. Und
Carolyn Mueller während eines Basketballspiels. Das war richtig
nett – eigentlich war sie nicht meine Kragenweite. Aber du weißt
ja, manchmal überrascht man sich selbst. Stimmt doch, Ian,
oder?«
»Klar, Lance. Vergiss die Seiten
nicht, unter meinen Achseln.«
Lance fuhr fort.
»Hm … wer noch? Ach ja, Julia
Carpoulis.«
»Ach, das zählt doch nicht«, sagte
Felicia. »Die macht’s doch mit jedem.«
»Hey, ich checke die Leute nicht.
Ich fälle keine Urteile und ich stelle nicht zu viele Fragen. Ich
nehme einfach jede Gelegenheit wahr, die sich ergibt.«
»Trotzdem, das ist schon ein Ding,
du und Julia. Die beiden vermutlich nuttigsten Teenager aus der
Umgebung von Chicago besorgen es sich gegenseitig. Wie
wahrscheinlich ist das?«
»Ziemlich, würde ich sagen«,
erwiderte Ian. »Die können sich doch gar nicht verpassen.«
Lance war fertig mit dem Einreiben
und wischte sich die Hände an Ians Hals ab. »Mal sehen«, sagte
Lance. »Ich weiß, dass da noch ein paar sein müssen. Ja, genau …
Deborah Kindred! Das war im letzten Jahr an einem Tag zwischen der
siebten und der achten Stunde. Ich glaube, kurz vor den
Weihnachtsferien. Keine große Sache. Ein gegenseitiges Befummeln,
mehr nicht. Die Ferien standen bevor, alle waren guter Stimmung.
Und noch Lori Ambrose. War das im vorigen Jahr? Nein, in der
zehnten, glaube ich. Aber die erste Begegnung im Umkleideraum hatte
ich mit Stacey Stichman. Erinnert ihr euch an die?«
»War die nicht ein Jahr über
uns?«, fragte Felicia.
»Zwei Jahre, um genau zu sein. Wir
waren in der Mittelstufe. Sie war in der achten, ich in der
sechsten. Es war, nachdem wir beide eine Stunde Arrest abgesessen
hatten.«
»Aber ihr habt doch nicht, ich
meine, ihr habt es doch nicht richtig gemacht, oder?«, fragte Ian.
»Ich meine, im Umkleideraum. Mann, du warst in der sechsten Klasse.
Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, und bei mir, da war bis jetzt
noch nicht mal dran zu denken.«
»Ach, aber das ändert sich ja
bald«, grinste Lance. »Nein, richtig gemacht habe ich es mit Stacey
Stichmann nicht. Damals nicht. Nein, das war erst drei Jahre
später, da hatte ich – haltet euch fest – wieder nachsitzen müssen.
Komisch, wie sich die Dinge wiederholen.«
»Manchmal finde ich dich komisch,
Lance«, sagte Felicia, die Augen auf die Straße vor sich gerichtet.
»Aber manchmal wird mir echt anders. Zum Beispiel jetzt.«
Puh, dachte Ian und
schmierte sich Bräunungscreme auf Schultern und Hals. Irgendwie
ist das nicht richtig, dieser ganze Kram mit dem Geschlechtsverkehr
und Beinahe Geschlechtsverkehr. Besonders in Umkleideräumen. Dieses
Rumgefummel ist eklig. Zu eklig. Ist es ekliger als das, was ich
vorhabe? Ich glaube, ja. Vielleicht nicht sehr, aber ekliger ist es
auf alle Fälle, keine Frage. Ian tunkte seinen rechten kleinen
Finger in die Bräunungscreme, dann verteilte er das üble Zeug
sorgfältig auf Gesicht und Ohren.
»Und, Lance«, sagte Felicia, »hast
du’s schon mal mit einem Mädchen im Jungs-Umkleideraum
gemacht?«
»Nö. Ich habe noch nie ein Mädchen
in einen Jungs-Umkleideraum mitgenommen, genauso wenig wie ich mit
einem Mädchen in ein Schlachthaus gehen würde. Oder auf eine
Camping-Toilette. Oder auf eine Müllkippe. Weil das einfach
super-widerlich ist.«
Sie lachten. Ian trocknete und
wurde dunkler, während sie einige Meilen hinter sich
brachten.
»Mein Gott«, sagte Felicia
irgendwann. »Das Zeug stinkt echt. Was eigentlich bedeutet, dass
du stinkst.« Sie wandte die Nase ab.
»Geht nun mal nicht anders«, sagte
er. »Vielleicht verdunstet der Geruch nach einer Weile. Sonst muss
ich was finden, das ihn neutralisiert. Ich will lieber nicht mein
Hemd anziehen. Sonst geht noch alles in die Fasern.«
»Wir werden dich irgendwo
abwaschen müssen.«
»Lass uns erst mal eine Stunde
oder so abwarten, damit es einwirken kann. Wir wollen doch, dass
ich braun bin, oder?«
»Nicht, wenn sich dabei deine Haut
auflöst«, sagte Felicia. »Und die Ausdünstungen könnten
halluzinogene Wirkungen haben. Ich glaube, mir ist schon
schwindelig. Das könnte natürlich auch käsetaschenbedingt
sein.«
»Wir müssen einfach das Thema
wechseln«, sagte Ian. »Irgendwas tun, was uns von dem Geruch
ablenkt.«
»Felicia, wie wär’s, wenn du uns
was von deinen missglückten Sex-Abenteuern erzählst?«, sagte Lance.
»In Europa muss doch irgendwas passiert sein, oder?«
»Na ja, ich bin schon ein bisschen
angebaggert worden. Das war schmeichelhaft. Die Jungs vom
Mittelmeer mögen Amerikanerinnen, habe ich gemerkt. Aber es gab
keine missglückten Abenteuer. Manchmal sehr provokantes Tanzen, in
Discos. Und ein kleines Intermezzo mit einem Jungen namens Jacques.
Aber da ist nicht viel passiert. Es ist schwierig, den Eltern zu
entwischen und es heimlich mit ausländischen Jungen zu
treiben.«
»Du bist prüde«, sagte Lance.
»Mädchen wie du lassen keinen an sich ran.«
»Was?!«, protestierte
Felicia lautstark. »›Lassen keinen an sich ran?‹ Stimmt. Ich habe
keinen an mich rangelassen. Aber prüde bin ich nicht.«
»Joey Swain hat gesagt, du bist
prüde.«
»Was?!«
»Nach dem Abschlussball. Da ist er
leer ausgegangen, hat er gesagt.«
»Ich bin wählerisch.
Deswegen bin ich noch lange nicht prüde. Ich habe nicht unbedingt
vor, mich für die Ehe oder einen Ball oder sonst was zu bewahren.
Wer weiß – wenn ich den richtigen Jungen treffe, geht’s ab.«
»Hmm«, machte Lance und tat so,
als überlege er, ob das zutreffen könnte. »Nein, das kann ich mir
nicht vorstellen. Ein Mädchen wie du, nein.«
»Was soll denn das
bedeuten?«, fuhr sie ihn an. »Ein Mädchen wie ich? Sag mir bitte,
wie bin ich denn? Ian, weißt du, wie ich bin?«
»Ich halte mich aus diesem
Gespräch raus. Ich bin hier bloß der alte, stinkende Hund.«
»Ach, jetzt beruhige dich mal,
Felicia«, sagte Lance. »Das meine ich doch nicht böse. Ich meine
einfach Mädchen, die nicht viele Freundinnen haben. Du hängst mit
Typen ab – mit mir und mit Ian. Solche Mädchen sind generell
prüder. Ähm … als Gruppe betrachtet.«
»Ich habe Freundinnen!«, erklärte
Felicia. »Sie sind vielleicht nicht so eine Art beste
Freundinnen, aber ich habe welche.«
»Okay, wer denn zum
Beispiel?«
»Zum Beispiel Tanya Turcott. Sie
ist eine gute Freundin von mir.«
»Sie ist weggezogen, als wir in
der Neunten waren.«
»Wir reden noch miteinander«,
sagte Felicia wenig überzeugend. Sie überlegte einen Moment. »Und
Beverly Gishblatt.«
»Das war eine Referendarin in der
zehnten Klasse.«
»Peggy Swain.«
»Mann, das ist Joeys
Mutter.«
»Chris Puddleman.«
»Chris ist ein Junge.«
»Aber sehr feminin.«
»In der dritten Klasse hast du ihm
eine fette Abreibung verpasst, weißt du noch? Du hast gedacht, er
hat deine Früchterolle geklaut – was nicht stimmte –, und hast ihm
dein Cafeteria-Tablett über den Kopf gezogen. Das war übel.«
»Okay, okay. Also habe ich im
Moment nicht viele Freundinnen. Aber das liegt nicht daran, dass
ich Mädchen nicht mag. Und ich habe mich schon oft in meinem Leben
ziemlich mädchenhaft verhalten. Glaubst du denn, ich bin nicht auf
Mein kleines Pony abgefahren? Oder auf Emily Erdbeer?
Oder auf Das Mädchen Jem und die beschissenen
Holograms?« Sie stockte. »Mit Mädchen befreundet zu sein ist
eben manchmal schwierig. Sie müssen immer was haben. Andauernd.
Sobald es um Jungs geht, kriegen sie feuchte Augen. Sie reden mehr
über sich selbst, als ich ertragen kann. Mit euch ist es halt
einfacher.«
»He«, sagte Lance. »Du rennst
offene Türen ein.«
»Und außerdem«, fügte sie hinzu,
»ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich euch mal nicht
gekannt habe. Andere, die ziehen her, dann ziehen sie wieder weg.
Aber ihr beide seid immer da gewesen. Ich hänge sehr an euch. Es
gibt einfach Leute, an denen bleibt man kleben.« Sie lächelte.
»Selbst wenn sie einem wegen so einer Internet-Schrulle die Hucke
volllügen.«
Nach dieser Erklärung verbrachten
sie die nächsten Meilen schweigend. Ians Gestank verflog langsam.
Als das Zeug endgültig trocken war, zog er sein T-Shirt wieder an.
Die Sonne verschwand hinter den Baumwipfeln. Auf den Schildern
wurde die Entfernung nach Charleston angezeigt. Ian wurde immer
nervöser. Außerdem wurde er immer orangefarbener. Lance war der
Erste, der es aussprach.
»So richtig braun scheinst du
nicht zu werden, oder?«
»Was meinst du? Ich bin dunkler.«
Ian untersuchte seine Arme.
»Du siehst aus wie eine Mohrrübe«,
sagte Felicia und stieß ein Lachen aus, das sie schon mehrere
Meilen lang unterdrückt hatte.
»Mmm. Eher wie ein
Orange-Fruchteis, finde ich«, sagte Lance. »Aber im Prinzip stimmt
es. Du siehst einfach ziemlich orange aus.«
»Ach was«, sagte Ian. Aber
objektiv betrachtet, musste er zugeben, war es richtig.
»Vielleicht ändert sich die Farbe
noch, Alter. Du könntest immer noch ein bisschen dunkler
werden.«
»Glaube ich nicht«, sagte Felicia.
»Es sind jetzt schon fast zwei Stunden. Ich denke, er ist
vollkommen durchgebacken.«
»Findet ihr das echt so schlimm?«,
fragte Ian.
Seine Freunde nickten nur.
»Und … was kann ich tun?«
»Vielleicht abwaschen?«, schlug
Lance vor.
»Ich glaube, das hätte ich vor,
ach, keine Ahnung, vor zwei Stunden tun sollen!« Ian
rutschte auf seinem Sitz herum, starrte aus dem Fenster Richtung
Westen, dann schlug er mit der Hand aufs Armaturenbrett, klappte
die Sonnenblende herunter und begutachtete sein Gesicht im
Spiegel.
»Ich kann echt nicht glauben, dass
ihr mich zu diesem Scheiß überredet habt. Ich meine, ich bin nicht
sicher, ob Danielle auf mich abgefahren wäre, so wie ich, na ja,
wie ich heute Morgen ausgesehen habe. Aber das hier – echt, das ist
doch ein bisschen zu heftig, oder?«
Er fuhr herum und blickte Felicia
an, mit seiner orangefarbenen Haut, dem gegelten Haar und den
unnatürlich schmalen Augenbrauen, die sich bogen wie ein
McDonald’s-Logo. Felicia fing wieder an zu lachen, diesmal ohne
jede Hemmung. Die Räder der Kreatur berührten kurz den
Seitenstreifen der Autobahn. Sie brachte den Wagen sofort zurück in
die Spur, aber sich selbst hatte sie nicht so schnell wieder unter
Kontrolle.
»Schön, dass ich dir Freude
mache«, sagte Ian bedrückt.