10 Er fuhr tatsächlich die ganze Nacht
durch.
Nachdem er in mondloser Dunkelheit
über zahllose Autobahnen gerast war, hielt er auf einem Parkplatz,
der für seine Begriffe schon in North Carolina lag, und schaute zu,
wie die Sonnabendsonne aufging. Er hatte gehofft, einen
Getränkeautomaten zu finden, um seinen Vorrat an stark
koffeinhaltigen Getränken zu erneuern. Aber kaum hatte er den
Schalthebel auf Parken gestellt, fiel es ihm schwer, sich zu
bewegen. Er war mehr als erschöpft, schon an der Grenze zum
Delirium. Ohne besonderen Grund fing er an, verschiedene
Donut-Kombinationen aufzusagen, die jeweils ein Dutzend
ergaben.
»Drei Bavarian Creme, drei Sugar,
drei Kirsch-Banane, zwei Blueberry Filled, ein Nougat Vanille.« Er
streckte sich und stieß dabei versehentlich an Felicias linken Arm.
Sie bewegte sich, wachte aber nicht auf. »Zwei Apple-Zimt, zwei
Butternut, fünf Glazed, drei Double Chocolate.« Die Uhr zeigte
6:47. »Also gut. Sechs Chocolate Frosted – warte, lieber sechs
Chocolate Coconut, zwei Boston Creme – eine ausgezeichnete Wahl,
zwei Maple Frosted und zwei Vanilla Creme.« Er gähnte. »Drei
Strawberry Frosted, zwei Chocolate Creme …«
Lance setzte sich auf, schob den
Kopf nach vorne und sagte beinahe flüsternd zu Ian: »He, Alter, was
machst du da?«
»Nichts. Nichts, nichts, nichts.
Eine kleine Gedächtnisübung. Mit Donuts.« Ian sprach langsam, wie
ein Zehnjähriger, der im Unterricht einen schwierigen Satz
vorliest. »Genau. Donuts, Donuts, Donuts.«
Lance lachte. »Das klingt, als
wärst du high. Und scharf auf Kuchen.«
»Nein, nein, nein. Nicht high.
Bloß ein bisschen müde. Aber nichts, ähm …«
Ian hörte auf zu sprechen. Er
starrte mit glasigen Augen zum Imbiss auf dem Parkplatz.
»Nichts, was, Alter?«
»Nichts, was? Oh, nichts. Ich habe
bloß gesagt, dass ich müde bin. Aber dem kann mit einem bisschen
Koffein abgeholfen werden. Und dazu ein bisschen Maissirup mit
hohem Fructoseanteil.« Ian drehte sich zu Lance um.
»Fructose.« Er lächelte. »Hmmm.«
»Ian, ich glaube, du solltest
nicht mehr fahren. Du brauchst Schlaf – echten Schlaf. Du bist
fertig.« Lance griff hinter Ian, um die Tür zu entriegeln. »Hüpf
raus, Kumpel. Komm nach hinten und leg dich hin. Ich fahr
weiter.«
»Hüpf? Hüpf, hüpf, hüpf. Ich bin
müde, das ist wahr.« Damit warf sich Ian über den Fahrersitz nach
hinten, streifte mit seinem Schuh Felicias Nase und landete mit dem
Ellbogen voran auf Lances’ Schoß.
»Ähm … igitt. Runter von mir,
bitte.«
Felicia reckte sich, dann hob sie
den Kopf. Sie blinzelte Ian und Lance an und griff sich an die
Nase.
»Was ist? Gott, fühl ich mich
mies. Wo sind wir?«
»Wir haben Kentucky durchquert«,
sagte Ian fröhlich. »Das Bluegrass Land. Das Land der … ähm,
Pferde. Und vermutlich auch des blauen Grases. Aber es war dunkel,
ich konnte nichts sehen. Egal, durchgefahren sind wir. Und wir sind
durch Tennessee gefahren, das Land … hm, das … weiß ich nicht.
Jedenfalls gab es nichts, das ich tatsächlich hätte sehen können.
Aber ich habe gehört, dass sie hier nette Musik machen und so.
Jetzt sind wir, glaube ich, in North Carolina, das Land von … ähm,
einst war es das Land von Michael Jordan. Aber das ist vorbei.« Ian
verstummte. »He, da sind Getränkeautomaten. Ich bin sehr müde,
Felicia.«
Lance kletterte über den Sitz,
etwas geschickter als Ian zuvor, und machte es sich hinter dem
Steuer bequem, ohne dabei jemanden gestoßen zu haben.
»Okay, ich fahre. Ich bin die
Kreatur noch nie gefahren. Aber ich hab gesehen, wie’s geht. Ein
gewaltiges Teil. Aber egal, oder?«
»Das ist die richtige
Einstellung«, meinte Ian. »Aber sei vorsichtig, ich liebe die
Kreatur sehr. Die Karte ist da vorne. Zwischen den Sitzen. Lance,
weiche nicht von der geplanten Route ab. Felicia, pass auf, dass
Lance nicht von der geplanten Route abweicht. Ich werde versuchen,
mit einem offenen Auge zu schlafen. Wie ein Wal. Wenn Lance also
von der Route abweicht – oder noch einmal versucht, eine
Tankstellenverkäuferin aufzugabeln –, werde ich es merken.«
»Wie ein Wal? Was soll denn das
heißen?«, fragte Lance.
»Halb-bewusst. Wenn ein Wal
schläft, ruht sich nur eine Hälfte seines Gehirns aus. Der Wal
bewegt sich weiterhin. So dass er auftauchen kann. Zum Atmen. Mit
seinem Blasloch.« Ian gähnte. »Delphine machen das auch. Und so
werde ich schlafen. Halbbewusst.« Er gähnte wieder.
»Alter, bleib mit deinem Blasloch
auf dem Rücksitz. Schlaf einfach. Mit deinem ganzen Hirn.«
»Egal. Wichtig ist: Weiche nicht
von der Route ab. Felicia, hilf ihm dabei.«
Sie rieb sich die Augen. »Bah, ich
fühl mich echt Scheiße. Ich glaube, ich brauche Frühstück.« Felicia
stieg aus dem Auto und ging auf den Imbissbereich zu.
»Ich brauch was zu trinken«, sagte
Lance und machte seine Tür auf. »Schlaf du, Ian.«
»Ja.« Ian schloss die Augen und
lehnte sich zurück. Dann durchfuhr ihn ein Gedanke. »Oh, Lance, gib
mir mal meinen Lacai. Er liegt auf der Karte, die mit der Route,
von der …«
»… ich nicht abweichen darf.
Genau. Verstanden.« Lance gab Ian das Gerät. »Keine Abweichung. Und
beschränk deinen heißen Chat auf ein Minimum, Tiger. Schlaf
endlich. Du musst fit sein für deinen Auftritt.«
Die Bemerkung löste bei Ian einen
Panikschauer aus. Er wollte Danielle eine Mail schicken, aber dazu
musste er in den Falscher-Ian-Modus übergehen. Und der falsche Ian
machte sich keine Sorgen, ob er für seinen Auftritt womöglich nicht
fit sein könnte. Schreib einfach was Kurzes, was Flippiges,
sagte er sich. Teil ihr mit, dass du unterwegs bist. Aber nicht
zu aufgeregt. Sei nicht mal froh. Sei unverbindlich verbindlich.
Nicht zu nett. Was würde Lance schreiben?
Das müsste gehen. Er
starrte auf das Gerät in seiner Hand. Das war gruselig
genug.
Ian drückte sich den Lacai wie
einen Teddy an die Brust. Das Licht der aufgehenden Sonne kroch
über ihn, die Vögel zwitscherten und nach einer halben Minute war
er eingeschlafen.