11 Es war ein unruhiger Schlaf. Ians Gesicht
lag am heißen Schaumstoff des Donut-Kostüms, so dass er immer
wieder in einer kleinen Pfütze aus Spucke, Schokolade und Schweiß
aufwachte. Diese kurzen Momente walähnlichen Halbbewusstseins
vermochte er jedoch nicht zu nutzen, um festzustellen, wie Lance
vorankam. Er schob nur sein Gesicht auf eine trockene Stelle des
Kostüms und sackte wieder weg. Allerdings – wäre er in der Lage
gewesen, festzustellen, wie Lance vorankam, hätte ihm das gar nicht
gefallen.
Dann wachte Ian auf und hörte ganz
in seiner Nähe Lachen – hemmungsloses Lachen. Es klang wie Felicia
und Lance. Der Wagen bewegte sich nicht und schmorte in der Sonne.
Ian meinte, dieselben Vögel in denselben Bäumen zwitschern zu
hören. Aber das konnte nicht sein. Denn das würde bedeuten …
Sie hatten sich nicht
bewegt.
Ian schoss hoch und zwinkerte. Die
Kreatur stand immer noch auf derselben Stelle auf demselben
Parkplatz. Felicia und Lance saßen auf der Motorhaube und lachten.
Genauer gesagt, Felicia rollte sich, von Lachsalven geschüttelt,
auf der Motorhaube herum, während Lance ihr etwas vorlas.
Offensichtlich war das so komisch, dass der bevorstehende Verlust
von Ians Jungfernschaft zu warten hatte.
Wie lange habe ich
geschlafen?
Ians Puls raste. Er war vollkommen
wach.
Er langte nach vorne und drückte
auf die Hupe. Felicia purzelte erschrocken von der Haube, wobei
eine kleine Staubwolke aufstieg, als sie auf dem Boden landete.
Lance sprang von der Kreatur herunter und wirbelte herum. In der
rechten Hand hielt er Ians Lacai.
Ach du Scheiße.
Auf der Beifahrerseite tauchte
Felicias Kopf auf. Grinsend klopfte sie sich den Staub aus den
Sachen und kam näher. »Ian, wenn das Zeug, was wir gelesen haben,
nicht so irrsinnig komisch wäre, wäre ich echt sauer auf dich. Ich
meine, ich bin schon sauer – ›Schnucki‹. Aber ich wäre echt
stinkig, wenn’s nicht so komisch wäre.« Sie schüttelte den Kopf.
»Sehr traurig, aber auch sehr komisch.«
Scheiße.
Ians Ärger darüber, dass sie immer
noch auf demselben Rastplatz standen, war zum größten Teil
verflogen. Dafür schwamm er jetzt in einem Meer von Demütigung. Er
antwortete Felicia nicht. Es war so gut wie sicher, dass Lance und
sie seine Korrespondenz mit Danielle gelesen hatten, den ganzen
Haufen E-Mails voller Täuschungen, Absurditäten und
Schlimmerem.
Er sah, dass der Schlüssel in der
Zündung steckte. Er drehte ihn gerade so weit herum, dass die Uhr
Strom bekam. Es war 10:39. Er hatte lange vor Sonnabend, 10:39, in
Charleston sein wollen.
Aber stattdessen musste er sich
auf einen Hagel Spott gefasst machen. Geknickt stieg er aus dem
Wagen.
Lance stürzte sich auf ihn und
streckte ihm die linke Hand zum Abklatschen entgegen. »Ian, das ist
irre. Irre! Komisch und ein bisschen abgefahren – sogar für
meine Begriffe –, aber irre!« Er winkte mit seiner erhobenen Hand.
»Komm schon, schlag ein.«
Ian hielt ihm demütig, zögerlich
die Hand hin.
»Alter, das ist ja megakrass!«,
rief Lance und schlug zu. »Da denke ich, du hast so eine
verzweifelte, eierköpfige Schachclub-Tussie überredet, dass sie
sich von dir in ihrem Schlafzimmer befummeln lässt. Aber nein, Ian.
Du bist echt rangegangen. Das Mädchen hat tatsächlich
Potential.«
Ian fühlte sich geschmeichelt und
schämte sich. Fürchterlich. Felicia verzog ihr Gesicht und starrte
Lance an.
»Natürlich musst du ihm
gratulieren, du Sexbolzen. Du bist doch krank! Ich will dir mal was
sagen: Ian belügt diese Danielle – die übrigens völlig bescheuert
sein muss, wenn sie sich auch nur einen Hauch für diesen Typen
interessiert, den Ian ihr vorspielt – und dann belügt er uns, weil
er uns nicht sagt, dass er das Mädchen belügt.« Sie hielt inne,
blickte Ian an, dann wieder Lance. »Und du klatschst Ian ab, weil
er im Grunde allen die Hucke volllügt.«
Sie wandte ihnen den Rücken zu,
sozusagen als dramatische Unterstreichung ihrer Worte, wirbelte
aber gleich wieder herum. »Und muss ich noch erwähnen, dass er
seine Eltern belogen hat? Tja, hat er.« Dann spielte sie halbwegs
überzeugend Ians Rolle. »Oh, Mom und Dad, ich bin mit Lance und
Felicia in der Stadt … Oh, Lance und Felicia, ich bin am Totenbett
meiner Großmutter … Oh, Internet-Schneckchen, bin unterwegs. Und
ich bin so ein unglaublich cooler Typ. Zu cool für dich, Schnucki.
(Hast du das geschnallt? Ich habe dich ›Schnucki‹ genannt. Weil ich
so cool bin.) Aber egal, wenn du mit mir schläfst, dann können wir
schon ein bisschen zusammen abhängen und so.« Sie funkelte Ian
an.
»Eben hast du noch gesagt: ›Wenn’s
nicht so komisch wäre, wäre ich sauer‹«, sagte er verlegen. »Und
außerdem spreche ich nicht so durch die Nase.« Ian blickte Lance
an. »Tu ich doch nicht, oder?«
Lance zuckte die Achseln und
nickte.
»Tja«, sagte Felicia. »Ich glaube,
je mehr ich darüber nachdenke, wie du alle hinters Licht geführt
hast – was überhaupt nicht zu dir passt, oder jedenfalls hat es
nicht zu dir gepasst – keine Ahnung. Jetzt finde ich es nicht mehr
so lustig. Jetzt bin ich eigentlich nur noch stinkig.«
»Du musst zugeben«, versuchte
Lance einzulenken, »seine Methode hat gewirkt. Dass er sich als
Arschloch präsentiert hat. Hat total gut gewirkt. Die Braut steht
auf ihn. Darum geht’s bei solchen Sahneschnitten. Du musst ihnen
zeigen, dass du dich nicht einschüchtern lässt. Ein paar
Beleidigungen, ein paar krasse Bemerkungen – mehr ist gar nicht
nötig. Und jetzt ist diese Braut – diese fantastische, vollgeile
Braut – total scharf auf dich.«
»Diese Braut«, sagte
Felicia entrüstet, »weiß überhaupt nichts über Ian Lafferty. Weiß
sie, dass er Rocky III mit Sockenpuppen nachspielen kann?
Nein. Weiß sie, dass er, bis er, na, dreizehn war, mit einem
Plüsch-Stegosaurus geschlafen hat und dass sich dieser selbe
Stegosaurus immer noch verdächtig nah an seinem Bett aufhält? Nein.
Weiß sie, dass er in der Turnhalle immer der Letzte ist, der in
eine Mannschaft gewählt wird – und zwar nicht, weil er nicht
spielen kann, sondern weil er andauernd diskutieren muss und seine
Mannschaftskameraden nervt? Nein. Sie weiß nicht die Bohne von
Ian.«
Felicia holte tief Luft, dann
sagte sie: »Gott, ich glaube, ich muss kotzen.«
»Okay«, sagte Lance. »Kann sein,
dass ein paar Sachen, die er dieser Danielle gesagt hat, nicht so
toll sind. Aber ich bin immer noch stolz auf dich, Ian. Schließlich
kann er doch nicht von seinem Stegosaurus schwärmen und dann
erwarten, dass Frauen ihn fellationieren.«
»Ähm … bah.«
»Ach, jetzt hör doch auf.« Lance
wandte sich an Ian. »Es ist genauso, wie ich es dir gesagt habe:
Die Tour ›netter Junge‹ läuft selten. Okay, bei dieser
Wie-heißt-sie-noch-mal in Podunk, Indiana, da ging’s …«
»Susie? In Bodner?«, sagte
Felicia. »Hallo. Das war gestern. Und ihr Freund hätte dich beinahe
umgebracht.«
»… aber das lag nur an der
extraordinären Situation. Wenn sie nicht gerade mit diesem
verrückten Landei Stress gehabt hätte, hätte ich für nett
nicht mal ein Lächeln gekriegt. Normalerweise darfst du auf gar
keinen Fall nett sein, wenn du mit einer richtigen Sahneschnitte
eine Beziehung aufbauen willst. Und auf gar keinen Fall darfst du
so sein, wie du bist, wer immer du bist. Ob ich das bin oder
Orlando Bloom, Flava Flav – spielt keine Rolle. Wer immer du bist,
du musst einfach ein bisschen arschiger sein.«
»Das ist doch krank«, sagte
Felicia. »Wie oft erzählst du ihm solche Sachen, Lance? Du
empfindest nicht wirklich was für Frauen, oder? Du betrachtest
unsereins nur als Penis-Behälter, was? Frauen sind nur dafür da,
dass du Klein Lance reinstecken kannst?«
»Okay, die Nummer mit Klein Lance
ist überflüssig. Und herabsetzend. Und nein, ich bin nicht nur
darauf scharf, meinen Penis irgendwohin zu stecken. Wenn das der
Fall wäre, würde ich mir eine von diesen lebensgroßen aufblasbaren
Puppen anschaffen.«
»Vielleicht ist eine Gummipuppe
intellektuell zu anspruchsvoll für dich, Lance. Die Dinger sind den
von dir bevorzugten Mädchen nämlich einen Tick überlegen«, sagte
Felicia.
»Also, ich nehme keinen IQ-Test
vor, bevor ich mich an ein Mädchen ranmache. Egal. Ich bin kein
elitärer Snob. Und ich mach auch nicht mit Mädchen rum, um mein
Selbstbewusstsein zu stärken.« Er hielt inne. »Ich bin im Prinzip
genau wie alle anderen, glaube ich.« Er blickte auf seine Füße,
dann wurde er etwas weicher. »Hör zu, ich würde gerne die richtige
Frau finden. Ich würde gerne eine feste Beziehung haben. Ich würde
gerne jemanden haben, mit dem es richtig stimmt – wo alles … ich
weiß nicht – einfach passt.« Er machte noch eine Pause. »Und
damit meine ich nicht, dass mein Penis passt, Felicia. Damit wir
uns richtig verstehen.«
Sie kicherte fast gegen ihren
Willen. »Was ist mit all den Mädchen, die du fallen lässt – nachdem
du was-auch-immer mit ihnen angestellt hast –, wenn du merkst, dass
es nicht ›passt‹? Verschwendest du auch nur einen Gedanken an
sie?«
»Ja, doch. Klar tu ich das.
Jedenfalls hoffe ich, dass ich ihnen vielleicht zu ein paar netten
Erinnerungen verholfen habe.«
Felicia blickte Lance unfreundlich
an. »Krank ist das«, sagte sie schließlich.
»Aber, ähm, trotzdem … können wir
noch mal über Ian reden?«, stammelte Lance. »Ich finde es immer
noch total daneben, dass du uns belogen hast.«
»Richtig«, sagte Felicia.
»Ich weiß.« Ian seufzte. »Ihr habt
vollkommen recht. Und es tut mir leid, dass ich nicht aufrichtig
gewesen bin. Dass ich nicht die Wahrheit gesagt habe. Das heißt, es
tut mir leid, das ich euch gestern bei Walgreens nicht die
Wahrheit gesagt habe, als ich mich dafür entschuldigte, davor nicht
die ganze Wahrheit gesagt zu haben. Auch das tut mir sehr leid.« Er
seufzte. »Das bin nicht ich. Wirklich nicht.«
»Aber es klappt«, sagte
Lance.
»Ich weiß auch nicht, Felicia. Ich
hab einfach so rumgemacht. Ich hab nicht geglaubt, dass das mit
Danielle so weit gehen würde. Ehrlich. Es ist nur, also, je fieser
ich war, desto mehr mochte sie mich. Und ich bin echt nicht dran
gewöhnt, dass sich scharfe Mädchen für mich interessieren. Es sei
denn, sie bestellen Donuts. Was, wie sich herausgestellt hat,
scharfe Mädchen gar nicht so oft tun.«
»Also echt«, sagte Lance. »Du
sagst, was du zu einem Mädchen sagen musst, damit du dahin kommst,
wo du hinwillst. Du musst dich vom Rudel unterscheiden. Ich habe
einmal einer Braut gesagt, ich wäre ein Austauschschüler aus Ghana.
Hab mit Akzent gesprochen und allem.«
»Hat sie dir das
abgenommen?«
»Nein. Sie hat gesagt, ich würde
sie bescheißen. Es hat sich herausgestellt, dass Leute aus Ghana
keinen australischen Akzent haben. Wer hätte das wissen können?
Aber das Ding ist, du tust, was du tun musst – und du sagst, was du
sagen musst –, um das Mädchen zu kriegen. Also, mir gefällt, wie du
an die Sache rangegangen bist, Ian.«
»Das ist so was von abscheulich,
Lance«, sagte Felicia.
»Mensch, wenn ich alle meine
Bemühungen, ein Mädchen aufzureißen, mit dir abgecheckt hätte, dann
würde ich nur an so oberschlauen Punk-Rock-Freaks hängen bleiben
oder an Mädchen, die innerlich schön sind. Aber für mich
sollen sie nicht nur da schön sein.« Lance versetzte Ian einen
leichten Schlag auf die Schulter. »Ich bin froh, dass mein Rat
gefruchtet hat. Ich bin gerührt. Es gefällt mir, wie du das Mädchen
gezielt auf Distanz gehalten hast, aber ihr gerade so viel falschen
Ian gezeigt hast, dass sie drangeblieben ist. Du bist gut. Aber bei
ein paar Sachen liegst du ganz schön daneben. Da ist allerhand
verrücktes Zeug bei.« Lance winkte mit dem Lacai.
»Zum Beispiel?«
»Na, dieser ganze Scheiß mit der
Nordwestern-Uni.«
»Das ist nicht verrückt. Ich habe
die entsprechenden Noten. Ich habe die Prüfungsergebnisse. Ich bin
kein Blödkopf.«
»Und auch kein
Football-Spieler.«
»Oh«, sagte Ian. »Das.«
Ian klickte durch die E-Mails und
SMS, dann las er vor: »Muss los, Schnucki. Football-Training um
drei.« Er klickte weiter. »Keine Zeit. Gehe mit den O-line-Spielern
ein Bier trinken.« Weiterklicken. »Training Scheiße. Alles tut weh.
Aber Schmerzen sind für Musch…«
Ian riss Lance den Lacai aus der
Hand.
»Okay, das reicht!«, sagte
er.
»Auf welcher Position hast du
gespielt, Tiger?«, fragte Lance grinsend.
»Kicker könnte ich
spielen«, sagte Ian mit Blick auf seine dünnen Arme. »Aber ich muss
zugeben, im Nachhinein klingt das wirklich ein bisschen blöd.
Vielleicht sehr blöd. Aber ich habe nie erwartet, diesem Mädchen
wirklich zu begegnen. Das war bloß ein Spiel. Fast ein
Experiment.«
»Tja«, sagte Felicia. »Das
Experiment hat uns alle drei hierhergebracht. In die totale Pampa,
ähm … wohin? Sind wir noch in Tennessee? Oder haben wir es schon
bis North Carolina geschafft? Wo immer wir sein mögen, es sind
ungefähr tausend Grad. Und ich fühl mich total Scheiße.« Sie verzog
ihr Gesicht. »Ich hoffe, dir geht’s genauso, Ian.«
»Schon. Aber, weißt du, ähm … Ich
habe versucht, euch aus der Sache rauszuhalten.« Er blickte Lance
an. »Apropos North Carolina. Warum sind wir immer noch hier? Ich
bin für ein paar Stunden abgetreten. Du wolltest fahren. Wir
sollten in South Carolina sein. Ich sollte bei Danielle sein und
wer weiß was tun.«
»War nicht meine Schuld, Alter«,
sagte Lance. »Ich schwöre. Hier gab’s keine süßen Bräute. Nur
fette, griesgrämige Fernfahrer. Aber Felicia hat sich nicht
wohlgefühlt.« Lances’ Stimme wurde zu einem Flüstern. »Eine kleine
Verdauungsstörung – das große D, Ian. Viele Besuche der Toilette.
Nicht schön. Sie war nicht reisefähig.« Lance sprach wieder mit
normaler Stimme. »Also haben wir beschlossen, ein bisschen zu
chillen, was zu essen zu holen, damit ihr Magen sich beruhigen
kann. Und dann, na ja, da lag dein Lacai.«
»Auf mir drauf.«
»Richtig. Ich meine, er hätte
leicht runterfallen können. Oder so. Also habe ich ihn an mich
genommen.« Er hielt inne. »Ich habe mich gelangweilt. Und ich war
neugierig. Und, du weißt schon, Felicia hat so gestöhnt. Also habe
ich angefangen zu lesen.«
»Aber woher weißt du mein
Passwort?«
»Dazu braucht man nicht unbedingt
ein Hacker zu sein, Ian. Es war etwa die dritte Figur aus Star
Wars, die ich eingegeben habe.«
»Oh.«
Ian verstummte. Er guckte im Lacai
nach einer neuen Nachricht, fand aber keine. Er schickte schnell
eine SMS.
BIN EINGESCHLAFEN. UPS. HAB 8,
SCHNUCKI. BB …
Wenn Danielle mich nun schon
aufgegeben hat? Wär wahrscheinlich vernünftig. Und wenn sie vor
diesem Besuch genauso viel Schiss hat wie ich? Was wenn … ach,
egal. Jetzt bin ich schon so weit gekommen.
»Fahren wir weiter«, sagte er.
»Ich fahre. Felicia, wenn dir immer noch kotzig ist, dann sollten
wir dir was mit Kohlensäure zum Trin…«
Wie aufs Stichwort beugte sich
Felicia vor, hielt sich am Kotflügel der Kreatur fest und
kotzte.