18

 

 

Natürlich hatte König Genod die Schmutzarbeit nicht selbst gemacht. Er war schließlich der König. Er hatte das Yrium. Er würde nicht zu mir kommen. Also mußte ich zu ihm gehen.

Das stand fest.

Ich glaube, die Verzweiflung und Frustration, die mich als Gadak der Überläufer erfüllten, habe ich bisher nicht ausreichend deutlich gemacht. Jede Faser meines Körpers verlangte, ich solle mich von diesem Ort des Bösen lösen, ich solle das Auge der Welt verlassen. Doch ehe ich diese ersehnte Erlösung finden konnte, mußten die Krozairs von Zy mich wieder in ihren Reihen aufnehmen. Das Hai Jikai erschien mir der einzige Weg zu diesem Ziel zu sein.

Um ehrlich zu sein, als die Tage verstrichen und die Sonnen durch den Himmel wanderten und die Dienstzeiten kamen und gingen, hatte ich zuweilen wenig mit den Krzy im Sinn. Ich wollte sie lediglich für meine Flucht mißbrauchen. Wenn sich das brutal, rücksichtslos und gemein anhört, so muß ich diese Eigenschaften eben auf mich beziehen, zu meiner Schande.

Manchmal sah ich meine Frau der Sterne im Park zwischen den Gebäuden des Jadepalastes ausreiten. Wenn sie meiner ansichtig wurde, neigte sie anmutig den Kopf, der stets von dem grünen Schleier verhüllt war.

In solchen Momenten spürte ich den winzigen goldenen Valkavol, den ich an einer goldenen Kette um den Hals trug. Im Grunde mochte ich Ketten und Schnüre nicht; sie geben einem Gegner Gelegenheit, zuzugreifen und einen aus dem Gleichgewicht zu bringen. So trug ich die Kette nur, wenn ich keinen Wachdienst hatte.

Von Zeit zu Zeit focht ich mit Gafard im Exerzierhof. Er war sehr gut. Er vermochte mit dem Kurzschwert umzugehen, und gegen seinen Genodder mußte ich mir größte Mühe geben, einigermaßen anständig zu verlieren.

Dann kam die große Ankündigung, der sofort die hektischen Vorbereitungen folgten. Wir wollten in die Ferien fahren und Guamelga besuchen, Gafards riesige Besitztümer am Dag-Fluß.

Ich bat Gafard, mich von der Mitreise zu entbinden. Nicht, daß ich mir keinen Urlaub gewünscht hätte. Vielmehr wollte ich in Magdag bleiben und an meinen Plänen gegen König Genod arbeiten. Ich wollte den mächtigen Mann gefangennehmen und an einem sicheren Ort unterbringen. Dasselbe mit Gafard zu tun, so nahm ich an, würde mir dann nicht mehr schwerfallen.

»Was, Gadak?« fragte Gafard erstaunt. »Du willst dir diese Abwechslung entgehen lassen?«

»Wenn es dir recht ist, Gernu.«

»Ist es mir nicht. Meine Frau der Sterne begleitet uns. Ich brauche alle meine treuen Männer.«

So blieb mir nichts anders übrig, als mitzureiten. Ich konnte ja auch Gafard zuerst festsetzen und mich dann um den König kümmern. Allerdings war es auf diese Art schwieriger.

Als wir es versäumten, das kleine zweisitzige Flugboot zu erobern, hatte ich mich geärgert; jetzt sah ich darin einen enormen Vorteil. Das Boot konnte uns drei tragen, dafür würde ich schon sorgen. Die Flugkraft, die von den beiden Silberkästen ausging würde ausreichen. Wenn es nicht anders ging, würde ich die beiden Teufel an einem Seil über Bord hängen und im Flugwind frieren lassen ...

Nachdem diese Entscheidung gefallen war, ließ ich die andere Sache auf mich zukommen. Ich würde mich als Mann gebärden müssen, der sich über den Ausflug, die Picknicks und die Jagden freute. Man war entschlossen, jeden Augenblick zu genießen. Wir alle rechneten damit, daß es der letzte Urlaub sein würde, ehe Gafard, der Kämpfer des Königs, von seinem Herrn auf eine neue Mission geschickt wurde.

Ehe wir Magdag verließen, erkundete ich ein letztesmal die Paläste des Königs. Er besaß viele Wohnsitze in Magdag, wobei der größte und prachtvollste, der Palast Grodnos des Allwissenden vorwiegend offiziellen Anlässen vorbehalten war. Wenn meine Pläne funktionieren sollten, mußten zwei Dinge zusammentreffen. Der zweisitzige Voller und der König mußten sich zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst am Ort befinden. Jede andere Ausgangsposition wäre sinnlos gewesen.

Der geniale König legte großen Wert auf fachmännischen Schutz. Das war mir bekannt.

Nachdem er die alten Oberherren Magdags besiegt und die Macht übernommen hatte, war so mancher Anschlag gegen ihn geplant worden. Die Oberherren sind ein heimtückischer Haufen. Doch er hatte die unruhige Zeit überstanden und hielt nun seinen Apparat aus Wächtern und Wachablösungen und Werstings in Schuß, denn sein Genie gab ihm zweifellos ein; daß diese Handlungsweise geraten war.

Der nächste Palast, bei dem ich mich umsah, der Palast der Masken, erschien mir vielversprechend. Die Baulichkeiten waren klein – so klein, wie ein Palast in Magdag nun einmal sein konnte. Er befand sich auf einem Hügel im Osten der Stadt, innerhalb der Stadtmauern, und war aus gelben Steinen errichtet. Umgeben war der Palast von Blumen und blühenden Bäumen, wie sie im kahlen Magdag sonst nicht zu finden sind. Ich beobachtete die Wachen und Wachhäuser, beäugte die Dächer rechnete Winkel aus und legte mir mögliche Aufstiegs- und Abstiegswege zurecht. Wenn sich Voller und König hier gleichzeitig aufhielten, wollte ich zuschlagen.

Auf dem Rückweg überlegte ich, wie es der kleinen Shishi beim König ergangen sein mochte. Wenn sie vernünftig war, mochte sie es bei Genod weit bringen, mochte sie sogar Shusheeng gefährlich werden.

An diesem Abend herrschte ein fröhliches Treiben im Jadepalast; die Reisevorbereitungen waren in vollem Gange. Opaz weiß, die Oberherren Magdags waren ein bösartiger Haufen, doch selbst für sie und ihre Frauen waren Ferien ein Anlaß zur Freude. Wir, die Männer der treuen Wache, würden in voller Rüstung und Bewaffnung reiten. Ich hatte vor einigen Tagen auf dem Markt der Trophäen einen guten Fang getan; in dieser Gasse wurde im Grunde nur Beutegut, vornehmlich zairischer Herkunft, verkauft. An einem Stand hatte ich eine südzairische Hlamek gefunden, eine Wind-und-Sand-Maske der Völker, die am Rande der gewaltigen Wüsten Süd-Turismonds leben. Die Maske bestand aus einer Metallhaube, einem wunderschön getriebenen Eisenstück, mit einer weichen Masse als Polsterung. Oben links war ein breites Seidenstück so angebracht, daß die linke Hand die Ecke nehmen und auf der rechten Seite festmachen konnte. Auf diese Weise war das Gesicht unterhalb der Augen bedeckt. Die Vorrichtung bot einen erstklassigen Schutz gegen Wind und Sand und war weit genug, um nicht unbequem zu sein. Ich konnte nicht an der Maske vorbeigehen.

Die Hlamek wanderte also in meine Satteltasche, zusammen mit meinen Toilettenartikeln, dem Buch, das ich gerade las (Wie der Ghittawrer Gogol Gan Gorstar zehn Königreiche Zairs zum Ruhme Grodnos eroberte), meinen Eßgeräten und der goldenen Trinkschale aus dem Satz, die von der Frau der Sterne an ihre Retter verschenkt worden war.

In schimmernder Prozession ritten wir schließlich am nächsten Morgen aus der Stadt, wenige Murs nachdem Zim und Genodras über den östlichen Befestigungsanlagen aufgetaucht waren. Jede Sectrix war gestriegelt, die Mähnen waren geflochten und mit grünen Bändern herausgeputzt, die Hufe schimmerten frisch geölt und poliert, die Geschirre leuchteten in der Sonne. Grüne Banner flatterten. Nach dem Lord kamen Personal und Gefolge, Adjutanten, die Leibwache. Die Oberherren, die ihm verpflichtet waren, ritten mit ihren Frauen und Kindern mit. Es schloß sich die lange Kette der Wagen voller herrlicher Dinge an. – Dann die Calsanys, beladen mit riesigen schwankenden Packen, mit grünen Tauen an Kopf und Schwanz zusammengebunden.

Ja, wir boten ein großartiges Schauspiel, als wir das böse Magdag verließen.

Obwohl der langsame Mag-Fluß für eine Bootsfahrt geeignet war, hatte sich Gafard für einen Ritt entschieden. Wir konnten die weiten Krümmungen des Flusses abkürzen und die Fährverbindungen benutzen, die auf diesem direktesten Weg in den Norden zur Verfügung standen. Nachdem wir das Delta verlassen hatten, konnten wir nach Nordwesten abbiegen, den Fluß verlassen und durch das fruchtbare Gebiet marschieren, vorbei an den endlosen Fabrikfarmen, die von den Oberherren der zweiten Klasse tadellos in Schuß gehalten wurden. Dann weiter, bis wir Guamelga erreichten, das sich in eine große Flußbiegung schmiegte.

Hikdar Nath ti Hagon erhielt die Erlaubnis, uns zu verlassen und seiner Heimatstadt im Osten einen Besuch abzustatten. Er würde später in Guamelga wieder zu uns stoßen.

Mitten in unserer bunten Gruppe ritt die Frau der Sterne; sie war wie ein Krieger gekleidet. Gafard wich selten von ihrer Seite. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich in der Menge zu halten und weiter über meinen Plänen zu brüten.

Die Stadt Guamelga war klein und voller steiler Dächer und zeichnete sich nicht weiter aus. Sie hatte eine Schutzmauer, denn sie lag so dicht an der Grenze zu den Ugas, daß Überfälle alltäglich waren. Die eckige Masse des Schlosses, des Goytering, überragte die Siedlung. Wir hielten uns nicht lange in der Burg oder in der Stadt auf, denn Gafard wollte sich so schnell wie möglich aller Sorgen entledigen. So zogen wir bald weiter aufs freie Land, weg von den kultivierten Zonen, und kampierten in einem seiner Jagdhäuser. Das erwählte Haus trug den Namen ›Zhantils Nest‹. Ein gemütliches Haus im aufgelockerten Waldgebiet, mit einem Blick auf hohe weite Grasländer. Natürlich konnte hier nicht die gesamte Begleitung unterkommen, doch ich gehörte zu denen, die bei ihm bleiben mußten. Dies freute mich. Ich wollte den Kerl im Auge behalten.

In den nächsten Tagen gingen wir auf die Jagd. Es gab alle Arten von Wild – Leems und Chavonths und einmal zwei jagende Lairgodonts. Die Jagdgruppe war zahlreich genug, um mit diesen Gegnern fertig zu werden. Triumphierend brachten wir die Trophäen nach Hause.

Die Magdager haben nicht viel für das Singen übrig. Natürlich singen sie, und wir hatten an manchem Abend um das Feuer gesessen und ein paar Töne geschmettert. Doch es ist eine Tatsache, daß die magdagschen Swods unterwegs im Felde gewöhnlich nur zwei oder drei Lieder anstimmen; ihnen liegt nicht daran, das Repertoire zu erweitern. Das beliebteste Lied dieser drei ging mir ganz besonders auf die Nerven. Im Takt der marschierenden Füße geht der Text so: »Ob! Dwa! So« (Eins, zwei, drei!), gefolgt von einem dummen Vers über Genodras oder Goyt oder Gyphimedes oder Grodno. ›Ob, dwa, so‹ schien mir als intellektueller Ausgangspunkt für ein Lied doch etwas dürftig zu sein. Doch schließlich besteht eine Welt aus vielen Wesen, und besonders Kregen. Es war geistreicherweise als »Obdwa-Lied« bekannt.

Als irgendein Idiot in dem mit Holz ausgekleideten Eßraum die Melodie anstimmte, stand ich auf und schwankte dabei ein wenig, um meine Rolle als Betrunkener zu unterstreichen. »Ob dwa so«, sangen sie. »Wir sind ein blutrünstiger Haufen, Gashil sei unser Zeuge! Ley, Waso, shiv, wir schneiden Kehlen durch und leeren Geldbörsen. Shebov, ord ...«

Ich ging in den Flur hinaus und machte mich auf den Weg zur Küche, um frisches Wasser aus der Pumpe zu trinken.

Am anderen Ende, bei den Herden und den Anrichtetischen, war der Raum hell erleuchtet, doch an meinem Ende lagen Schatten. Ich hörte ein Geräusch, das sich nach einem Scharren anhörte, legte die Hand auf mein Kurzschwert und schlich vorsichtig weiter. Dann vernahm ich eine leise Stimme, die ein bekanntes Lied sang.

Es ist unmöglich, ein Lied als Gedicht aus dem Kregischen zu übersetzen. Frei übertragen lautete der Text so: »Wenn euer Ruderer den Dreh bekommt, Freunde, dreht ihr euch im Kreis, im Kreis. Die Ramme trifft das Heck, oje, die Ramme trifft das Heck. Ihr verschwindet wie ein See-Gespenst, Dom, bald werdet ihr Seegespenster sein ...«

Hier endete der leise Gesang, und dann hörte ich das bösartige Singen von Stahl, der aus der Scheide gezogen wurde.

Eine scharfe Stimme fragte: »Wer da?«

Auf diese formelle Frage antwortete ich: »Nur Gadak der Überläufer.«

Ich hatte die Stimme längst erkannt und wußte auch, wie das Lied »Der Ruderer mit dem Dreh« weiterging – sehr unangenehm für die Grünen Grodnim und sehr positiv für die Roten von Zair.

Ich trat ins Licht.

Wenn Gafard jetzt Schwierigkeiten machen wollte, so war dies ein Augenblick, der mir nicht gerade paßte, doch ich würde es schon irgendwie hinbekommen. Ich sah die Silberspiegelung an seiner Klinge entlanglaufen.

»Gadak! Du hast mich gehört?«

»Ich habe ›Ob, dwa, so‹ gehört, Gernu. Das ist alles.«

Die Klinge verschwand in der Scheide.

»So soll es ein.« Das Anstoßen seiner Zunge war kaum zu bemerken.

Ich enthielt mich einer förmlichen Äußerung über meine Treue und sagte statt dessen: »Ja, es ist manchmal schwer.«

Er ging nicht darauf ein.

Vielmehr antwortete er mir mit Worten, die mir zeigten, daß er darüber nachgedacht und sich damit abgefunden hatte: »Ich bin Gafard, Rog von Guamelga, Kämpfer des Königs, Meeres-Zhantil. Nur wenige Männer können solche Ehren auf sich vereinigen. Du tätest gut daran, dir klarzumachen, wer dein Herr ist, Gadak der Abtrünnige.«

Meine Hand blieb ruhig und entspannt, bereit, den Genodder zu ziehen.

»Du hast mir einmal gesagt, daß mich kein anderer Oberherr so behandeln würde wie du. Das glaube ich gern. Wärst du ein normaler magdagscher Oberherr, wäre einer von uns bereits tot.«

Lächelnd trat er ins Licht. »Wenn das so wäre, glaube ich, daß du jetzt in deinem Blut auf dem Küchenboden lägest.«

»Aber du hast nicht zugeschlagen.«

»Meine Dame hat gesagt – und ich staune darüber ...« Er gab seiner Stimme einen schärferen Klang. »Sie mag dich, Gadak. Allein aus diesem Grund hätte dich so mancher Oberherr sofort beseitigt.«

»Aber die Sache mit dem König ist beunruhigend.«

»Ich habe dir schon einmal gesagt«, antwortete er stirnrunzelnd, »daß dich das nichts angeht. Mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Mehr nicht – bis zum nächstenmal.«

»Dein Verhalten könnte man schon fast unverschämt nennen.«

»Ich spreche nicht mehr davon. Ich diene dir und deiner Dame. Du weißt, daß das die Wahrheit ist.«

»Es ist jetzt im Augenblick die Wahrheit, das weiß ich. Es soll auch die Wahrheit bleiben.«

Wenn ich ihn jetzt bewußtlos schlug, würde ich große Mühe haben, ihn nach Magdag zurückzuschicken und dort den König und den Voller zu entführen. Es war besser, als erstes den König und den Voller zu sichern, wie geplant, und Gafard bis zuletzt aufzuheben.

Während ich in der Küche vor ihm stand, überlegte ich, welch gefährliche Macht er doch besaß.

»Wann, Gernu, kehren wir nach Magdag zurück?«

»Du hast genug von diesen Ferien? Aye, der Reiz läßt nach.« Gafard streckte sich und gähnte. »Viel lieber habe ich die Planken eines Ruderers unter den Füßen, viel lieber ist mir der Angriff als Führer des Bugkommandos, der Kampf nach dem Zustoßen des Rammsporns – aye! Das ist das wahre Leben!«

»Ja«, sagte ich und glaubte damals an diese Worte.

»Wir werden das Auge der Welt befahren, Gadak. Wir werden so manchen Großen Jikai vollbringen! Bald werden die Menschen vergessen, daß es Pur Dray jemals gegeben hat – er wird nichts anderes sein als ein Name, der mit Pur Zydeng untergegangen ist, der größte Krozair der letzten fünf Jahrhunderte. Er wird tot sein wie der große Ghittawrer Gama der Gierige, der vor tausend Jahreswenden zu den Eisgletschern Sicces einging. Aye!«

»Und doch sprichst du immer wieder vom Lord von Strombor, Gernu. Ich weiß, daß du ihn nicht fürchtest. Doch dein Interesse erstaunt mich. Nicht Pur Dray fasziniert mich, sondern deine Faszination an diesem Mann.«

Er hatte das hochherrschaftliche Gehabe vergessen. In seinen Augen stand der verlorene Blick eines Mannes, der im Meer versinkt.

»Der Lord von Strombor war der größte Krozair dieser Zeit. Größer als jeder magdagsche Ghittawrer. Ich würde gern unter Beweis stellen, daß ich ihm ebenbürtig bin – aber da ist noch mehr. Diese Sache zwischen uns – ich spreche nur zu dir darüber, weil meine Dame dich mag. Morgen wird es mir wohl leid tun, und du solltest in Furcht leben, daß ich dir dafür den Kopf nehme.« Ich erkannte, daß er nicht nur beschwipst, sondern richtig betrunken war, etwas, das ich an diesem Mann bisher noch nicht beobachtet hatte. Jedenfalls war seine Zunge gelockert.

Seine unwichtigen Probleme erfüllten mich mit Zorn. Vielleicht hätte ich in meiner dummen Arroganz aufbegehren sollen: Schon gut! Du dummer Onker! Ich bin Pur Dray, und was ist das für eine Sache, die uns beide betrifft? Aber ich tat es nicht. Ich glaube auch nicht, daß es einen Unterschied gemacht hätte.

Wahrscheinlich hätte er mir sowieso nicht geglaubt.

Er richtete sich auf und ließ die linke Hand auf den Griff seines Langschwerts klatschen. »Genug von dem Küchengerede! Ich habe mich hierhergesetzt, um ... einer kleinen Eigenart zu frönen. Von den Leuten da draußen habe ich genug. Bring mich in mein Zimmer.«

»Aye, Gernu.«

Wir stiegen über die Hintertreppe in seine Gemächer im Zhantils Nest hinauf. Die Räume waren erlesen ausgestattet und mit zahlreichen Jagdtrophäen verziert. Durch eine Innentür gelangte man in die Gemächer der Frau der Sterne.

Gafard ließ sich in einen Stuhl sinken und rief laut nach Wein.

»Du, Gadak der Abtrünnige, bist du jemals außerhalb des Auges der Welt gewesen? Draußen in den unbekannten, unvorstellbaren Ländern?«

Ich schenkte ihm Wein ein und dachte über die Frage nach. »Ja, Gernu«, sagte ich dann.

»Ah!« Er nahm das Glas. »Du hast meine Dame niemals gesehen – ehe du mich kennenlerntest?«

»Nein. Ich schwöre es.« Dieses Thema konnte gefährlich werden. »Ich respektiere sie aus vollem Herzen.«

»Und sie hat eine Schwäche für dich. Dein Kampf gegen die Lairgodonts hat sie sehr beeindruckt. Das war ein Jikai. Du hast Zonen betreten, die kein Mann zuvor betreten durfte – und bist am Leben geblieben.«

»Ich bin ein ganz normaler Mann. Ich weiß, daß die Dame tiefe Zuneigung für dich empfindet. Meinst du, ich würde ...«

»Was, du, Gadak?« Er trank aus, lachte und ließ das Glas an der Wand zersplittern. »Nein, Gadak. Ich durchschaue dich. Du bist ein aufrechter, korrekter, loyaler Mensch. Du weißt, auf welcher Seite der Brotscheibe sich die Butter befindet. Bei mir hast du die Chance, Karriere zu machen. Vielleicht bist du bald ein Ghittawrer.«

»Wenn nicht Nodgen der Getreue vorher meinen Kopf für den König fordert.«

»Nein. Die Gefahr besteht nicht. Der König und ich – wir spielen dieses Spiel, doch für ihn ist es mehr eine Spielerei. Für mich ist der Einsatz zu hoch. Ich wüßte nicht, was ich täte, wenn mir das Mädchen genommen würde ...« Wie um selbst seine Worte zu übertönen, brüllte er nach frischem Wein.

»Sie darf nicht in die Hände des Königs fallen.« Er trank einen tiefen Schluck. Nie zuvor hatte ich ihn betrunken erlebt; jetzt stand er dicht davor – eine interessante Entwicklung. »Das darf nicht geschehen. Er würde tun, was ich tun sollte, und was ich beim Grünen Grodno, nicht tun kann, nicht tun will – niemals!«

Mir war klar, daß ihn etwas belastete. Als Renegat war er kein vollwertiges Mitglied im Kreis der Oberherren. Er glaubte an den König, konnte sich aber in dieser Angelegenheit nicht an Genod wenden. Er war von dem verzweifelten Wunsch beseelt, sich jemandem anzuvertrauen, ein ganz natürlicher Drang. Wenn er es mir erzählen wollte – würde das meine Lage festigen, oder mich völlig vernichten? Ich rechnete eher mit dem Schlechteren. Dennoch faszinierte mich dieser Mann. Ich spürte die Anziehung, die er trotz seines bösen Kerns ausübte. Er war ein sterblicher Mensch, wie ich. Er würde für seine Verbrechen bezahlen müssen. War denn der Wechsel von Rot nach Grün eine so große Sache – außer am Binnenmeer? So wie ich ihn jetzt kannte, fiel es mir schwer, ihn so zu verurteilen, wie zu Anfang unserer Bekanntschaft.

»Gib mir eine Antwort, Gadak. Was ist wichtiger, das Wohl deiner Frau oder das Wohl deines Landes?«

»Darauf gibt es viele schnelle Antworten, doch ist jeder Fall anders gelagert.«

»Aber wenn es um dich ginge – dich! Deine Antwort!«

»Niemand kann darauf antworten, wenn er nicht die Situation kennt.«

»Weißt du, daß meine Frau der Sterne und ich verheiratet sind? Nein – nur wenigen ist das bekannt. Grogor weiß es. Wir haben geheiratet. Doch nicht nach den Riten Grodnos ...« Er griff nach seinem Glas und verschüttete den größten Teil des Weins, ohne es zu bemerken.

»Der König würde eine legale und besiegelte Ehe respektieren.«

»Fambly! Er hat das Yrium! Und die Riten waren nicht die Riten Grodnos.« Er lachte leise. »Wir haben sogar zwei Feiern abgehalten, doch keine war nach den Grodnim-Vorschriften.« Er trank aus und ließ das Glas durch die Finger gleiten.

Ich glaubte, ein kleiner Stoß könne ihn wieder zur Vernunft bringen. Für eine so mächtige Persönlichkeit ließ er sich zu sehr gehen, ließ er sich von dem Problem, das ihn quälte, viel zu sehr aushöhlen. Folglich konnte es sich um keine gewöhnliche Sache handeln. Ich wählte meine Worte vorsichtig.

»Wenn es dem König gelänge, die Dame zu entführen, würden deine Männer für ihre Rückkehr kämpfen? Wenn es geschehen wäre, würden sie einen Verrat gegen den König riskieren? Würde ihre Treue gegenüber dem König in einer solchen Situation nicht die persönliche Treue zu dir überwiegen?«

Vergeblich versuchte er aufzustehen; schweratmend sank er zurück. »So beantwortest du also meine Frage nach der Treue zu der Dame und der Treue gegenüber dem Land!«

»Das solltest du besser wissen! Wenn dies der Sachverhalt ist, dann ...«

»Es ist so! Grogor würde für mich gegen den König eintreten, das weiß ich. Und ich erwählte dich, weil ich dachte, du würdest loyal sein – selbst wenn ich es nicht konnte, weil der König eben das Yrium hat, selbst wenn ich nicht ... du ...«

Wenn das sein Problem war, konnte eine Notlage die Entscheidung schnell herbeiführen.

Als habe Drig mich gehört, öffnete sich in diesem Augenblick die Tür, und Grogor stürzte herein. Er sah gespenstisch aus. Gafard und ich wußten sofort, was er sagen würde. Mit einem Aufschrei fuhr Gafard hoch und zog sein Schwert.

»Gernu! Sie ist fort! Stikitches! Mörder mit Metallgesichtern, Berufsverbrecher ... Sie reiten zum Volgodonts Horst!«

Volgodonts Horst war ein Jagdhaus, das sich etwa drei Burs entfernt im Wald erhob. So etwas hatten wir nicht vorausahnen könne.

Gafards Gesicht wirkte eingesunken und aufgedunsen zugleich. Seine Augen funkelten unheimlich. Er keuchte und rang nach Atem. Ich hielt ihn fest und drängte ihn vorsichtig auf seinen Stuhl. Grogor stand halb vorgebeugt und erwartete eine Flut von Schimpfworten. Gafard krächzte böse, harte Worte, wie Pfeile von einer Armbrust.

»Wir müssen reiten, Grogor! Laß die Sectrixes satteln! Ruf die Männer zusammen! Wir müssen reiten wie Zhuanmar vom Sturm!«

»Lieber solltest du dich an Makki-Grodno wenden, Herr ...«

Ich wußte, was er meinte. Makki-Grodno war der Himmelsgott der Zugtiere Magdags. Trotz seines Geredes hatte er also den Test nicht bestanden.

Aber Grogor sagte: »Der König hat deine Dame entführt, und sie gehört jetzt ihm. Er ist der König, er hat das Yrium. Die Männer hatten für dich gekämpft – haben für dich gekämpft, Herr –, solange sie dir rechtmäßig gehörte. Jetzt gehört sie rechtmäßig dem König. Niemand erhebt die Hand gegen den König.« Dann richtete sich der stämmige, schwitzende Mann auf. »Ich würde es tun, mein Lord. Möchtest du, daß ich allein gegen den König reite?« Seine Worte wogen schwer. Gafard wirkte niedergeschmettert. Die Kraft und der Mut verließen ihn. Mitleid mit der Frau der Sterne erfüllte mich. Offensichtlich war es der kleinen Shishi nicht gelungen, den König zu überzeugen. Spione hatten dann das übrige getan.

Es hatte keinen Sinn, ihm meine Dienste anzubieten. Wenn Gafard sich zusammennahm, wenn Grogor mitmachte, stünden wir nur zu dritt gegen eine Bande professioneller Stikitches. Die Mörder Kregens sind ein tüchtiger Haufen Rasts, und bei einem Entführungsauftrag sind sie nicht weniger rücksichtslos. Nein, so leid es mir tat, ich mußte es mit der Mehrheit halten.

Meine Sorge um Delia stand an erster Stelle. Meine Delia, ah! Wie sehr sehnte ich mich in diesem Augenblick nach ihr. Wie konnte sich ein hübsches Mädchen, selbst ein Mädchen mit dem Geist und Charme der Frau der Sterne, auch nur einen Augenblick vor meine Delia stellen!

Nein, ich würde das Glück meiner Delia nicht für die Frau der Sterne wegwerfen.

Gafard atmete heiser. Der Alkohol und der Schock hatten ihm die Entschlußkraft geraubt. Er war am Ende.

»Die Männer reiten nicht!« Er schüttelte den Kopf. Er konnte es kaum glauben, doch zugleich wußte er, daß es stimmte. Er drehte sich zu mir um und streckte die Hand aus. »Und du, Gadak der Abtrünnige, der Mann, den ich erwählte und förderte – Gadak, wirst du heute nacht für mich reiten?«

»Nein«, sagte ich.

Er ließ sich in seinen Stuhl fallen. Sein Gesicht erschlaffte. Aber dann zeigte er seinen wahren Kern.

»Dann nach Sicce mit euch allen! Ich reite allein, denn ich weiß sehr wohl, was der Lord von Strombor sagen würde!«

Ich war nicht schockiert, nur verwirrt.

Taumelnd schwenkte er die Arme und suchte nach seinem Kettenhemd. Ich hielt ihn am Arm fest. »Was soll das – der Lord von Strombor?«

Gafard drehte das schweißfeuchte und verzerrte Gesicht in meine Richtung. Jede Linie auf diesem Gesicht wirkte tiefer eingekerbt.

»Du Onker! Wenn der König meine Frau nimmt – Pur Dray ist in der Stadt! Er ist in Magdag gesehen worden, das steht fest!« Er sprach mit hoher, schriller Stimme, wie ein Mann, der einem kleinen Kind etwas erklärt. Er legte mir die Finger auf die Hand. »Laß mich gehen, Gadak, du Verräter, du Undankbarer! Ich rette meine Frau für Pur Dray, dann kümmere ich mich um dich!«

Ich hielt ihn fest. Grogor wollte einen Schritt in meine Richtung tun, doch ich wandte den Kopf und starrte ihn zornig an. »Bleib stehen, Grogor, wenn dir dein Leben lieb ist!« Ich schüttelte Gafard, den Kämpfer des Königs. »Hör zu, Gafard. Du redest von Pur Dray, dem Lord von Strombor. Was hat er mit dieser Sache zu schaffen? Sag mir, was zwischen euch liegt, Gafard! Sag es mir! Was hat der Lord von Strombor mit der Frau der Sterne zu schaffen?«

Da kam er wieder etwas zu sich, der Meeres-Zhantil.

»Du Cramph!« knurrte er mit schwerer Zunge. »Du bist ein toter Mann, denn du sitzt hier und läßt meine Frau in den sicheren Tod gehen, in einen scheußlichen Tod wegen der Dinge, die sie weiß.«

»Sag es mir, Gafard, du dämlicher Onker! Heraus damit!«

Er schrie auf, als sich meine Finger in seinen Arm bohrten.

Er wand sich unter meinem Griff und starrte in mein raubtierhaftes Gesicht.

»Du Dummkopf! Pur Dray, der größte Krozair am Auge der Welt, ist in Magdag! Und König Genod entführt die Frau der Sterne! Wenn er das erfährt, und das muß unweigerlich geschehen, dann ... dann ...«

Wieder schüttelte ich ihn, und die verkniffene Wildheit in meinem Gesicht übertraf seine Erregung bei weitem.

»Wenn der König was herausfindet, Gafard? Was ist das für eine Falle? Sag es mir, sonst reiße ich dir den Arm ab!«

Schaum erschien auf seinen Lippen, und Grogor machte einen weiteren Schritt, doch ich schwang Gafard, den Kämpfer des Königs, herum.

»Jetzt, Gafard, jetzt! Sprich!«

»Du bist ein toter Mann, Gadak! König Genod hat Velia entführt, die Tochter Pur Drays, des Lord von Strombor!«