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Rees und Chido!

Unglaublich! Unmöglich! Aber wahr.

Die Menge geriet in Bewegung, als Wächter eine Gasse bildeten. In diesem Durcheinander war Rees' kräftige Stimme wieder zu hören. Er war aufgeregt.

Aber was hatten Rees und Chido hier zu tun, hier am Auge der Welt, fern von Ruathytu in Hamal? Sie mußten zur Vollerbesatzung gehört haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Ich hielt mich im Hintergrund.

Sie hatten mich gut zwanzig Jahre lang nicht gesehen, doch ich bezweifle nicht, daß sie mich wiedererkennen würden. Sie würden sofort wissen, wer ich war. Und ihre Überraschung würde nicht geringer sein als meine.

Sie kannten mich als Hamun ham Farthytu, den Amak des Palinetals. Nicht bekannt war ihnen, daß dieser Hamun, den sie zum Schwertkämpfer hatten ausbilden wollen, mit dem Prinz Majister von Vallia identisch war.

Welche Gedanken stürmten mir in diesem Augenblick durch den Kopf! Ganz automatisch war ich zurückgetreten. Der Onker Golitas wiederholte noch immer, daß er den Lord Strombor eindeutig erkannt habe.

Ich war ehrlich froh, daß Rees und Chido noch am Leben waren! Nach der Schlacht von Jholaix, in deren Verlauf Vallia die hamalische Armee des Nordens ausgelöscht hatte, konnte ihnen sonst etwas zugestoßen sein. Vielleicht standen sie wieder in der Gunst der Herrscherin Thyllis. Wenn das stimmte, waren sie Vallia noch feindlicher gesonnen als vorher ...

Von der Menge, die den hohen Würdenträgern Platz machte, wurde ich gegen einen Zeltpfahl gedrückt. Durch eine Lücke sah ich Rees, dann auch Chido.

Die beiden hatten sich nicht verändert.

Gewiß, einundzwanzig Jahre bedeuteten im Leben eines Kregers nicht viel, sobald er einmal erwachsen geworden ist. Die riesige rote Mähne kennzeichnete Rees als Numim, als Löwenmenschen. Das breite Löwengesicht war ärgerlich verzogen, und seine braunen Augen funkelten im Licht. Und Chido schien wie immer vor Erregung platzen zu wollen, sein kinnloses Gesicht und die hervortretenden Augen ließen unzählige Erinnerungen in mir aufsteigen. Guter alter Chido!

Wenn sie mich sahen, würde es eine große Szene geben. Wie hatten sie sich das Verschwinden ihres Freundes und Schwertkameraden Hamun erklärt?

Hinter Rees erblickte ich einen schwarzhaarigen Burschen mit einem harten, eckigen Gesicht. Über dieses Gesicht zog sich eine blutrote Narbe. Das mußte Golitas sein.

Wenn er mich entdeckte, steckte ich in der Klemme. Daraus mochte sich eine interessante Szene entwickeln.

Vielleicht, vielleicht hätte ich es riskiert. Denn wenn Golitas plötzlich sein Schwert zog und sich auf mich stürzte, mochten Rees und Chido sich im ersten Schock auf meine Seite schlagen.

Konnte sein. Doch aus irgendeinem Grunde nahm ich nicht an, daß es so kommen würde.

Meinen ersten Wiedersehensschock hatte ich überwunden und machte mir klar, daß ich meine Identität als Amak aus dem Palinetal nicht aufs Spiel setzen wollte.

Ich wandte den Kopf ab. Ja, ich, Gadak, wandte mich ab.

Auf einem Tisch lag ein Haufen Mäntel und Umhänge und Halstücher von Offizieren und Adjutanten. Ich nahm ein grünes Tuch an mich und bedeckte mir damit das Gesicht. Ich will nicht verheimlichen, daß ich mich in diesem Augenblick selbst verachtete. Doch von meinem Verhalten hing jetzt viel ab; meine Freiheit jetzt bedeutete mir mehr als die Freiheit, die mir oft genommen worden war – sie bedeutete, daß ich dem Auge der Welt den Rücken kehren und zu Delia zurückkehren konnte. Das mußte an erster Stelle stehen.

Ich glaubte mir auch zusammenreimen zu können, warum Rees und Chido mit dem Voller für König Genod ans Binnenmeer gekommen waren. Zweifellos hatten sie sich ein großes Abenteuer erhofft, nachdem das friedliche Hamal keine interessante Abwechslung mehr bot. Waren Rees' Ländereien des Goldenen Windes beschlagnahmt worden? Wie ging es Saffi, seiner Tochter, dem großartigen Löwenmädchen, das ich vor den Menschenjägern von Faol gerettet hatte?

Die Bewegung der Menge, mein Zögern, meine Gedankenlosigkeit – dies alles verschwor sich gegen mich und machte mein Vorhaben zunichte.

Chido gestikulierte heftig, und Rees schritt stolz durch das Zelt, so bewegten sie sich an mir vorbei und traten ins Mondlicht hinaus. Ich nahm mich zusammen. Gleich würde Golitas hinaustreten. Würde sich, wenn er fort war, die Chance bieten, Gafard und den König zu entführen?

»Ah, Gadak, du hast mir gerade gefehlt!«

Ich fuhr herum, und meine Hand fiel auf den Griff des Langschwerts.

Gafard starrte mich an und dann an mir vorbei auf die anderen im Vorraum des Zelts.

»Ihr alle! Hinaus, macht euch auf die Suche! Der König ist erzürnt. Das Flugboot ist gestohlen worden – von niemand anderem als Pur Dray, dem großen Krozair! Bewegung!«

Er bemerkte meine Handbewegung.

»Ja, Gadak. Es ist der Augenblick gekommen, zum Schwert zu greifen – doch erst wenn wir das Flugboot gefunden haben.«

»Jawohl, Gernu!«

Wie leicht fiel es mir, als Grodnim zu reagieren, in deren Mitte ich die letzten Monate verbracht hatte.

Vor dem Zelt drängten sich zahlreiche Männer, Apim und Diff. Bogenschützen standen mit aufgelegten Pfeilen bereit; sie gehörten zur Abschirmung des Königs. Die Nachricht, daß der Lord von Strombor gesehen worden sei, veranlaßte alle, erbebend zu den Waffen zu greifen.

Seit dem Augenblick, da ich in das Zelt eindrang und Rees' Numim-Brüllen hörte, bis zu Gafards Befehl, die Suche zu beginnen, war nur ganz kurze Zeit vergangen. Alles war etwas überstürzt gekommen. Meinen Plan mußte ich aufgeben. Ich hatte keine Chance, Gafard gefangenzunehmen, geschweige denn den König.

Wenn ich Gafard die Klinge an die Kehle legte, um zum König vorzudringen, würden mich die Bogenschützen mit ihren Pfeilen spicken, und wenn Gafard dabei umkam, so war das eben der Preis, den Grodno forderte. Das einzige Argument, das in dieser Lage ziehen würde, war das Leben König Genods selbst.

»Steht hier nicht so herum, ihr Calsanys!« brüllte Gafard, der sicher harte Worte von Genod zu hören bekommen hatte. »Schtump!« brüllte er, ein beleidigendes Wort, mit dem Untergebene zur Eile angetrieben wurden.

Gafard verzichtete darauf, eine Strafe anzudrohen für den Fall, daß das Flugboot nicht gefunden wurde; er war klug genug, um realistisch zu sein. Wenn das Flugboot schneller als eine galoppierende Sectrix durch die Luft rasen konnte, mußte es längst fort sein.

Als wir in den Sattel stiegen, unterdrückte ich die Verwünschungen, die mir über die Lippen kommen wollten. Nicht aus Feigheit hatte ich mich im Zelt zurückgehalten, sondern aus Vorsicht; trotzdem hatte ich das Gefühl, meine Krozairbrüder im Stich gelassen zu haben.

Ich verdrängte die beunruhigenden Gedanken über mein Versagen und ritt mit den anderen in die Dunkelheit hinaus – gering waren unsere Chancen, den Voller zu finden, das kann ich bestätigen.

Die Fackeln warfen unruhiges Licht zwischen die Schatten, Männer brüllten, und es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Ich ergriff die erstbeste Gelegenheit, mich in der Dunkelheit zu verdrücken, um zum Versteck des Vollers zurückzukehren. Niemand folgte mir.

Die wesentlichen Punkte meines Plans hatte ich nicht verwirklichen können. Ich kehrte ohne den König und ohne Gafard zurück. Der zweite Teil des Vorhabens konnte aber noch klappen. Ich konnte mit dem Voller über das Binnenmeer fliegen und dort den Konvoi mit den Vorräten für die Grodnim-Armee angreifen und versenken.

Nun, damit ließ sich zumindest ein Teil meines Jikai retten.

Mit einem Voller dieser Qualität war diese Situation ohne weiteres zu bewältigen.

Großartige Ideen schossen mir durch den Kopf. Ich spürte einen verrückten Anflug von Macht, geradezu ein Fieber. Mit dem Flugboot konnte ich mich zum Herrn an dieser Küste aufschwingen und alle Pläne Genods zunichte machen.

Die Grodnim hatten keine Varters, die gegen Voller eingesetzt werden konnten. Die Armeen der Unwirtlichen Gebiete Havilfars führten Artillerie mit, die Pfeile senkrecht nach oben schießen und angreifende Luftschiffe aufs Korn nehmen konnten. Solche Geräte waren am Binnenmeer unbekannt. Niemand würde sich mir in den Weg stellen können.

Bilder der Macht schwirrten vor meinem inneren Auge, als ich die Stelle erreichte, an der der Voller versteckt worden war.

Ich ritt sehr vorsichtig weiter, denn an Bord des Flugboots befanden sich zahlreiche Waffen. Ich hatte keine Lust, einen Pfeil abzubekommen.

»Duhrra! Hikdar Ornol!« rief ich leise.

Die Tarnung war vorzüglich. Die Nik-nik-Büsche verhüllten alles. Meine Sectrix trabte weiter; ihre Hufschläge waren auf dem sandigen Boden kaum zu hören.

Das rosagoldene Mondlicht umgab mich. Wieder rief ich, diesmal lauter.

Keine Antwort. Nichts.

Der Voller war verschwunden!

Wie lange ich dort hin und her ritt und fluchend mit meinem Schwert auf die Büsche einschlug, weiß ich nicht mehr.

Endlich drang die Erkenntnis zu mir durch, daß der Voller tatsächlich fortgeflogen war. Ich konnte nicht mehr fluchen. Ein letztes Mal galoppierte ich durch die Senke.

Duhrra und die Männer aus Zandikar waren fort.

Ich war allein.