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Wer läuft, ist der Welt entrückt. Jeder, der auch nur einmal in seinem Leben an einem Volkslauf teilgenommen hat, fühlt dieses unbändige Verlangen, seine eigene Philosophie zu entwerfen. Wer je das süße Gift des Endorphins schmecken durfte, der glaubt, ihm sei Einsicht in letzte Wahrheiten gewährt worden. Kein Wunder, dass die Kirchen leer sind. Die Menschen feiern ihren Ersatzgottesdienst, indem sie am Sonntagmorgen durch die Grünanlagen hecheln.

Laufen ist gut, globaler Minimalkonsens, Weltreligion und findet immer mehr Anhänger. Über zehn Millionen Deutsche laufen regelmäßig, ebenso viele haben es schon mal versucht. Doppelt so viele würden gern anfangen oder sollten – ihr Arzt oder, schlimmer noch, der Partner hat es befohlen. Statistisch betrachtet besteht das halbe Land aus potenziellen Läufern. Und die andere Hälfte lacht darüber.

Gurus, Heilige, Pharisäer und Scharlatane gibt es reichlich und die entsprechende Menge Kampfliteratur: Bibeln, Katechismen und Litaneien, Abweichlerisches und Frevelhaftes. Deren Botschaften klingen für Freizeitläufer wie Peitschenhiebe aus dem Märtyrerhandbuch: Steh früher auf! Friss nicht so viel! Ruiniere deine Beziehung und alle Freundschaften! Leiste mehr! Verkneif dir das Bier! Halt die Klappe, laufe schneller! Öfter! Länger! Verschwende deine Wochenenden! Kaufe immer neue Schuhe und Pillen! Fülle Tabellen aus! Zweifle an dir! Quäl dich, du Sau!

Dieses Buch ist anders. Es will weder befehlen, umerziehen noch zwangsbeglücken. Dennoch, oder gerade deswegen, bietet es Lebenshilfe für Läufer, für die, die es werden wollen, für ihre bemitleidenswerten Angehörigen und zuletzt für jene, die die stetig wachsenden Horden karnevalsbunter Strammwaden im deutschen Unterholz verständnislos bis amüsiert beobachten.

Seit Herbst 2004 erscheinen Achilles’ Verse auf SPIEGEL ONLINE und seit 2008 versorgt www.achim-achilles.de die Sportsfreunde mit Wissenswertem, Kuriosem, kostenlosen Trainingsplänen und Spaß. Hunderttausende von Freizeitläufern lesen und leiden mit einem von ihnen, der sich nur manchmal besser macht als er ist. Sie mailen ihm ihre Sorgen, Freuden, Erlebnisse, sie hassen, sie verachten und sie lieben ihren Achilles. Denn er gibt seinen Lesern immer wieder das Gefühl: You never run alone. Da sind Millionen anderer wie du, die genau in diesem Moment auch keine Lust haben, sich aus dem warmen weichen Bett zu schälen, um in die klammen Schuhe zu rutschen. Laufen ist kein Spaß, sondern jedes Mal aufs Neue eine Heldentat.

Sie halten das Tagebuch eines Läufers in den Händen, geschrieben mit dem Blut wund gescheuerter Innenschenkel, dem Schweiß hunderter Trainingskilometer, mit Tränen der Freude darüber, etwa einmal im Jahr so schnell ins Ziel zu kommen, wie insgeheim erhofft. Hier geht es zu wie im wahren Läuferleben; manchmal ehrgeizig, bisweilen träge, oft ungerecht und engstirnig, grundsätzlich aber fröhlich und unbeschwert, und immer lehrreich.

Dieses Buch ist ein Freund. Es weint, es lacht, es spinnt, es leidet, es hasst, es fabuliert, es hofft mit dem Läufer. Es handelt von kleinen Erwartungen und großen Enttäuschungen, von der Jagd nach dem Glück und dem permanenten Scheitern dabei. Es kennt jede Ausrede, warum es mit der Spitzenleistung wieder nicht geklappt hat, und liefert noch neue: das Wetter, die Flasche Rotwein vom Vorabend, ein verdächtiges Ziepen in der Wade, ein Rudel Walker, das den Weg blockiert, Magendrücken oder der mentale Knockout, wenn eine ältere Dame unvermittelt überholt.

Gleichwohl verströmt die älteste Fortbewegungsart des homo sapiens im Zeitalter von Totalmobilität und Standheizung eine nie da gewesene Faszination, die schnell in Abhängigkeit umschlägt. Eben dieser Sucht ist Achim Achilles erlegen.

Achim ist in den Vierzigern, er bewältigt tapfer Beruf und Familie. Irgendwann kamen der Job, Mona, die beiden Jungs, der Rotwein, das schöne weiche Sofa und der weniger schöne weiche Ring an der Hüfte. Seine Frau Mona findet, ihr Mann sollte ein Hobby haben. Aber Achim mag keine Hobbys. Wozu gibt es die »Sportschau«?

Vor 20 Jahren war Achim sportlich, wobei die Legenden von seinen Heldentaten, die er seinem Sohn Karl auftischt, mit der Realität nicht immer übereinstimmen. Aus der unspektakulären Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen 1975 wird in der Rückschau schon mal die Teilnahme an »Jugend trainiert für Olympia«. Sein Sohn rennt ihm längst davon, und die Geschichten von damals glaubt er schon lange nicht mehr.

Eines Tages war es schließlich so weit. Am Morgen hatte er den Arzt besucht, weil er sich schon seit Monaten unerklärlich schlapp fühlte. Der Doktor, ein sehniger Bursche, hatte ihm einen Klaps auf die Schulter gegeben und »etwas mehr Bewegung an der frischen Luft« verordnet. Nachdenklich hatte Achim die Praxis verlassen. Beim Mittagessen hatte er erstmals seit Jahren auf den gewohnten Nachschlag verzichtet. Abends schließlich warf er die alten Gürtel weg, die seine Frau ihm vorwurfsvoll über den Schreibtischstuhl gehängt hatte. Er hatte es satt, immer neue Löcher ins Leder zu bohren.

Kurz vor dem Einschlafen war ein Entschluss gefallen, der sein Leben verändern sollte. Ab morgen würde er laufen, vielleicht nicht täglich, aber mehrmals die Woche. Er raunte es seiner Frau Mona zu. Die lachte nur: »Du doch nicht.« Sein Ehrgeiz war geweckt. Seiner Mona würde er es zeigen, und dem Rest der Welt dazu.

Seither begleiten die Leser ihren Achim auf seinem Weg in ein geheimnisvolles Paralleluniversum der Laktate und Aminosäuren, von den ersten schweren Schritten bis zum Marathon. Sie erfahren über den Sinn (oder Unsinn) von Tempoläufen im Herbststurm, sie durchleiden die Langeweile von dreieinhalbstündigen Ausläufen und quälenden Motivationstiefs.

Laufen, das ist die universellste und einfachste Sprache der Welt, ob barfuß in den Slums oder auf 350-Dollar-Sohlen in Malibu. Andererseits ist Laufen furchtbar kompliziert: jede Woche eine neue Studie zu korrekter Atmung oder falscher Technik. Der Bedarf an Orientierung ist so gewaltig wie die stille Hoffnung, einen Schuh, ein Hemd, einen Zaubertrank zu entdecken, der einen etwas schneller macht.

Achilles kommentiert gnadenlos die Absurditäten einer milliardenschweren Fitnessindustrie. Zugleich ist er »Power-Shopper«, der an kaum einem neuen Produkt vorbeilaufen kann: Diesmal könnte es ja tatsächlich helfen. Seine Selbstversuche haben so manchem Läufer schon unsinnige Ausgaben erspart. Achilles’ Verse ermutigen zur Skepsis gegenüber dem Fitness- und Schönheitsterrorismus mit seinen dreisten Lügen.

In einer Schicksalsgemeinschaft mit seinen Lesern arbeitet Achim Trainingspläne ab, er testet Pillen und Pülverchen, friert auf vereisten Pfaden, trotzt dem Durst im Hochsommer und wundert sich über allerlei rätselhafte Körpervorgänge. Natürlich träumt Achim wie nahezu alle Läufer davon, eines Tages einen Marathon in einer halbwegs akzeptablen Zeit zu bestehen, jenem allseits anerkannten Nachweis von Härte, Zähigkeit und Leistungswillen.

Was Achim erlebt, das kennen Millionen von Freizeitläufern, vom Olympioniken bis zum Walker mit 45 Kilogramm Übergewicht: die Qual des Aufstehens, die Motivationstricks, die alle nicht funktionieren, die fragenden Blicke der Nachbarn, der selbst gemachte Druck, die Freude, sich wieder überwunden zu haben.

Achilles macht keinen Hehl daraus, dass ihn nicht Glück treibt oder Freude, sondern das schlechte Gewissen. Laufen, das ist nicht orgiastische Erfüllung, wie mancher Guru behauptet, sondern schlichtweg das kleinste Übel, um in einer leistungsgeilen, diäthungrigen Sixpack-Gesellschaft einigermaßen zu bestehen.

Dieses Laufbuch ist für alle da. Für den Anfänger, der mit Interesse verfolgt, was dieser seltsame Achilles treibt, für den Fortgeschrittenen, der Achims Sorgen, Hoffnungen und Nöte bestens kennt und für den Profi, der sich amüsiert über die ungelenken Versuche, ein bisschen besser zu werden. Und schließlich sind da noch die Partner, die wahren Helden im Laufkosmos, die in stillem Heldentum Entspannungsbäder vorbereiten, Berge kohlenhydratreicher Speisen anrichten, übel riechende Socken und verdreckte Laufschuhe überall in der ganzen Wohnung erdulden und Schränke voll gestopft mit hässlichen Finisher-T-Shirts.

Läufer sind weder Ästheten noch Visionäre. Sie sind knallharte Realisten. Oder werden es spätestens nach der Lektüre von Achilles’ Verse. Wie jeder Läufer hat auch Achim die Hoffnung begraben müssen, mit einem Waldlauf könne man einer bösen Welt entfliehen. Laufen, das ist so gemein und widersprüchlich wie das ganze Leben. Nirgendwo ist die Freiheit so grenzenlos wie in Laufschuhen, nirgendwo gelten zugleich die Gesetze der Leistungsgesellschaft unbarmherziger. Der Wert eines Menschen wird in Zehntelsekunden bemessen, keine Ausrede gilt. Hinter vordergründigem Sportsfreund-Getue herrscht egomanische Kälte von sibirischen Dimensionen.

Davon lässt sich Achim Achilles nicht unterkriegen. Er ist ein Kämpfer, ein stiller Held des Alltags, ein Gebrauchsphilosoph. Auf kleinen Läufen durchdenkt er die ganz großen Probleme der Menschheit. Darf man ausschließlich zum Zwecke der Selbstqual in Laufschuhe zu 150 Euro steigen, die am anderen Ende der Welt zu Hungerlöhnen zusammengenäht wurden? Sind Politiker, die laufen, die besseren Volksvertreter? Ausdauersportler die besseren Liebhaber? Und warum muss man bei Trainingsläufen immer genau dann auf die Toilette, wenn man am weitesten von einer entfernt ist? Achim Achilles motiviert ohne zu drängeln, er lehrt ohne zu schulmeistern, er hilft ohne zu quälen.

Dieses Buch verkündet keine endgültigen Wahrheiten, es versucht es nicht einmal. Dennoch gibt es Tipps und Hinweise für ein ganzes Läuferjahr, vom mühsamen Leistungsaufbau im Winter bis zum Feilen am Tempo vier Wochen vor dem Wettkampf des Lebens. Am Ende jeder Kolumne erfahren Anfänger Grundsätzliches und Fortgeschrittene womöglich noch etwas Neues. Diese Tipps und Anregungen fügen sich zu einer Laufschule für halbwegs systematisches, womöglich sogar erfolgreiches Training.

Ob diese Hinweise wirklich helfen, muss jeder Läufer an sich selbst ausprobieren. Achilles’ Verse sind so individuell wie jeder einzelne Läufer. Eine Erfahrung ist jedoch allen gemein: Wer einmal anfing, der absolviert nicht nur zwei, drei, zehn Stunden Galopp die Woche, sondern beginnt ein neues Leben.

Laufen ist die große Freiheit, jedenfalls manchmal, für ein paar Sekunden. Nirgends ist das Leben leichter und unkomplizierter als auf einem strammen Schlussspurt. Jeder Athlet ist frei zu entscheiden, ob er Materialschlachten und Zehntelsekundenjagden mitmacht oder ob er in den alten ausgebeulten Jogginghosen jahrelang die immer gleiche Runde abzockelt. Jeder Läufer kann jederzeit aufhören. Und jeden Tag aufs Neue wieder anfangen. Laufen, das ist die größte Massenbewegung der Welt. Millionen Verrückte sind dabei. Achim Achilles ist einer von ihnen.

Achilles' Verse - mein Leben als Laeufer
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