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Walker sind nicht von Interesse. Anders verhält es sich, wenn sie weiblich sind, einem berühmten Stinktier ähneln und beim Aufwärmen wie die kleine Schwester von Marlene Dietrich qualmen.

 

Meine liebste Sportkameradin steht jeden Samstagvormittag auf dem Parkplatz am Berliner S-Bahnhof Grunewald inmitten ihrer Walking-Gruppe. Sieht aus, als hätte ein Laster eine Fuhre Teletubbies verloren. Schwankend stützen die Modellathleten sich auf ihre Stöcke und biegen ihre Körper mit leisem Grunzen. Meine Sportkameradin ist fast schlank und hat schwarz gefärbte Haare, was man am graublonden Scheitelstreifen erkennt.

Sie sieht aus wie »Pepe«, das verliebte Zeichentrick-Stinktier, das sich für unwiderstehlich hält und mit französischem Akzent »Isch lieebe disch« schmachtet. Ich weiß nicht, wie sie heißt und wer sie ist, aber ihre Anmut fasziniert mich, besonders wenn sie ihre Zigarette so zwischen den gefährlich kirschroten Lippen hält.

Viel Strecke hat »Pepe« noch nicht gemacht. Es ist auch nicht die erste Zigarette bei diesem Training, wie die beiden Lippenstiftkippen auf dem Waldboden verraten. Ihre Spezial-Handschuhe umfassen kraftvoll die beiden Spezialstöcke. Sie drückt die Schultern Richtung Spezialschuhe und schiebt den spezialhosenbespannten Steiß zur Sonne – alles ohne Qualm dabei in die Augen zu bekommen. »Und jetzt stretchen wir noch mal die andere Seite«, ruft der Instructor, der früher mal »Wandervogel-Toni« hieß. Stretchen ist perfekt für Walker. Eben auch ein Illusionssport. Klingt professionell, sieht einigermaßen wichtig aus, ist aber garantiert so frei von Anstrengung wie Stöckchenziehen. Im besten Fall hat man sogar eine Hand frei fürs Pilsken oder die Zigarette. Stretchen ist auch prima zum Zeitschinden: zehn Minuten Laufklamotten anziehen, je 15 Minuten An- und Abfahrt, 20 Minuten duschen und restaurieren, dann noch jeweils 15 Minuten vor und nach dem Lauf stretchen, und schon hat man mit einer halben Stunde Schlafftrab gefühlte zwei Stunden Sport getrieben.

Der Trick scheint sich herumzusprechen. Sonntags am Fischerhüttenweg kommt man keine vier Schritte weit, ohne über einen Hardcore-Stretcher zu stolpern. Am Treppengeländer, unten auf der Brücke, an jeder Bank hat ein Mensch ein Bein aufgelegt, biegt den Oberkörper darüber und befummelt mit angestrengtem Blick seinen Oberschenkel. Auweia, eine Muskelverhärtung! Aber wovon?

Manchmal steht auf der Wiese ein besonders engagierter Dehner wie ein Storch auf einem Bein und reckt die Arme in die Höhe. Seht her, Vati kann Power-Stretchen. Am besten sind allerdings die Kanonen, die wie tot an ihrem Auto lehnen, schwer pumpend, den Kopf tief zwischen die Arme gezogen. Preisfrage: Ein Kreislaufkollaps infolge Überlastung, ein feststoffbegleitetes Bäuerchen oder einfach nur Stretch-Alarm?

Dehnen muss sein, sagt die Fachwelt. Die Theorie behauptet, dass der gemeine Muskel sich nach getaner Arbeit zusammenzieht. Tut er das zu oft, verkürzt er sich dauerhaft. Stretchen nach dem Lauf wirkt dagegen. Und vorher ist es auch wichtig, dann muss man nicht so lange laufen.

Dehnen ist wie eheliche Treue. Ein ehernes Gesetz. Aber keiner weiß, wie es geht. Bis ganz kurz vorm Wehtun dehnen, rät der Experte. Aber woher soll ich wissen, wann es kurz vor dem Wehtun ist? Entweder tut es noch nicht weh, dann habe ich nicht genug gezogen. Oder es tut weh, dann war es zu viel. Jede Wette, dass die Weltgemeinschaft der Jogger mehr Verletzungen durch Stretching erlitten hat als durch Nichtdehnen. Letztes Jahr erst bescherte mir herzhaftes Oberschenkeldrücken ein Vierteljahr lang Sehnenqual zwischen linker Hinterbacke und Kniekehle.

Ich bin bekennender Stretch-Muffel. Beineziehen ist langweilig, es sieht Uschi-artig aus und außerdem wackele ich immer, wenn ich eine Hacke mit beiden Händen an den Hintern ziehen soll. Manchmal hüpfe ich dann, um das Gleichgewicht zu halten. Eine entwürdigende Aufführung. Ich war immer elastisch wie ein Amboss und werde es für den Rest meines Lebens bleiben. Meine Fingerspitzen hatten noch nie das Vergnügen, den Boden zu berühren, solange die Knie durchgedrückt waren. Na und? Bin ich Läufer oder Yogi?

Mein Mitläufer Klaus Heinrich ist ein manischer Dehner. Vor jedem Lauf baut er sich gut sichtbar auf und verrenkt sich. Komischerweise immer in der Nähe ebenfalls dehnender Frauen. Klaus Heinrich ist Single und schwört auf permanent-multiple Beziehungen. »Lass uns endlich laufen«, quengle ich. »Noch zwei Minuten«, wispert er zurück, »die Braut da vorne guckt schon.« Natürlich rennen die Frauen immer sofort weg, wenn Klaus Heinrich ein Gespräch über die Vorzüge weichen Waldbodens im Spätsommer anfangen will. Nächsten Samstag mache ich ihn mit meiner Sportsfreundin »Pepe« bekannt.

Achilles' Verse - mein Leben als Laeufer
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