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Die letzten drei Monate vor dem Marathon sind die härtesten. Lange Läufe, schnelle Läufe, viele Läufe. Und der Kopf muss auch noch mitmachen.
Die Sportartikel-Industrie ist ausgesprochen ignorant. Auf Monas Briefe, die mich als ideale Breitensportwerbefläche anpriesen, kam nur eine einzige jämmerliche Absage, auch noch als Formblatt. »Vielen Dank, aber …«, ja, ja, ja. Die anderen reagierten nicht einmal. Ab sofort überklebe ich alle Logos an meiner Wäsche und sage dem arroganten Großkapital den Kampf an: Ich werde eine eigene Marke erfinden. Bei dem Jackenbedrucker meines Vertrauens werde ich einen Prototypen anfertigen lassen. Das Label heißt, Tusch, Fanfare, Trommelwirbel, Achtung, fertig machen zum Ablachen: EPO-OPA. Lustig, oder? Frech, selbstironisch, Absage an den Jugendwahn, mit historischem Augenzwinkern und klarem Bekenntnis zum Drogenkonsum. Für Frauen gibt’s natürlich eine eigene Linie: EMO-OMA. Das Gute an EPO-OPA und EMO-OMA: absolut gratis, kann jeder haben, Marken des Volkes, deutliche Absage an den Labelterror. Einfach irgendwo draufschreiben.
Ich gebe ja zu: alles Schwachsinn. Aber womit soll man sich sonst beschäftigen, wenn man einen Marathon-Trainingsplan zu befolgen versucht und eigentlich nichts anderes mehr tut als zu laufen? Drei Monate vor dem Marathon wird das Leben des Läufers ziemlich eindimensional. Zuvor sollte man sich daher von seiner Familie, allen Freunden und dem Chef verabschieden.
Marathon ist der sicherste Weg, Beziehung, Knie, Selbstwertgefühl und Karriere zu ruinieren. »Trainieren heißt auch Schmerzen ertragen«, sagt Coach Karraß kühl. Und ich wanke durch die Hölle. Vier Trainingstage und 70 Kilometer sind pro Woche gefordert, die Freaks machen 140 Kilometer an sieben Tagen die Woche.
Mona ist bereits auf die Couch gezogen. Sie kann mein Stöhnen nachts nicht mehr ertragen. Jedes Umdrehen ist reine Qual. Der 35-Kilometer-Lauf vom Samstag steckt mir noch immer in jeder Muskelfaser. An die letzte Stunde kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich war es längst dunkel. Ungefähr nach 20 Kilometern ist mir »EPO-OPA« eingefallen. Nach 25 Kilometern dann Blutleere im Hirn. Jeder Gedanke gedacht. Jedes Gefühl gefühlt. Totale Leere. Läufers Delirium. Wigald Boning ist Dauerläufer, Joey Kelly auch. Das erklärt eigentlich alles.
Heute ist Pause. Morgen muss ich sechsmal 1000 Meter sprinten. Aber wie? Ich bin zu schwer. Ich bin schlecht trainiert. Der rote Faden meines Lebens ist, dass ich immer schlecht trainiert war. Alle Menschen, die nicht schlecht trainiert sind, sind mir suspekt. Welch ein armseliges Leben muss ich führen? Morgens der erste Gedanke: Alles tut weh. Abends der letzte Gedanke: Alles tut weh. Bei jedem Bissen: schlechtes Gewissen. Bei jeder Pause: Warum läufst du nicht? Bei jedem Schmerz: Achilles, du erbärmliches Weichei. Beim Atmen: Tiefer! Schon gestretcht heute? Blick auf den Kalender: Panik. Schritt auf die Waage: Notschlachten. Im Trainingsplan blättern, ob nicht vielleicht ein paar lange Läufer verschwunden sind. Wo ist das Arsen?
Wir wohnen im Erdgeschoss. Drei klitzekleine Treppenstufen nur. Die nette Frau Moll von oben, die mich für einen prominenten Sportler hält und mir Energiekekse oder Proben von Latschenkiefer-Fußsalbe aus der Apotheke zusteckt, hat mich neulich mitleidig beobachtet, wie ich versucht habe, die Stufen zu erklimmen: rückwärts. Die Knie ließen sich einfach nicht mehr durchbiegen. Mona ist wunderbar. Ich habe ihr den Trainingsplan gezeigt. »Du bist verrückt, Liebling. Das schaffst du nie«, sagte sie in ihrer aufmunternden Art. Von Aldi hat sie mir Rheuma-Badezusatz mitgebracht. Soll gut sein für die Durchblutung. Also einen ordentlichen Schuss ins Badewasser. Nach drei Minuten bin ich schreiend aus der Badewanne gefahren. Woher soll ich wissen, dass man das Zeug mit der Pipette dosieren muss? Jede Berührung mit dem Handtuch brannte wie das Fegefeuer. Mona hat wortlos den Boden gewischt. Ich saß zähneklappernd auf dem Badewannenrand. Dann bin ich ins Bett gegangen. Mit drei großen Sofakissen unter den Beinen klappte es. Kaum wurde das Hautbrennen weniger, kam das Beinbrennen zurück.
Heute Abend sind wir bei »Supi«-Roland von oben eingeladen, vierter Stock, kein Aufzug, drittklassige Reklame-Fuzzis, die versuchen, Bordeaux-Lagen richtig auszusprechen. Wir sollen um acht Uhr da sein. Wenn ich um Viertel nach sieben vorsichtig rückwärts starte, kann ich es halbwegs pünktlich schaffen.