9. Kapitel
Ich liege in meinem Bett und habe den purpurfarbenen Ring auf meinen Finger gesteckt. Warum habe ich das getan? Es ist doch nur ein billiger Plastikring. Ich halte meine Hand näher an mein Gesicht, hoffe, dass ich einen Geistesblitz habe, doch es passiert nichts.
Ich drehe mich auf die Seite und vertiefe mich erneut in das Foto. Mein Herz schmerzt, wenn ich sehe, wie glücklich Brady scheint, und ich weiß, dass ich diesen Ausdruck nie wieder erblicken werde. Und neben ihm steht James, genauso sorglos.
Es verwirrt und verletzt mich, wie James mich heute behandelt hat. Ich verstehe es nicht. Habe ich denn etwas Falsches gesagt, ihn zu sehr bedrängt? Ich dachte, er empfände das Gleiche wie ich, aber dem ist wohl nicht so. Es will mir einfach nicht in den Kopf, wieso er sich so aufführt, und schlimmer noch, ich fühle mich zurückgewiesen.
Ich suche doch nur nach dem, was ich verloren habe.
Ich gehe James aus dem Weg, als ich wieder in der Schule bin, was auch gut ist, denn Kevin scheint an mir zu kleben. Fast schon erwarte ich, ihn auch abends noch im Badezimmer neben mir zu sehen, wenn ich mir vor dem Schlafengehen die Zähne putze.
Doch als ich die zweite Woche meiner Genesung hinter mir habe, nimmt er mich nach dem Mathe-Unterricht auf dem Flur beiseite. »Hier«, sagt er und drückt mir einen Zettel in die Hand.
Ich schaue auf die Adresse, dann blicke ich Kevin an.
»Michael wird auf dich warten.« Kevin deutet auf den Zettel. »Aber, Sloane«, fügt er vorsichtig hinzu, »sie haben mich von deinem Fall abgezogen. Ich bin nicht sicher, ob man dir einen neuen Betreuer zuweist oder … was dahintersteckt. Deshalb gebe ich dir Michaels Kontaktadresse.« Er atmet tief durch, als würde es ihn wirklich bedrücken, mich zu verlassen. Ich allerdings bin froh, dass er mich nun nicht mehr überwachen wird, und ich hoffe, dass sie mir keinen anderen Betreuer geben.
»Sei vorsichtig«, flüstert Kevin, als er zurückweicht. Er beobachtet mich, bis er sich umdreht und geht.
Ich warte noch einen Moment. Irgendetwas hat Kevin nervös gemacht, aber Realm wird schon wissen, was los ist. Er scheint immer alles zu wissen.
»Sloane?«
Als er meinen Namen sagt, stehe ich gerade vor meinem offenen Spind. James steht neben mir, und ich verdrehe die Augen.
»Verschwinde«, sage ich. »Mir ist heute nicht nach deinen Gefühlsschwankungen.«
»Aber meine Gefühle an sich magst du?« James lächelt, doch ich erwidere sein Lächeln nicht.
»Hör zu«, beginne ich, »nur weil ich gesagt habe, dass ich glaube, wir beide hätten«, ich senke die Stimme, »einander früher getröstet, heißt das nicht, dass ich was von dir will. Du hast also gar nicht wegrennen müssen, als wäre der Teufel hinter dir her, um mich wie einen Idioten stehen zu lassen.«
Sein Lächeln verblasst. »Ich weiß.«
Ich warte, aber mehr sagt er nicht. »Du weißt? Wow, danke für die tolle Entschuldigung. War nett, mit dir zu reden, James.«
Ich will gehen, aber er packt mich am Ellbogen. »Sei nicht sauer auf mich. Ich habe meine Gründe.«
»Aber du möchtest sie mir nicht mitteilen, richtig?«
»Nicht wirklich. Und vielleicht bin ich nicht so taff, wie du denkst.«
Es hört sich fast an, als hätte er den Satz aus einem Film, doch er wirkt viel zu elend, als er das sagt. Ich löse sanft meinen Arm aus seinem Griff, bevor andere Leute auf uns aufmerksam werden.
»Also dann«, verlange ich zu wissen, »was willst du?«
»Ich wünschte, ich wüsste es, Sloane. Aber ich würde gern mehr über deinen Bruder herausfinden. Und … über dich. Ich meine, wir hätten auch alle drei Freunde sein können.«
Ich nicke. »Du wirkst ziemlich glücklich auf dem Foto.«
»Ich wünschte nur, wir könnten unsere Erinnerungen zurückbekommen.«
Und plötzlich denke ich, dass Realm wissen könnte, was zu tun ist. Er war immer einen Schritt voraus, hat immer mehr über »Das Programm« gewusst als irgendjemand sonst.
»Es gibt da jemanden«, sage ich. »Er war mein Freund im ›Programm‹, und er könnte wissen, was wir unternehmen sollen.«
James betrachtet mich, als wäre er dabei, einen Geheimcode zu entziffern, dann zuckt er mit den Schultern. »Okay, wer ist er?«
»Er heißt Realm, und ich habe seine Adresse. Ich werde zu ihm fahren und ihn fragen, ob er helfen kann.«
»Hört sich nach einem fürchterlichen Plan an.«
»Weißt du einen besseren?«
James lacht. »Sloane, ich mache niemals Pläne. Aber wie wäre es, wenn du dich heute Abend aus dem Haus schleichst und mich an der Ecke Barron und Elm Street triffst? Ich fahre dich zu deinem Freund.«
Realm ist nicht »mein Freund«, aber ich reite nicht darauf herum. Ich verabrede mich stattdessen mit James an der Straßenecke, und ich sehe die Unsicherheit in seinem Blick, als würde er immer noch versuchen herauszufinden, was mir Realm bedeutet. Und dann lasse ich ihn stehen, zufrieden, dass zur Abwechslung mal er sich den Kopf über mich zerbricht.
Das Haus steht von der Straße zurückgesetzt, versteckt hinter großen Bäumen am Ende einer langen Auffahrt aus Kies. Als wir sie hinauffahren, knirscht es unter den Reifen, und mir wird bewusst, wie einsam es hier ist. Ein kleines, mit Holzschindeln verkleidetes Haus, von Wald umgeben, ein paar vertrocknete Blumen in den Beeten.
»Bist du sicher, dass du diesen Typ kennst?«, fragt James. »Das scheint mir eher ein Ort zu sein, an den man arglose Teenager lockt, um sie zum Sex zu zwingen und sie dann umzubringen.«
Ich lache und schaue ihn an. »Bring mich vor meinem Freund nicht in Verlegenheit. Realm gehört zu den guten Jungs.«
»War er mehr für dich als nur ein Freund? Nicht, dass es mich etwas anginge …« Er senkt den Blick.
Und ich verspüre plötzlich Schuldgefühle. »Nein, ist schon okay, wenn du das fragst. Er … na ja, es war kompliziert, schätze ich.«
James antwortet nichts darauf, und Schweigen legt sich schwer auf uns.
Unsicher, wie ich mich verhalten soll, öffne ich die Beifahrertür und steige aus, warte darauf, dass James mir zum Haus folgt. Als ich auf der Veranda stehe, zittere ich vor Nervosität. Ich werde Realm gleich wiedersehen. Es ist nun schon länger als einen Monat her. Wird er anders aussehen? Ich weiß, dass ich mich verändert habe.
Die Tür öffnet sich lediglich einen Spaltbreit, und Realm späht heraus, was mich daran erinnert, dass er das auch im »Programm« stets getan hat, wenn wir uns irgendwo hingeschlichen haben. Mein Lächeln wird immer breiter, und dann fliegt die Tür auf und Realm tritt heraus. Noch bevor ich einen Blick auf ihn werfen kann, packt er mich und wirbelt mich herum, hält mich ganz fest.
»Hallo, Süße!«, stößt er hervor und zerquetscht mich fast. »Ich kann noch gar nicht glauben, dass du hier bist.«
Realm riecht gut, nicht nach Waschmittel und Seife, sondern nach sauberer Haut. Und nach einem Hauch Rasierwasser. Ich lehne mich zurück, um ihn anzuschauen. Sein Haar ist kürzer, das Gesicht nicht mehr so geisterhaft blass.
Erst dann bemerkt er James, der am Geländer lehnt.
»Oh, hi«, sagt er überrascht und streckt James die Hand hin, die dieser ergreift. »Michael Realm«, stellt er sich vor.
»James Murphy.«
Realms Lächeln verschwindet abrupt, und ich sehe, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht weicht. »Nett, dich kennenzulernen«, erwidert er, doch es ist kaum mehr als ein Flüstern, und er weicht einen Schritt zurück. Dann schaut er mich finster an.
»Kommt herein.« Er hält die Tür auf und deutet an, dass wir eintreten sollen.
James bedankt sich, und ich sehe ihm an, dass Realms Unbehagen ihn ein bisschen mit Befriedung erfüllt.
Wir bleiben im Eingangsbereich stehen und warten, während Realm die Tür verriegelt. Das Haus wirkt mehr wie eine Hütte mit frei liegenden Holzbalken und einer rustikalen Einrichtung. Ich finde, dass es nicht zu Realm passt, aber schließlich weiß ich nicht, wie er vor dem »Programm« war. Genauso wenig, wie er es weiß.
»Wie ist es dir ergangen, Sloane?«, will er wissen und unterzieht mich einer genauen Musterung.
»Merkwürdig«, erwidere ich. »Alles kommt mir ein bisschen seltsam vor. Und du?«
»Ach, mir geht es super.«
Realm führt uns in den Wohnbereich, und ich nehme auf der Couch Platz, während James sich in einen Sessel beim offenen Kamin setzt. Realm lässt sich neben mir aufs Sofa fallen. »Tja, und wo habt ihr beide euch kennengelernt?«
»Wir sind kein Paar, wenn es das ist, was du eigentlich wissen willst«, sagt James gleichmütig.
Realm lächelt. »Das habe ich nicht gefragt.«
James nickt. »Dann ist es ja gut.«
Ein bisschen verletzt es mein Selbstbewusstsein, dass James so schnell von sich weist, es könne mehr zwischen uns sein, aber dann berühre ich Realm am Arm, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. »Wir sind hergekommen, weil ich deine Hilfe brauche.«
»Ich würde alles für dich tun.«
Im selben Moment streift mich ein seltsam verschwommenes Gefühl, und ich halte inne, versuche es einzuordnen. Es hat nichts mit Romantik zu tun, eher mit Achtsamkeit … Doch es ist schon wieder fort, bevor ich es festhalten kann. Es kommt mir vor wie ein emotionales Déjà-vu.
Ich greife in die hintere Tasche meiner Jeans und hole das Foto heraus, reiche es Realm. Als er es betrachtet, zieht er scharf den Atem ein.
»Woher hast du das?«, fragt er sofort.
»Ich hab’s gefunden. Es war merkwürdig. Ich war zu Hause, und dann ist plötzlich diese Erinnerung in mir aufgeblitzt, eine Erinnerung von vor dem ›Programm‹. Ich habe mich selbst gesehen, wie ich dieses Foto in einen Schlitz in meiner Matratze geschoben habe. Das da ist mein Bruder«, sage ich und deute auf Bradys Gesicht. »Und das dort ist er.« Ich zeige mit dem Daumen auf James und höre ihn lachen.
Realms Kiefer sind fest zusammengepresst. Er gibt mir die Aufnahme zurück. »Und was wollt ihr jetzt von mir?« Seine Stimme klingt kalt.
»Ich kann mich nicht an ihren Bruder erinnern«, mischt sich James ein. »Ich will wissen, wie ich meine Erinnerungen zurückbekomme.«
Realm sieht zu ihm hin. »Das kannst du nicht.«
»Ich glaub dir nicht«, entgegnet James, als hätte er irgendetwas in Realms Tonfall gespürt. James hat mir selbst gesagt, er glaube nicht, dass wir unsere Erinnerungen zurückgewinnen können, aber anscheinend hat er seine Meinung geändert.
»Realm«, sage ich und versuche, die Spannung zu lösen, die sich zwischen ihm und James aufgebaut hat. »Du hast mir im ›Programm‹ versprochen, dass du mir helfen wirst, wenn ich dich brauche. Was hast du damit gemeint? Wieso ist diese Erinnerung wieder aufgetaucht?«
Ich fühle, wie kalt Realms Finger sind, als er sie mit meinen verschränkt. »Kannst du dich an Roger erinnern?«, fragt er und blickt auf unsere Hände.
Mein Magen zieht sich bei diesem Namen zusammen. Obwohl alles verschwommen ist, kann ich mich an den unheimlichen Betreuer erinnern. »Ja.«
»Auch an die purpurfarbene Pille?«
Ich zögere. Da ist ein schwacher Hinweis auf eine Erinnerung, der alles überdeckende Geschmack von Pfefferminz. Es ist, als hätte jemand meine Gedanken durcheinandergeschüttelt, sie manipuliert. Aber es gab diese Pille, und ich habe sie genommen.
»Er sagte, ich könnte eine Erinnerung retten«, murmele ich.
»Moment mal«, sagt James. »Du konntest eine Erinnerung retten? Wie hat das funktioniert?«
»Später«, vertröste ich ihn.
Er schmollt, sieht aus, als wolle er aufstehen und gehen.
Realm löst seine Finger von meinen. »Ich hab’s dir damals schon prophezeit: Die Erinnerung kehrt unvermittelt zurück, losgelöst aus ihrem Kontext, und verwirrt dich dann nur noch mehr. Du hättest die Pille nicht schlucken sollen.«
»Hab ich aber. Und wie komme ich jetzt an mehr Erinnerungen?«
Realm schaut mich aus seinen braunen Augen traurig an. »Das geht nicht, wirklich nicht. Deine Erinnerungen sind fort. Für immer.«
»Aber ich will wissen, wer ich war«, beharre ich. »Ich will wissen, was mit Brady passiert ist. Was mit mir passiert ist.«
»Du solltest dich nicht damit aufhalten. Sieh nach vorn. Es ist am besten, wenn …«
»Mann, wie bist du denn drauf?«, ruft James. »Arbeitest du für ›Das Programm‹ oder was? Wer würde schon anderen raten, ihre Vergangenheit zu vergessen? Wir wollen Bescheid wissen, Blödmann. Ich will wissen, wieso ich ihren Bruder gekannt habe.«
Realm schüttelt den Kopf, lässt sich aber nicht provozieren. Er steht auf und geht zum Kühlschrank, um sich ein Bier herauszuholen. Uns bietet er keines an.
Er nimmt einen tiefen Schluck, dann starrt er James an und sagt: »Du bist ein Arschloch.«
James zuckt mit den Schultern. »Weiß ich schon. Und mal ehrlich, so anders als wir bist du auch nicht, oder? Du hast da eine hübsche Narbe am Hals. Erinnerst du dich daran, wie du an sie gekommen bist?«
»Ich will mich nicht daran erinnern.«
»Möchtest du es nicht wissen, damit du den gleichen Fehler nicht noch einmal begehst?«
Realm lacht, doch es klingt bitter. »Das ist ja gerade der Witz, James. Bei manchen Fehlern neigen wir dummerweise dazu, sie ständig zu wiederholen.« Er blickt mich dabei an, nimmt einen weiteren Schluck Bier und fragt dann: »Nicht wahr, Sloane?«
Ich bin völlig verwirrt von Realms Verhalten. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, gestehe ich. »Ich bin hier, um mehr über meinen Bruder, meine Vergangenheit herauszufinden. Und ich weiß nicht, warum du dich so benimmst. Du hast Kevin gebeten, auf mich aufzupassen. Du hast mir deine Hilfe angeboten.«
»Meine Hilfe, damit du das alles hinter dir lassen kannst«, sagt Realm sanft. Seine Augen blicken müde drein. »Nicht … das hier.«
»Ach so«, meint James. »Jetzt kapier ich. Sloane, lass uns verschwinden. Er ist nicht daran interessiert, uns zu helfen. Er wollte dich nur ins Bett kriegen.«
»Warum verschwindest du nicht?«, fährt Realm ihn an. »Ich bin sicher, dass ich dich nicht hierher eingeladen habe.«
James grinst. »Vielleicht hast du’s doch getan und dann vergessen.«
Realm scheint es plötzlich sattzuhaben, sich mit James zu zanken. Er trinkt sein Bier aus, dann lehnt er sich gegen die Küchentheke, reibt sich heftig das Gesicht.
Ich sehe ihm an, dass ihn etwas zerreißt. Etwas, was nur bedingt mit James und mir zu tun hat.
»Du weißt es, oder?«, sage ich und bin mir plötzlich ganz sicher. Ich gehe zu ihm hinüber, bleibe vor ihm stehen. »Du kennst etwas aus meiner Vergangenheit.«
Er nimmt sich eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank, trinkt daraus, und erst dann schaut er mich an. »Vielleicht. Aber ich wünschte, es wäre nicht so. Ich will dich nicht verletzen.«
»Quatsch.« James hört sich an, als sei er bereit für einen Kampf. »Ich schwöre …«
Realm streckt die Hand aus, fährt zärtlich durch mein Haar. Er scheint in Gedanken weit fort zu sein, und ich werde plötzlich verlegen, als teilten wir einen intimen Moment. Realm und ich waren niemals zusammen. Nicht auf diese Weise. Aber die Vertrautheit in dieser Geste bringt James auf die Palme.
»Du hast einiges im ›Programm‹ erzählt«, sagt Realm. »Manchmal, wenn wir im Bett lagen, haben wir über dein und mein Leben gesprochen.«
Die Art, wie Realm dies klingen lässt, als ob da etwas zwischen uns gelaufen wäre, ist wie ein Schlag ins Gesicht für mich. Genau wie die Kälte, mit der er spricht.
»Und du behauptest, ich sei ein Arschloch?«, sagt James und lacht. »Das ist nicht gerade ein passendes Gesprächsthema in Gesellschaft, findest du nicht auch, Michael?«
»Realm für dich.«
»Na und? Ich nenne dich, wie ich will. Und ich denke, du solltest dich bei Sloane entschuldigen, denn sie scheint mir nicht der Typ zu sein, der es mag, wenn man Vertrauliches über sie ausplaudert.« James steht auf. »Oder soll ich dir lieber eine reinhauen?«
»Nein«, sage ich und schlucke. »Hier wird nicht geprügelt.« Ich sehe James an. »Es ist schon in Ordnung. Glaub mir, es ist in Ordnung.«
James nickt, dann setzt er sich wieder und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ich hab’s nicht so gemeint«, entschuldigt sich Realm. »Und wir haben auch nicht miteinander geschlafen«, fügt er heftig hinzu, an James gewandt, wobei man ihm anmerkt, dass er James lieber im Ungewissen gelassen hätte. »Wir waren … lediglich Freunde.«
»Die sich ein Bett geteilt haben«, brummt James. »Na klar.«
»Realm«, sage ich und ignoriere James’ Bemerkung, »was habe ich dir erzählt? Und wieso weißt du das noch? Ich erinnere mich gar nicht mehr an irgendwas Persönliches von irgendwelchen Leuten.«
Realm lehnt sich wieder gegen die Küchentheke und leert mindestens die halbe Flasche. Ich warte. »Ich will dir das noch mal erklären, Süße. Dein Verstand«, er tippt dabei an meine Schläfe, »ist momentan noch etwas sehr Zerbrechliches. Man hat die Einzelteile wie kostbares Porzellan wieder zusammengesetzt. Ein Riss, um bei dem Bild zu bleiben, kann alles wieder auseinanderfallen lassen. Ich will dir nicht wehtun. Wirklich nicht. Wenn wir noch ein bisschen warten würden …«
Ich beuge mich vor, lege meine Hände auf seine Brust und schaue ihm in die Augen. »Bitte!«
Es scheint, als gäbe sich Realm nun doch geschlagen. Er nickt. »Dein Bruder ist nicht bei einem Rafting-Unfall gestorben, Sloane. Das hat ›Das Programm‹ lediglich erfunden. Brady hat sich selbst umgebracht, und ihr beide, du und James, sein bester Freund, wart bei ihm, als er starb.«
Ich schnappe nach Luft. Bradys Bild erfüllt all meine Gedanken. »Nein«, sage ich und taumele zurück. »Mein Bruder hat nicht … meine Eltern haben erzählt, es wäre ein Unfall gewesen. Warum sollten sie lügen? Warum sollten …?«
Mein Atem geht immer schneller, ich habe das Gefühl, gleich zu hyperventilieren. James ist wieder aufgesprungen, er führt mich zur Couch, hilft mir, mich hinzusetzen.
»Nein«, sage ich noch einmal.
Es bleibt still im Raum, während ich versuche, meine Fassung zurückzugewinnen. Ich durchforsche meine Erinnerungen, suche nach etwas, was zu so etwas Schrecklichem geführt haben könnte. Aber alles, was ich sehe, ist mein glücklicher und lächelnder Bruder. Was könnte mit ihm geschehen sein?
Mit seinen Daumen streicht James unter meinen Augen die Tränen weg. »Es kommt alles in Ordnung, Sloane«, sagt er fest. Und die Art und Weise, wie er es sagt, so überzeugt, schenkt mir ein wenig Sicherheit. Ich wende mich wieder Realm zu.
»Du hättest das nicht vor mir geheim halten sollen«, werfe ich ihm vor. Ich komme mir betrogen vor.
Realm stellt seine leere Flasche auf die Küchentheke, schaut den Kühlschrank an, als wolle er sich noch eine nehmen.
»Das kann dich wieder krank werden lassen, Sloane«, erwidert er. »Ich habe dein Leben aufs Spiel gesetzt, als ich dir das erzählt habe und … O Gott, was mache ich da nur? Es ist noch viel zu früh. Bitte, Sloane, dies ändert gar nichts. Du musst nach vorn schauen. Du bist sicher. Es ist so wichtig für mich, dass du sicher bist.«
Ich fühle, wie angespannt Realm auf einmal wieder ist.
»Was sonst noch?«, frage ich, und meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Was weißt du sonst noch? Du musst es mir sagen, Realm!«
Er blickt mich an, kummervoll. Und dann schüttelt er den Kopf. »Das ist alles, was ich dir geben kann. Tut mir leid.«
»Realm …«
»Ich denke, ihr solltet jetzt verschwinden.« Er stößt sich von der Küchentheke ab und geht hinüber zur Tür, entriegelt sie und zieht sie auf. Dabei sieht er uns nicht an.
»Was?«, sage ich. »Nein, du …«
Nun schaut er mich doch an. »Sloane, ich will, dass ihr fahrt.« Seine Worte klingen endgültig.
»Das ist doch Bullshit«, sagt James und steht auf, nimmt meine Hand.
Ich bemerke, wie es in Realms Augen aufblitzt, als James meine Hand ergreift, doch dann blickt er weg.
Ich weiß, dass ich ihn so nicht verlassen kann, und so löse ich meine Hand aus James’ Fingern. »Ich bin in einer Minute draußen bei dir«, sage ich.
James verengt seine blauen Augen, und in seinem Blick liegt so viel Misstrauen, dass ich fast davor zurückweiche. Doch dann nickt er und marschiert hinaus, stößt Realm dabei mit der Schulter an.
Realm lacht bitter auf. »War nett, dich kennenzulernen, Mr. Murphy.«
Als wir allein sind, trete ich auf Realm zu. Er schaut mich an, das Kinn trotzig vorgeschoben, doch in seinem Blick liegt fast so etwas wie Verzweiflung.
Und plötzlich werfe ich meine Arme um ihn.
Ein erstickter Aufschrei dringt über seine Lippen, als er mich fest an sich zieht. »Ich hab dich so vermisst«, flüstert er. »Ich habe versucht, für deine Sicherheit zu sorgen, Sloane. Und dann bin ausgerechnet ich derjenige, der dir wehtut. Ich hätte dir nicht von Brady erzählen sollen.«
Ich lehne mich zurück. »Ich will aber alles wissen«, erwidere ich. »Du musst mir alles erzählen. Ich verstehe nicht, warum mein Bruder sich umbringen wollte.«
Die Tränen drohen erneut zu fließen, und Realm legt eine Hand auf meine Wange. »Er war einfach nur krank. Es war nicht deine Schuld.«
»Warum haben sie mir dann die Erinnerung genommen?«
Realm schließt die Augen. »Ich kann dir das jetzt nicht erzählen, Süße. Ich habe eh schon so viel Mist gebaut. Ich muss … ich muss nachdenken. Du hättest das Foto nie finden dürfen.«
»Nein, ich musste es finden«, widerspreche ich.
»Ich will doch nur, dass du glücklich bist«, sagt er. »Ich schwöre, das ist alles, was ich möchte.« Er wirft einen vorsichtigen Blick durchs Fenster nach draußen, wo James im Auto sitzt, den Kopf gegen das Lenkrad gelehnt, als sei er es satt zu warten.
Realm atmet tief durch. »Du solltest jetzt gehen.« Er beugt sich vor und küsst mich auf die Wange, bleibt eine ganze Weile so stehen.
»Und was, wenn ich nicht gehe?«, frage ich in der Hoffnung, dass er mir dann mehr über meinen Bruder, meine Vergangenheit verraten wird.
Realm scheint über die Frage tatsächlich nachzudenken. »Es gibt so vieles, was du jetzt noch nicht verstehen kannst«, erklärt er dann. »Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich nie etwas anderes wollte, als dass du gesund wirst. Glaubst du mir das?«
Ich nicke. »Natürlich.«
»Ich habe nur … ich liebe dich«, flüstert er, unfähig, mich anzusehen.
»Ich weiß.« Aber ich habe nicht die richtige Antwort für ihn. Im Moment bin ich vollkommen von Kummer erfüllt, fühle mich, als ob ich Brady gerade erst verloren habe, obwohl es doch schon so lange her ist. Und hier steht Realm, so voller Sehnsucht danach, mich zu lieben. Sich um mich zu kümmern. Die leeren Stellen in meinem Herzen auszufüllen.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und presse meine Lippen fest auf seine.
Realm reagiert sofort, überrascht mich, indem er mich an die Wand drückt und mich so hingebungsvoll küsst, als hätte er die ganze Zeit, seit ich hergekommen bin, nur darauf gewartet, dies zu tun.
Mein Herz klopft, doch was ich empfinde, ist Schuld. Als ob ich fürchterlich unfair bin. Ihm gegenüber. Mir selbst gegenüber. Ich wende mich ab, beende den Kuss und schmiege mich stattdessen an Realm.
Er lacht leise auf, umklammert mich fest. »Du erwiderst meine Liebe nicht«, stellt er fest.
»Nicht auf diese Weise. Aber vielleicht …«
»Vielleicht irgendwann?«, beendet er den Satz für mich. Realm wirkt müde. Vielleicht auch ein bisschen betrunken. »Du solltest jetzt gehen«, wiederholt er und führt mich hinaus auf die Veranda, den Blick zu Boden gesenkt. Und dann, ohne ein weiteres Wort, kehrt er ins Haus zurück und legt von innen den Riegel vor.
Ich stehe da, immer noch verwirrt von dem, was ich über meinen Bruder erfahren habe. Ich blicke zum Auto hin.
James beobachtet mich, dann macht er eine Bewegung, als wolle er fragen, ob ich okay bin, doch ich reagiere nicht darauf. Ich bin nicht okay.
Ich bin verdammt noch mal nicht okay.