1. Kapitel
Die Luft in dem Raum schmeckt steril. Es riecht noch immer nach Bleichmitteln, und dieser Geruch verbindet sich mit dem der frischen weißen Wandfarbe. Ich wünschte, die Lehrerin würde ein Fenster aufmachen, um eine Brise hereinzulassen. Aber wir befinden uns hier im dritten Stock, und so lässt sich keines öffnen – vorsichtshalber, falls jemand plötzlich den Drang zu springen verspüren sollte.
Ich starre noch auf den Fragebogen auf meinem Pult, als sich Kendra Phillips herumdreht, ihre Augen mit den purpurfarbenen Kontaktlinsen auf mich richtet und mich eingehend mustert.
»Bist du immer noch nicht fertig?«
Ich schaue an ihr vorbei nach vorn, um mich zu vergewissern, dass Mrs. Portman nicht aufpasst, dann lächele ich. »Es ist noch viel zu früh am Morgen, um sich selbst genau zu analysieren«, flüstere ich. »Da hätte ich doch fast schon lieber Physik.«
»Vielleicht würde dir ein Kaffee helfen, mit QuikDeath gewürzt, dich auf den Schmerz zu konzentrieren.«
Mein Gesichtsausdruck gerät mir plötzlich außer Kontrolle, mein Herz beginnt zu rasen. Einfach nur, weil sie dieses Gift erwähnt hat. Dennoch halte ich Kendras leerem Blick stand – der so leblos ist, dass selbst die purpurnen Kontaktlinsen es nicht verbergen können.
Unter ihren Augen liegen tiefe Ringe, die Anzeichen des Schlafmangels, ihr Gesicht ist schmal geworden, hat scharfe Linien bekommen. Typen wie sie können mir mächtig Ärger einbringen, und doch vermag ich nicht wegzusehen.
Ich kenne Kendra schon ewig, aber richtige Freundinnen sind wir nicht. Vor allem jetzt nicht. Nicht, wenn sie sich so depressiv verhält, seit fast einem Monat schon. Sonst bemühe ich mich, ihr aus dem Weg zu gehen, aber heute hat sie etwas so Verzweifeltes an sich, dass ich es einfach nicht ignorieren kann. Irgendwie scheint ihr Körper zu zittern, obwohl sie ganz still dasitzt.
»Mein Gott, jetzt schau nicht so ernst drein«, sagt sie und hebt eine knochige Schulter. »War doch nur ein Scherz, Sloane. Ach ja«, fügt sie hinzu, als sei ihr gerade der eigentliche Grund eingefallen, weshalb sie sich umgedreht hat. »Rat mal, wen ich gestern Abend im Wellness Center gesehen habe? Lacey Klamath«, sagt sie und beugt sich zu mir hin.
Mir verschlägt es die Sprache. Ich hatte keine Ahnung, dass Lacey zurückgekommen ist.
In diesem Moment öffnet sich die Tür mit einem Klicken. Ich erstarre, als ich den Blick wieder nach vorn richte, und plötzlich ist mir, als würde mir die Luft abgeschnürt. Der Tag ist mit einem Mal definitiv mieser geworden.
Zwei Betreuer in gestärkten weißen Jacken und mit glatt gekämmten Haaren stehen im Türrahmen, die Gesichter ausdruckslos, während sie nach jemandem suchen. Als sie sich in Bewegung setzen, mache ich mich ganz klein.
Kendra dreht sich schnell nach vorn, den Rücken gestrafft. »Lass es nicht mich sein«, murmelt sie, die Hände wie zum Gebet gefaltet. »Bitte, nicht mich!«
Vorn an ihrem Pult beginnt Mrs. Portman mit dem Unterricht, als gebe es keine Unterbrechung. Als würde es quasi zu ihrem Vortrag über die kinetische Theorie der Materie gehören, dass Leute in weißen Kitteln in den Klassenraum schlendern. Es ist das zweite Mal in dieser Woche, dass Betreuer in den Unterricht platzen.
Die beiden Männer teilen sich auf, übernehmen jeder eine Seite des Klassenraums, kommen näher. Ihre Schritte hallen auf dem Linoleumboden wider.
Ich schaue aus dem Fenster, tue so, als würde ich beobachten, wie die Blätter draußen von den Bäumen fallen. Es ist Oktober, aber der Sommer hat sich hier in Oregon noch einmal in den Herbst geschlichen und verwöhnt uns mit unerwartetem Sonnenschein. Ich wünschte, ich könnte jetzt sonst wo sein.
Die Schritte halten inne, doch ich weigere mich, Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei rieche ich die Betreuer bereits in meiner Nähe – antiseptisch, wie Franzbranntwein und Wundpflaster. Ich wage nicht, mich zu rühren.
»Kendra Phillips«, sagt eine sanfte Stimme, »würdest du bitte mit uns kommen?«
Ich halte den Laut zurück, der versucht, aus meiner Kehle zu entfliehen und der sowohl Erleichterung als auch Mitleid entspringt. Ich weigere mich, zu Kendra hinzusehen, starr vor Angst, dass die Betreuer auf mich aufmerksam werden könnten. Bitte, achtet gar nicht auf mich.
»Nein«, sagt Kendra zu ihnen, »ich bin nicht krank.« Ihre Stimme klingt erstickt.
»Miss Phillips …« Da ist die andere, die sanfte Stimme wieder, und diesmal muss ich hinsehen.
Der dunkelhaarige Betreuer beugt sich vor, um Kendra am Ellbogen zu packen und sie fortzuführen.
Doch Kendra beginnt um sich zu schlagen, reißt sich los und will lautstark ihren Protest herausschreien.
Beide Männer stürzen sich auf Kendra, die immer noch um sich schlägt und schreit. Sie ist höchstens einsfünfzig, aber sie kämpft wie wild. Wilder als die anderen.
Ich spüre, wie die Anspannung vom Rest der Klasse abfällt. Wir alle hoffen, dass es schnell vorbei ist. Hoffen, dass wir einen weiteren Tag überstehen, ohne ausgesondert zu werden.
»Ich bin nicht krank!«, ruft Kendra, die sich erneut losreißen kann.
Endlich unterbricht Mrs. Portman ihren Unterricht. Sie schaut etwas entnervt drein. Die Ruhe, die sie auszustrahlen versucht, ist brüchig. Ein Mädchen in meiner Nähe fängt zu heulen an, und ich würde ihr am liebsten sagen, dass sie still sein soll, doch ich will keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Sie muss schon selbst auf sich aufpassen.
Der dunkelhaarige Betreuer schlingt seine Arme um Kendras Taille und hebt sie hoch, obwohl sie um sich tritt.
Ein ganzer Schwall von Obszönitäten ergießt sich aus Kendras Mund, Speichel läuft ihr aus den Mundwinkeln. Ihr Gesicht ist ganz rot und verzerrt, und plötzlich denke ich, dass es sie schlimmer erwischt hat, als wir alle befürchtet haben. Dass dies nicht länger die wirkliche Kendra ist und es vielleicht auch schon nicht mehr war, seit ihre Schwester starb.
Bei diesem Gedanken steigen mir Tränen in die Augen, doch ich dränge sie zurück, ganz tief in mich zurück, dorthin, wo ich all meine Gefühle unter Verschluss halte, so lange, bis niemand mehr um mich ist, der mich beobachtet.
Der Betreuer legt eine Hand auf Kendras Mund, erstickt ihre Beschimpfungen und flüstert ihr beruhigende Worte ins Ohr, während er versucht, sie zur Tür zu tragen. Der zweite ist schon vorausgeeilt und hält die Tür auf.
Doch plötzlich schreit der Mann auf, der Kendra hält, lässt sie fallen und schüttelt seine Hand, als habe sie ihn gebissen.
Kendra springt auf, um wegzulaufen, doch der Betreuer macht einen Satz auf sie zu, seine geballte Faust landet mitten in ihrem Gesicht. Der Schlag schleudert sie gegen Mrs. Portmans Pult, dann geht sie zu Boden.
Die Lehrerin keucht auf, als Kendra vor ihr stürzt, doch sie weicht lediglich ein Stück zurück.
Kendras Oberlippe ist aufgeplatzt, Blut tropft auf ihren grauen Sweater und den weißen Boden. Ihr bleibt kaum Zeit zu begreifen, was geschehen ist, als der Betreuer nach ihren Knöcheln greift und sie, als wäre er ein Höhlenmensch, hinter sich her zum Ausgang zieht.
Kendra schreit und bettelt. Sie versucht, sich an allem, was greifbar ist, festzukrallen, doch sie hinterlässt lediglich eine Blutspur auf dem Boden.
Als sie schließlich an der Tür sind, hebt sie den Blick und schaut mich mit ihren purpurfarbenen Augen an, streckt eine blutigrote Hand nach mir aus, ruft verzweifelt: »Sloane!«
Und ich höre auf zu atmen.
Der Betreuer bleibt stehen, sieht über die Schulter hinweg zu mir hin. Ich habe ihn bis zu diesem Tag noch nie hier bemerkt, und irgendetwas in der Art, wie er mich betrachtet, verursacht mir eine Gänsehaut.
Ich senke den Blick.
Erst, als ich höre, wie die Tür sich schließt, wage ich wieder den Kopf zu heben. Draußen auf dem Flur verstummen Kendras Schreie abrupt, und ich frage mich flüchtig, ob man sie getasert oder ihr eine Beruhigungsspritze gesetzt hat. Egal, ich bin einfach nur froh, dass es vorbei ist.
Einige im Raum schluchzen, doch die meisten sind still. Hellrote Streifen ziehen sich immer noch vorn über den Klassenboden.
»Sloane?«, sagt die Lehrerin, und ich erschrecke. »Ich habe deine tägliche Einstufung noch nicht erhalten.« Sie geht zum Schrank, wo sie Eimer und Wischlappen aufbewahrt. Es scheint sie nicht merklich zu berühren, dass man Kendra aus der Klasse geschleift hat, nur ihre Stimme klingt ungewöhnlich hoch.
Ich schlucke hart und entschuldige mich, hole meinen Stift aus dem Rucksack. Während meine Lehrerin Bleichmittel auf den Boden kippt und uns erneut mit dem Geruch erstickt, beginne ich, meine Kreuzchen an die richtigen Stellen zu setzen.
Hast du dich schon einmal einsam oder hilflos gefühlt?
Ich starre auf das weiße Blatt, genauso eins, wie es jeden Morgen auf unseren Pulten liegt. Am liebsten würde ich es zu einer Kugel zusammenknüllen, es quer durch den Raum werfen und die Leute anbrüllen, dass sie gefälligst nicht so tun sollten, als wäre nichts mit Kendra passiert. Stattdessen atme ich tief durch und mache mein Kreuzchen.
NEIN.
Das stimmt nicht – wir alle fühlen uns einsam und hilflos. Manchmal bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt noch andere Gefühle gibt. Aber ich kenne die Routine. Ich weiß, was eine falsche Antwort anrichten kann. Nächste Frage.
Ich kreuze die restlichen Kästchen korrekt an, nur als ich zum letzten komme, halte ich kurz inne. So wie jeden Tag. Hat jemals irgendjemand, der dir nahesteht, Selbstmord begangen?
JA.
Jeden Tag diese Frage bejahen zu müssen, bringt mich fast um. Doch es ist die einzige Frage, auf die ich ehrlich antworten muss. Weil sie die Antwort bereits kennen.
Nachdem ich unterschrieben habe, nehme ich das Blatt mit zittrigen Fingern und gehe nach vorn zu Mrs. Portmans Pult, stehe auf dem feuchten Boden, wo eben noch die Spuren von Kendras Blut zu sehen waren, und bemühe mich, nicht nach unten zu schauen, während ich darauf warte, dass die Lehrerin die Putzsachen wegstellt.
»Tut mir leid«, entschuldige ich mich noch einmal, als sie das Blatt entgegennimmt. Mir fällt ein kleiner Blutspritzer auf dem Ärmel ihrer blassrosa Bluse auf, doch ich mache sie nicht darauf aufmerksam.
Sie überfliegt meine Antworten, dann nickt sie und schiebt das Blatt in die Mappe mit der Anwesenheitsliste.
Ich gehe eilig zu meinem Platz zurück, lausche auf das angespannte Schweigen. Ich warte darauf, dass die Tür erneut geöffnet wird, dass sich Schritte nähern. Doch nach einer langen Minute räuspert sich meine Lehrerin und kehrt zum Unterrichtsthema zurück. Erleichtert schließe ich die Augen.
Vor knapp vier Jahren hatte man den Selbstmord von Jugendlichen zur nationalen Epidemie erklärt – von drei Teenagern starb im Schnitt einer. Es hatte solche Selbsttötungen auch schon früher gegeben, doch ganz unvermittelt breitete sich das aus: Leute, die ich kannte, sprangen plötzlich von Gebäuden oder schnitten sich die Pulsadern auf, und bei den meisten wusste man nicht einmal, wieso. Seltsamerweise hatte sich die Selbstmordrate unter Erwachsenen nicht erhöht, was weiter zu diesem Mysterium beitrug.
Anfangs, als es zu immer mehr Selbsttötungen kam, gab es alle möglichen Gerüchte. Die Spekulationen reichten von schädigenden Impfungen im Kindesalter bis zu Pestiziden in unserer Nahrung – die Leute stürzten sich verzweifelt auf jede Erklärung. Die herrschende Meinung heute besagt, dass ein Übermaß an Antidepressiva die Körperchemie unserer Generation verändert und zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen geführt hat.
Ich jedoch weiß nicht mehr, was ich glauben soll, und echt, ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Aber die Psychologen behaupten, dass Selbstmord ansteckend sei, eine soziale Infektionskrankheit. Gemäß dem alten Spruch: »Wenn alle deine Freunde von einer Brücke sprängen, würdest du es dann nicht auch tun?« Offensichtlich lautet die Antwort Ja.
Um einen weiteren Anstieg zu bekämpfen, nimmt unser Schuldistrikt an einem Pilotprojekt teil – »Das Programm«, eine neue Philosophie in Sachen Prävention. An allen fünf Schulen werden die Schüler in Bezug auf Veränderungen in Stimmung oder Benehmen überwacht und ausgesondert, sobald man etwas Alarmierendes entdeckt. Leute, die eine Neigung zur Selbsttötung erkennen lassen, werden nicht länger zu Psychologen geschickt. Stattdessen ruft man die Betreuer.
Und dann kommen sie und holen dich.
Man wird Kendra Phillips für mindestens sechs Wochen wegsperren – sechs Wochen, die sie in einer Anstalt verbringt, in der »Das Programm« in ihrem Gehirn herumpfuscht, ihr ihre Erinnerungen nimmt. Man wird sie zwingen, Pillen zu schlucken und an Therapien teilzunehmen, bis sie nicht mehr weiß, wer sie ist. Anschließend wird man sie bis zu ihrem Abschluss auf eine kleine Privatschule schicken. Eine Schule nur für Rückkehrer, für all die leeren Seelen.
Wie Lacey.
In meiner Tasche vibriert das Handy, und ich stoße den Atem aus, den ich unwillkürlich angehalten habe. Auch ohne nachzuschauen weiß ich, was das bedeutet – James will sich mit mir treffen. Das ist genau der Anstoß, den ich brauche, um den Rest der Stunde zu überstehen. Die Tatsache, dass er auf mich wartet. Die Tatsache, dass er immer auf mich wartet.
Als wir vierzig Minuten später aus dem Klassenraum strömen, bemerke ich im Flur den dunkelhaarigen Betreuer und wie er uns beobachtet. Mich scheint er besonders lange zu mustern, aber ich bemühe mich angestrengt, so zu tun, als bemerke ich nichts. Ich halte den Kopf gesenkt und eile Richtung Sporthalle, um mich mit James zu treffen.
Bevor ich in den kaltweißen Gang mit den Doppeltüren aus Metall abbiege, vergewissere ich mich mit einem Blick über die Schulter, dass mir niemand folgt. Man kann so gut wie gar nicht mehr darauf vertrauen, dass es noch Leute gibt, die einen nicht gleich wegen verdächtigem Verhalten denunzieren. Nicht einmal die eigenen Eltern – vor allem nicht die eigenen Eltern.
Es war Laceys Vater, der »Das Programm« verständigt und ihnen gesagt hat, dass sie sich unwohl fühle. Deshalb strengen James, Miller und ich uns auch so an, zu Hause die Fassade aufrechtzuerhalten. Lächeln und plaudern, das bedeutet, ausgeglichen und gesund zu sein. Ich würde es nie wagen, meinen Eltern ein anderes Gesicht zu zeigen. Nicht mehr.
Aber sobald ich achtzehn bin, kann mir »Das Programm« nicht mehr gefährlich werden. Dann bin ich nicht mehr minderjährig, und sie dürfen mir nicht länger eine Behandlung aufzwingen. Obwohl die Gefährdung weiterhin bestehen bleibt, ist »Das Programm« an die Gesetze unseres Landes gebunden. Als Erwachsene habe ich das gottgegebene Recht, mir das Leben zu nehmen, wenn mir danach ist.
Es sei denn, die Epidemie weitet sich aus. Wer weiß, was sie dann tun.
Als ich zur Tür der Sporthalle komme, schiebe ich den kalten Metallriegel zur Seite und schlüpfe hindurch. Seit Jahren schon wird dieser Teil der Schule nicht mehr benutzt. Gleich, nachdem »Das Programm« die Kontrolle übernommen hatte, wurde Sport gestrichen, angeblich, weil dieses Fach zu viel Wettbewerbsstress für uns labile Schüler bedeutet. Jetzt stellen sie hier allen Krempel ab, den sie nicht brauchen – nicht benötigte Klassentische stapeln sich hier, genauso wie nicht benutzte Schulbücher.
»Hat dich jemand gesehen?«
Ich zucke zusammen und sehe James an, der in der schmalen Lücke hinter den abmontierten Tribünen steht. Unser Treffpunkt. Die Rüstung aus Gefühllosigkeit, die ich stets trage, bekommt Risse.
»Nein«, flüstere ich. James streckt eine Hand nach mir aus, und ich laufe zu ihm, schmiege mich eng an ihn. »Heute ist kein guter Tag«, flüstere ich an seinen Lippen.
»Es gibt kaum noch gute Tage.«
James und ich sind nun schon seit mehr als zwei Jahren zusammen, seit ich fünfzehn war. Aber ich kenne ihn bereits mein ganzes Leben. Er war der beste Freund meines Bruders. Bis Brady sich umgebracht hat.
Die Erinnerung daran nimmt mir den Atem, als würde ich darin ertrinken. Ich lasse James los und schlage meinen Hinterkopf gegen die hölzerne Tribüne. Vor Schmerz zucke ich zusammen, berühre meinen Kopf, doch ich weine nicht. Ich würde es niemals wagen, in der Schule zu weinen.
»Lass mich sehen«, bittet James und streicht mit den Fingern über die schmerzende Stelle. »Wahrscheinlich hat all das viele Haar deinen Dickkopf geschützt.« Er grinst und fährt mit seiner Hand durch meine dunklen Locken, lässt die Hand dann auf meinem Nacken liegen, eine beschützende Geste. Als ich sein Lächeln nicht erwidere, zieht er mich enger an sich heran. »Komm her«, flüstert er, als er mich in die Arme nimmt, und klingt ein wenig erschöpft.
Ich drücke ihn, lasse die Bilder von Brady in meiner Erinnerung verblassen, genau wie jenes Bild von Lacey, wie sie von Betreuern aus ihrem Elternhaus gezerrt wird. Eine meiner Hände gleitet unter den Ärmel von James’ T-Shirt, dorthin, wo sich die Tattoos befinden.
»Das Programm« raubt uns die Namen, nimmt uns unser Recht zu trauern. Denn wenn wir es tun, werden wir ausgesondert, weil wir deprimiert wirken. Also hat sich James etwas anderes ausgedacht. Mit dauerhafter Tinte hat er sich eine Liste in die Haut geritzt, von all jenen, die wir verloren haben. Angefangen mit Brady.
»Mich quälen schlimme Gedanken«, vertraue ich ihm an.
»Dann hör auf zu denken«, erwidert er nur.
»Sie haben gerade Kendra abgeholt. Es war grässlich. Und Lacey …«
»Hör auf zu denken«, wiederholt er, diesmal ein bisschen eindringlicher.
Ich schaue zu ihm auf, suche seinen Blick, und immer noch liegt diese Schwere in meiner Brust. Hier in dem Dämmerlicht kann man es kaum erkennen, doch James’ Augen sind von einem klaren Blau, einem so kristallklaren Blau, dass ein Blick reicht, um andere Leute verstummen zu lassen. Es ist großartig, wenn er das tut.
»Küss mich lieber«, murmelt er.
Ich beuge mich vor, um meine Lippen auf seine zu pressen, mich ihm auf eine Art hinzugeben, wie es mir nur bei ihm möglich ist. Es ist ein Moment, von Traurigkeit und Hoffnung erfüllt. Ein Band aus Geheimnissen und Versprechen, das uns ewig bindet.
Es ist jetzt zwei Jahre her, dass mein Bruder starb. Über Nacht hat sich unser Leben total verändert. Wir wissen nicht, warum Brady sich umgebracht hat. Warum er uns verlassen hat. Aber … nun ja, niemand weiß ja auch wirklich, was diese Epidemie ausgelöst hat. Nicht einmal »Das Programm«.
Über uns klingelt es zur nächsten Stunde, doch weder James noch ich reagieren darauf. Stattdessen berührt James’ Zunge meine, er zieht mich näher zu sich heran, vertieft unseren Kuss. Obwohl es erlaubt ist, sich zu verabreden, versuchen wir, uns in der Schule zurückzuhalten, zumindest soweit es uns möglich ist. »Das Programm« behauptet, dass uns gesunde Beziehungen emotional stärken, doch wenn eine Beziehung zerbricht, und zwar auf unangenehme Weise, dann lassen sie uns vergessen. »Das Programm« vermag alles auszulöschen.
»Ich hab meinem Dad die Autoschlüssel geklaut«, flüstert James zwischen meinen Lippen. »Was hältst du davon, wenn wir nach der Schule am Fluss schwimmen gehen? Ganz nackt?«
»Wie wär’s, wenn du dich nackt ausziehst, und ich schau einfach zu?«
»Einverstanden.«
Wir lachen, und James drückt mich noch einmal, bevor er seine Arme von mir löst. Er will mir das Haar richten, aber er zerzaust es dabei nur noch mehr.
»Wir sollten jetzt lieber in unsere Klassen gehen«, meint er schließlich. »Und richte Miller aus, er kann gern mitkommen und mir auch zusehen, wie ich nackt schwimme.«
Ich trete ein Stück zurück, hauche einen Kuss auf all meine Finger und tue so, als würde ich ihm all diese Küsse zuwerfen.
James lächelt.
Er hat immer schon gewusst, was er zu mir sagen muss. Wie er mich dazu bringen kann, dass ich mich wieder normal fühle. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ohne ihn nach Bradys Tod nicht überlebt hätte. Um genau zu sein, ich weiß, dass ich es sonst nicht geschafft hätte.
Schließlich ist Selbstmord ansteckend, oder?