1. Kapitel

Ich schlafe nicht besonders gut in jener ersten Nacht zu Hause. Das Haus ist zu ruhig, die Geräusche in meinem Kopf sind zu laut. Ich vermisse Realm, vermisse es, mit den Jungs Karten zu spielen. Ich vermisse die kleinen Freiheiten und die Einschränkungen in der Anstalt. Auf eine eigenartige Weise war ich dort zum ersten Mal auf mich allein gestellt.

Nachdem wir angehalten und Eiscreme gegessen hatten und wieder zu Hause waren, hat meine Mutter ein aufwendiges Essen gekocht und mir im Plauderton erzählt, was alles in der Zwischenzeit passiert ist. »Das Programm« ist in drei weiteren Staaten eingeführt worden, Frankreich und Deutschland haben nun ihre eigene Version davon.

Ich war mir nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte, und so habe ich nichts dazu gesagt.

Kaum wache ich am nächsten Morgen auf, wartet Mutter bereits mit der kleinen weißen Pille, die Dr. Warren mir verordnet hat, damit ich den Tag gut überstehe und entspannt bin. Während ich am Küchentisch sitze, wendet Mutter die Pfannkuchen und summt dabei ein Lied, das ich nicht recht einordnen kann. Mein Vater ist bereits zur Arbeit gefahren. Ich sitze an dem kleinen runden Tisch und starre auf den leeren Stuhl, den mein Bruder als seinen Platz beansprucht hat. Mir kommt es fast so vor, als würde er gleich in die Küche stürmen und nach seinen Lucky Charms fragen, seinen Lieblings-Cerealien.

Aber Brady ist tot. Dr. Warren hat mir erzählt, dass sein Unfalltod ein Trauma bei mir ausgelöst hat, sodass sie die Erinnerung entfernen mussten. Und jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was mit meinem Bruder passiert ist. Es ist, als befindet er sich in meinem Kopf und ist dann plötzlich weg, und dazwischen ist nichts.

Gegen Ende meiner Behandlung im »Programm« hat Dr. Warren mir dabei geholfen, meine Erinnerungen in die richtige Abfolge zu bringen und einige der Lücken dazwischen aufzufüllen. Sie sagte, der Tod meines Bruders habe die ganze Familie verstört, doch nun, da ich geheilt sei, würde es uns allen wieder gut gehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es uns jemals nicht gut gegangen wäre, also bin ich glücklich. Ich hasse die Vorstellung, nicht mit meiner Familie zusammen zu sein.

Als meine Mutter – immer noch lächelnd – mein Frühstück vor mich stellt, bedanke ich mich. Aber ich habe nicht den geringsten Appetit. Dr. Warren hat mir gesagt, dass ich niemanden an der Sumpter High kennen würde – und falls ich tatsächlich einige der anderen gekannt haben sollte, so sind sie aus meinem Gedächtnis gelöscht, weil sie ebenfalls infiziert waren.

Also fange ich ganz von vorn an. Es ist wie ein neues Leben. Wie eine neue Sloane.

Kevin, mein Betreuer, steht vor dem Haus, um mich abzuholen. Er ist höflich, fast schon freundlich, dennoch habe ich das Gefühl, dass ich mich in seiner Nähe unbehaglich fühlen sollte. Aber er nimmt mir den Rucksack ab und hält die Autotür für mich auf. Und so hake ich meine Reaktion unter jenen »verwirrten Gefühle« ab, vor denen mich Dr. Warren gewarnt hat.

Kevin scheint nicht viel älter als ich zu sein, doch wir reden nicht viel miteinander, während er mich zur Sumpter High fährt. Und ich selbst bin auch wieder zu benebelt, um irgendetwas Wichtiges zu fragen. Ich fürchte, das liegt an dem Medikament.

Als wir ankommen, betrachte ich das große, weiße Gebäude der Highschool – und finde es ein wenig einschüchternd. Kevin parkt im hinteren Bereich und kündigt per Funk an, dass ich eingetroffen bin.

Einige Schüler gehen an uns vorbei zum Eingang, manche lachen miteinander, andere sind allein – und ich frage mich, ob ich ihnen schon früher begegnet bin. Das Gefühl eines Déjà-vu erfasst mich, und ich schaue weg. Ich bin irritiert.

»Bist du okay?«, fragt Kevin, und ich zucke erschrocken zusammen.

Ich blicke ihn von der Seite her an und sehe, dass er die hellen Augenbrauen besorgt zusammengezogen hat. Ich bin nicht sicher, wem ich mich anvertrauen kann oder was überhaupt real ist, doch außer ihm ist niemand da.

»Ich hab Angst«, gestehe ich. »Weil ich mir wie … wie von allem losgelöst vorkomme. Ist das normal?«

Kevins Gesichtsausdruck verändert sich nicht. »Ja, das ist ganz normal in deiner Situation. Das wird sich in den nächsten Wochen geben. Im Moment fügt sich dein Verstand immer noch zusammen. Du fängst noch so etwas wie Echos auf, von den leeren Stellen zwischen deinen Erinnerungen, und das gibt dir das Gefühl, irgendwie ausgehöhlt zu sein. Aber diese Lücken werden sich schließen. Die Medikamente werden dich dabei unterstützen.«

Seine Worte beruhigen mich nicht, stattdessen verspüre ich einen Anflug von Traurigkeit. Doch gleich darauf habe ich das Gefühl, als spüle warmes Wasser in meinem Inneren alle Befürchtungen weg.

»O Mann«, sage ich und lege eine Hand auf meine Brust.

»Das ist der Hemmstoff aus deinen Medikamenten«, erklärt Kevin. »Er unterdrückt die Panik. Du solltest vielleicht noch eine Pille nehmen, bevor du in deine Klasse gehst.« Er holt eine Pillenbox aus dem Handschuhfach und fischt mit den Fingern eine kleine weiße heraus, gibt sie mir. Dann reicht er mir eine Flasche Wasser.

Ich nehme die Pille und starre sie an.

»Und dieses Gefühl wird wirklich verschwinden?«, vergewissere ich mich. In mir spüre ich die unterschiedlichsten Empfindungen, doch es ist schwer zu sagen, welche meine eigenen sind und welche durch die Medikamente ausgelöst werden.

»Ja«, sagt Kevin. »Es wird sich einpendeln. Irgendwann.«

Ich blicke wieder aus dem Fenster, auf die anderen Schüler. Ich fühle mich leer, doch sie alle wirken ganz normal. Glücklich sogar. Und eines Tages werde ich genauso wie sie sein. Wenn der verdammte Nebel aus meinem Kopf verschwunden ist. Ohne noch länger darüber nachzudenken, schlucke ich die Pille und lasse mich von Kevin ins Schulgebäude führen.

»Hier ist dein Plan«, sagt Kevin. »Es dürfte nicht ganz einfach sein, in den einzelnen Fächern wieder Anschluss zu finden, aber alle deine Lehrer haben ihre Unterrichtspläne für dich angepasst, sodass du den Stoff aufholen kannst. Ich bringe dich in deine Klasse, bleibe während des Unterrichts da und gehe dann mit dir zur nächsten Stunde.« Kevins graue Augen mustern mich aufmerksam.

»Ich bin ein bisschen verwirrt«, sage ich, hole tief Luft und spüre, wie die kleine weiße Pille ihre Wirkstoffe in meinem Körper ausbreitet. Meine Muskeln lockern sich, und ein Gefühl des Wohlbehagens erfüllt mich.

»Du machst das großartig«, lobt Kevin und klopft mir auf die Schulter.

Ich lächele. Kevin scheint meine Genesung tatsächlich am Herzen zu liegen, und das macht mir Mut. Ich kann Unterstützung wirklich gebrauchen.

Ich gehe in meine erste Klasse. Der Raum ist noch so gut wie leer. Ziemlich weit vorn sitzt ein Mädchen mit blonden Haaren, und sie sagt »Hi« zu mir, als ich vorbeigehe. Ich antworte mit einem Lächeln, und diese kleine Interaktion verleiht mir Sicherheit, denn anscheinend wirke ich nach außen hin normal, auch wenn ich mich an etliche Teile meines Lebens nicht erinnern kann.

»Falls du mich brauchst, ich bin da hinten«, sagt Kevin, nachdem ich mich auf meinen Platz gesetzt habe.

Er stellt sich neben den Bücherschrank, und ich blicke mich im Klassenzimmer um, bemerke die bunten Poster an den Wänden. Ich kann mich immer noch an meine alte Schule erinnern, daran, dass alles weiß gestrichen war. Hier riecht es nach Vanille – wie in der Aromatherapie. Ob sie uns beruhigen wollen?

Auf meinem Pult liegt ein Fragebogen – wie auf jedem anderen Pult in diesem Raum. Andere Schüler kommen herein, lassen ihre Taschen auf den Boden fallen und füllen den Bogen aus, legen ihn dann auf ein Tablett auf dem Lehrerpult.

Ich nehme einen frisch gespitzten Bleistift aus meinem Rucksack und lese mir die Fragen auf dem täglichen Bewertungsbogen durch. Irgendwie kommen sie mir vertraut vor.

Hast du dich am vergangenen Tag einsam oder hilflos gefühlt?

NEIN.

Ich kreuze die restlichen Kästchen an, zögere nur, als ich zur letzten Frage komme. Hat jemals irgendjemand, der dir nahestand, Selbstmord begangen?

NEIN.

Ich nehme den Bogen, zögere aber erneut, weil ich das Gefühl habe, etwas Falsches getan zu haben. Ich lese mir noch einmal die Fragen durch, doch ich kann keinen Fehler entdecken.

In diesem Moment kommt die Lehrerin herein, nickt uns allen freundlich zu. Als sie mich entdeckt, lächelt sie. »Es freut mich sehr, dich endlich kennenzulernen, Sloane«, sagt sie.

Die ganze Klasse dreht sich um und blickt mich an, Neugier liegt auf ihren Gesichtern.

Ich bin inzwischen wie in einem Traum versunken, als ich nach vorn zum Lehrerpult schwebe und meinen Fragebogen auf den Stapel lege. Doch anders als bei den übrigen Schülern schaut sich die Lehrerin meine Antworten an.

Als sie damit fertig ist, lächelt sie. »Braves Mädchen«, lobt sie, und dann wendet sie sich um, um etwas an die Tafel zu schreiben.

Kevin begleitet mich in die Cafeteria und stellt auch mein Mittagessen für mich zusammen. Er sagt, dass ich mein Gewicht stabil halten muss, gerade weil meine Medikamente Appetitmangel als Nebenwirkung haben. Und ich erkenne, dass er recht hat, denn ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal Hunger gehabt habe.

Ich sitze allein in der Cafeteria und schaue mich unauffällig um. Kevin lehnt an der Wand, mustert schweigend den Raum. Außer ihm befinden sich drei weitere Betreuer hier, die ihre Schützlinge überwachen. Dr. Warren hat mir erzählt, dass mir nach meiner Entlassung über ein paar Wochen hinweg ein Betreuer ständig zur Seite stehen wird, der mich anschließend noch weitere sechs Wochen lang kontrolliert.

Ich bin gerade bei Tag zwei angelangt.

»Kann ich mich zu dir setzen?«

Ich zucke zusammen und sehe ein Mädchen vor mir stehen. Sie ist hübsch und blond, und ich erkenne sie gleich wieder. Sie ist diejenige, die heute in der ersten Stunde »Hi« zu mir gesagt hat.

»Klar«, sage ich, obwohl sie sich bereits mir gegenüber niedergelassen hat.

»Ich bin Lacey«, stellt sie sich vor.

Ihre tiefe Stimme klingt ein wenig heiser, wie bei den Filmstars früherer Zeiten. Sie öffnet die braune Papiertüte, die sie vor sich auf den Tisch gelegt hat, und holt abgepackte Orangen-Cupcakes heraus.

Ich blicke wieder auf die Scheibe Fleisch auf meinem Teller.

»Du bist Sloane, nicht wahr?«, fragt sie.

Sie zuckt mit den Schultern. Sicher sieht sie mir an, wie überrascht ich bin, dass sie sich meinen Namen gemerkt hat.

»Na ja, Neue fallen eben auf«, meint sie. »Und wir sind nun mal neugierig, was die Rückkehrer betrifft. Jeder wird genau gecheckt, so nach dem Motto: Wird er oder wird er nicht?«

»Wird er oder wird er nicht – was?«, will ich wissen.

»Sich erinnern. Ich bin überzeugt davon, dass sich irgendwann mal einer von uns an etwas erinnern wird, und dann wird das ganze System zusammenbrechen. Ich bin eben eine Anarchistin, wenn du so willst.«

Sie grinst mich an, und ich mag sie jetzt schon. Sie ist so lebendig. Ich kann die Lebenslust spüren, die sie ausströmt.

Lacey schaut kurz zu meinem Betreuer hin. »Sie hören schon bald auf, dir auf Schritt und Tritt zu folgen«, erzählt sie und deutet mit dem Kopf auf Kevin. »Solange du keinen Mist baust.«

»Mist bauen?« Mir war bis jetzt gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich »Mist bauen« könnte, und ich habe auch keine Ahnung, was sie darunter versteht. Ich bin schließlich geheilt. Dennoch lehne ich mich vor, um mehr zu erfahren, denn Lacey war im »Programm« und hat ihre Rückkehr offenbar erfolgreich bewältigt. Vielleicht weiß sie etwas, was ich nicht weiß.

»Ich bin jetzt seit fünfzehn Wochen wieder hier.« Sie senkt die Stimme und streicht sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Und ich vermisse immer noch all das, was ›Das Programm‹ mir weggenommen hat. Anfangs war mir das egal. Ich war einfach nur froh, dass ich überlebt habe. Aber inzwischen … inzwischen grübele ich über alles Mögliche nach. Stell dir vor, sie haben behauptet, ich hätte mir das Leben nehmen wollen.« Sie flüstert und hört sich ganz so an, als hätte sie sich danach gesehnt, das endlich einmal jemandem anvertrauen zu können. »Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich … ich bin der ausgeglichenste Mensch, den ich kenne. Haben sie dir auch gesagt, dass du versucht hast, dich umzubringen?«

Ich halte ihr mein Handgelenk hin. Die schmale Narbe ist immer noch zu erkennen. »Sie haben mir erzählt, dass ich das gewesen bin.«

»Wow!«

Wir schweigen beide für einen Moment, lassen die Geheimnisse sacken, die wir uns anvertraut haben.

Dann schiebt mir Lacey einen der Cupcakes hin. »Tipp Nummer eins«, sagt sie und beißt ein Stück von ihrem ab. »Bring dir dein eigenes Mittagessen mit. Ich bin ziemlich sicher, dass sie uns Beruhigungsmittel ins Essen geben.«

Laceys Verdacht reißt mich aus meinem angenehmen Dahindämmern, und ich wünsche, ich hätte die weiße Pille am Morgen nicht genommen. Ich hätte gern einen klaren Kopf – klar genug, um zu entscheiden, ob sie einfach nur paranoid ist.

Doch erst einmal konzentriere ich mich auf den Orangen-Cupcake, breche ihn auseinander, damit ich als Erstes die Creme herauslecken kann. Und dann genießen wir den Rest der Mittagspause, vertreiben uns die Zeit mit unverfänglichen Unterhaltungen über Lehrer und Musik.

Es klingelt, und Lacey sammelt sämtliche Verpackungen ein, stopft sie in die Tüte. Ich habe das Essen auf meinem Tablett nicht angerührt, doch ich bin satt. Als Kevin sich von der Wand abstößt und auf mich zukommt, grinst Lacey mich an.

»Bring ihn dazu, dass er dich heute Abend ins Wellness Center fährt«, flüstert sie. »Wir können uns dort treffen, wenn du willst.«

»Wirklich?« Ein Lächeln drängt sich auf meine Lippen und will gar nicht mehr verschwinden. Ich habe eine Freundin gefunden, und irgendwie hebt das mein Selbstwertgefühl. Es ist etwas so Normales.

»Sieben Uhr.«

»Entschuldigung«, sagt Kevin, als er an unseren Tisch tritt. »Wir müssen gehen, Sloane.« Er nimmt das Tablett auf, das vor mir steht, und wirft mir einen missbilligenden Blick zu, als er sieht, dass ich mein Essen nicht angerührt habe. Eine Hand unter meinen Ellbogen geschoben, hilft er mir sanft beim Aufstehen. »Miss Klamath«, fügt er dann an Lacey gewandt hinzu.

Sie spitzt die Lippen und winkt ihm zu, und grinsend schüttelt er den Kopf, als sei er an ihre Mätzchen gewöhnt. Bevor ich mich überhaupt von ihr verabschieden kann, schwebt sie schon aus der Cafeteria und aus meiner Sicht.

Als sie fort ist, nimmt Kevin seine Hand von meinem Arm. »Ich bin froh, dass du dir Freunde suchst«, sagt er. »Freundschaften sind gut für deine Genesung.«

»Was hat es mit dem Wellness Center auf sich?«, will ich wissen. »Kann ich heute Abend dort hingehen?«

»Das Wellness Center wurde vom ›Programm‹ als Teil der Nachsorge eingerichtet, als ein Ort, an dem du Kontakt zu anderen aufnehmen kannst, auch zu Nicht-Rückkehrern, in einer sicheren, überwachten Umgebung. Ich habe nichts dagegen, wenn du dich dort mal umschauen möchtest. Wir müssen nur aufpassen, dass du dir nicht zu viel auf einmal zumutest. Zu viele neue Reize könnten dem Heilungsprozess abträglich sein. Apropos …«

Kevin zieht die Pillenbox aus seiner Tasche, entnimmt ihr eine weiße Pille. »Hier. Seit heute Morgen hast du keine mehr genommen. Du könntest dich wieder unbehaglich fühlen, wenn du auf sie verzichtest.«

Ich denke nach. Was passiert, wenn ich nicht genau das tue, was man mir vorschreibt? Würde man eine Weigerung als »Mist bauen« betrachten, besonders an meinem zweiten Tag?

Ich blicke mich in der Cafeteria um und frage mich, ob sich die anderen Rückkehrer an ihrem ersten Tag auch so verloren vorgekommen sind. Aber ich finde keine Antwort darauf, ich sehe lediglich, wie sie alle ihre Taschen nehmen und ihren Müll entsorgen, zu ihren Klassen eilen.

Und so schlucke ich die Pille.