4. Kapitel
Kaum bin ich nach der Schule nach Hause gekommen, renne ich in mein Zimmer und beginne zu suchen. Der Raum sieht noch fast genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, außer vielleicht ein bisschen sauberer. Obwohl ich weiß, dass einige Dinge fehlen, weiß ich nicht, welche es sind. Ich ziehe Schubladen auf, schiebe die neuen Kleider in meinem Schrank zur Seite, doch nirgendwo findet sich ein Hinweis darauf, dass ich jemals soziale Kontakte hatte. Entweder war ich ein Niemand, oder alle Leute, mit denen ich zu tun hatte, wurden aus meinem Leben gelöscht.
»Verdammt!«, sage ich, als ich die Tür meines Kleiderschranks zuknalle. Ich wollte doch nur einen Hinweis darauf – einen klitzekleinen Hinweis –, wie ich früher war. Während ich mich gründlich umschaue, ob ich vielleicht doch etwas übersehen habe, höre ich meine Mutter unten nach mir rufen.
»Sloane! Abendessen!«
Ich gehe zur Tür, aufgebracht darüber, dass ich nicht einmal das Geringste entdeckt habe, nicht einmal ein Foto. Es ist, als ob jemand hier hereingekommen wäre und alles weggewischt hätte. Was mir aber am meisten zu schaffen macht, ist die Vorstellung, dass ich überhaupt so krank war, dass man mich wegschaffen musste. Es kommt mir vollkommen unmöglich vor.
Meine Mutter und ich sind allein, weil Vater länger arbeiten muss. Ich stochere in meinen Bratkartoffeln herum. Ich will meine Mutter nach meiner Vergangenheit fragen, aber ich habe Angst, dass sie mir nichts erzählen wird. Oder dass sie es doch tun könnte. Was ist, wenn es mich tatsächlich wieder krank macht, wenn ich Bescheid weiß?
»Wie war’s in der Schule?«, erkundigt sie sich. »Hast du dich gut eingewöhnt?«
»Ziemlich gut, denke ich.« Ich kaue bedächtig. »Mom, was ist mit all meinen Klamotten passiert?«
»Wir haben dir neue gekauft. Gefallen sie dir nicht?«
»Doch, die sind in Ordnung. Ich hab mich nur gefragt, was ich früher angezogen habe.«
»Mehr oder weniger das Gleiche. Aber Dr. Warren hat uns geraten, dir neue Kleidung zu kaufen, um dir einen Neubeginn zu ermöglichen. Wenn du sie nicht magst, können wir ja mal nach der Schule zusammen shoppen gehen.« Sie lächelt. »Wär doch nett, oder?«
Ein Neubeginn. Mein Herz beginnt zu rasen. »Super«, erwidere ich halbherzig. »Ich hab mich nur gefragt …« Ich schlucke. »Würdest du mir antworten, wenn ich wissen wollte, ob ich jemals einen festen Freund hatte?«
Meine Mutter zeigt keine sichtbare Reaktion. Sie schneidet ein Stück von ihrem Hähnchen ab. »Natürlich, Schatz«, sagt sie, ohne aufzuschauen. »Du bist mit einigen Jungs ausgegangen, doch es war nie etwas Ernstes.«
»Oh.« Ich könnte nicht erklären, wieso, aber ihre Antwort bewirkt, dass ich mich schlecht fühle. »Und sonstige Freunde?«, bohre ich weiter.
Meine Mutter wirkt auf einmal gereizt. »Was soll das, Sloane? Du solltest dich um die Gegenwart kümmern, nicht um deine Vergangenheit.«
»Du hast recht«, sage ich, nur um die Falte zwischen ihren Augenbrauen verschwinden zu lassen. Wir essen weiter, doch nach einem Moment frage ich lächelnd: »Weißt du irgendetwas über einen James Murphy?« Ich schneide mir einen Bissen ab.
Meine Mutter blickt mich an. »Nein. Ist er ein Klassenkamerad von dir?«
»Wir haben Mathe zusammen, und meine Freundin meinte, dass er ein paar Wochen vor mir ins ›Programm‹ kam. Er scheint eine Art schwarzes Schaf zu sein.« Ich lache.
Meine Mutter nickt und lächelt mich freundlich an. »Dann sollte das Grund genug für dich sein, dich von ihm fernzuhalten, nicht? Das Letzte, was du so kurz nach deiner Rückkehr gebrauchen kannst, sind weitere Probleme. Du musst dich immer daran erinnern, dass es dir nicht gutging und du jetzt geheilt bist. Man erwartet von dir nicht, dass du dich in deiner Vergangenheit vergräbst, sondern dass du dich auf die Gegenwart konzentrierst.«
»Ich vergrabe mich in nichts«, erwidere ich, und meine Wangen röten sich, weil sie mich zurechtgewiesen hat. »Weil ich nämlich keine Vergangenheit habe. Kannst du nicht verstehen, wie verwirrend das ist?«
»Ich bin sicher, dass es das ist. Aber sie haben die Erinnerungen entfernt, die verdorben waren. Und wenn du weiterhin in deinen Gedanken herumwühlst, dann wird dir die Realität entgleiten. Die Ärztin hat uns gesagt …«
»Woher willst du wissen, dass sie mir nur die schlechten Erinnerungen weggenommen haben?«, frage ich herausfordernd. »Ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich weiß nicht einmal, was mit Brady passiert ist, nur dass er nicht mehr lebt. Was ist mit ihm passiert?«
»Er ist ertrunken«, antwortet meine Mutter schlicht, als ob das eine ausreichende Erklärung wäre. Doch das wusste ich bereits. Dr. Warren hat es mir in einer der Therapiesitzungen erzählt. Aber niemand hat mir irgendwelche Einzelheiten gesagt.
»Wie?«
»Sloane!«, sagt Mutter warnend.
»Wer sagt denn, dass sie wirklich nur das ausgelöscht haben, was sie auslöschen sollten?«, frage ich. »In meinem Leben gibt es so viele Lücken und …«
»Die Diskussion ist beendet«, sagt meine Mutter schroff. Wir schauen uns an, und ich erkenne, dass sie voller Panik ist. »Du hast versucht, dir das Leben zu nehmen, Sloane. Sie haben uns erzählt, dass du auch im ›Programm‹ widerspenstig warst. Wir hätten dich verlieren können, genau wie wir deinen Bruder verloren haben. ›Das Programm‹ hat dich am Leben erhalten, und für mich ist das eine Gnade. Sämtliche Unannehmlichkeiten, die du jetzt noch empfinden magst, werden sich bald geben. Aber wenn du es nicht ertragen kannst, dann sollten wir uns vielleicht mit deiner Ärztin in Verbindung setzen und fragen, ob es nicht eine weitere Behandlungsmöglichkeit für dich gibt. Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen.« Sie beginnt zu weinen. »Ich kann es einfach nicht.«
Mutter schiebt den Stuhl zurück, lässt ihr kaum angerührtes Essen stehen und verschwindet in ihrem Schlafzimmer.
Ich fühle mich schuldig, als ob ich bloß ein Problem bin, das stets von Neuem auftritt.
Und so werfe ich meine Serviette hin und ziehe mich nach oben in mein Zimmer zurück.
Eine Stunde später klopft meine Mutter an meine Tür und fragt, ob sie mit mir reden kann. Ich lasse sie herein, schäme mich immer noch, dass ich sie so aufgeregt habe. Sie sieht älter aus als in meinen Erinnerungen, was mich auf die Idee bringt, dass selbst die Erinnerungen, die ich noch besitze, nicht korrekt sind.
»Was deinen Bruder betrifft«, beginnt sie und setzt sich neben mich aufs Bett, »so war das ein tragischer Verlust für uns. Einer, an den wir alle uns lieber nicht mehr erinnern möchten.«
»Was ist mit ihm passiert?« Kälte breitet sich in meinem Körper aus. »Brady war ein toller Schwimmer. Wie konnte er ertrinken?«
»Es war ein Bootsunglück, beim Rafting. Und deine Ärzte mussten die Erinnerung daran entfernen, weil es ein solches Trauma für dich war. Sie waren der Meinung, dass es zu deiner Erkrankung beigetragen hat, weil du dachtest, er könnte es mit Absicht gemacht haben.«
Bis dahin war ich noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich mein Bruder etwas angetan haben könnte. Brady hätte doch nicht so etwas Selbstsüchtiges getan. Er hat uns geliebt. Wir waren glücklich.
»Ich vermisse ihn«, gestehe ich meiner Mutter und schaue sie an.
Sie zwinkert ihre Tränen weg und lächelt traurig. »Ich vermisse ihn auch. Aber wir mussten weitermachen, als Familie zusammenstehen. Dein Bruder ertrank im Fluss, und es war eine Katastrophe für uns. Dennoch haben wir inzwischen unseren Frieden zurückgewonnen. Lass uns also diesen Schmerz nicht erneut durchleben. Versprichst du mir das?«
Es fühlt sich an, als würde mir etwas die Brust zusammendrücken, und ich denke, dass ihre Bitte unfair ist, zumal ich mich nicht daran erinnern kann, wie ich meinen Bruder verloren habe. Die Angelegenheit ist für mich nicht abgeschlossen, doch gerade das brauche ich, einen Abschluss und die Möglichkeit zu trauern, nun, da ich wieder zu Hause bin.
Doch stattdessen nicke ich nur, und meine Mutter tätschelt meinen Oberschenkel.
Und als wäre nun alles geklärt, fügt sie hinzu: »So, und jetzt erzähl mir alles über die Freunde, die du gefunden hast.«
»Oh …« Ich runzele die Stirn, überrascht von diesem Themenwechsel. »Nun ja, es gibt nur eine Freundin. Lacey. Ich hab dir doch schon von ihr erzählt. Sie ist wirklich nett. Ich denke, du würdest sie mögen.« Ich bin nicht sicher, ob das tatsächlich der Fall wäre, aber ich hoffe, dass Mutter dann nicht mehr so vorsichtig ist, was mich betrifft. »Ich hab mir überlegt, sie vielleicht mal zum Abendessen zu uns einzuladen.«
Mutter denkt nach, presst die Lippen zusammen. »Eventuell in ein paar Wochen, wenn sich alles eingespielt hat.«
Mir gefällt ihre Antwort nicht, doch ich sage nichts dazu.
»Und der Junge?«, fragt sie beiläufig.
Ich lache. »Es gibt keinen Jungen. Ich war nur neugierig wegen diesem James in meiner Matheklasse. Aber der ist unwichtig.«
Meine Mutter lächelt, doch es wirkt gezwungen, und ich spüre, wie mir das Herz in die Zehenspitzen sinkt. Sie wird nicht erlauben, dass Lacey zu uns kommt, und ganz sicher wird sie mir nicht erlauben, mich mit einem Jungen zu verabreden – wahrscheinlich niemals mehr. Immer stärker wird der Gedanke, dass ich Realm finden muss, denn ich fürchte, es gibt niemanden sonst, dem ich mich anvertrauen kann. Er hat mir gesagt, dass ich warten soll, bis ich mich auf die Suche nach ihm mache, aber das kann ich nicht. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann, jemanden, der mich versteht. Ich frage mich, ob Kevin mich jetzt schon zu ihm bringen würde.
Meine Mutter streckt die Hand aus und streicht mir das Haar hinters Ohr. »Ich bin froh, dass wir uns unterhalten haben«, sagt sie und schaut mich liebevoll an. »Wir sind so glücklich, dass du wieder bei uns bist, Schatz. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir dich vermisst haben.«
Ich versichere ihr, dass ich sie auch vermisst habe, aber mich beschäftigt vielmehr dieser Schmerz, der tief in meiner Brust entstanden ist, ein Kummer, den ich nicht einordnen kann und nicht verstehe. Es ist wie eine Sehnsucht; ob nach meinem eigenen Ich oder nach jemand anderem, das weiß ich nicht. Ein Teil von mir fehlt, und ich fürchte, dass ich ihn nie mehr zurückgewinnen kann, was auch immer ich tun mag.
Es ist fast zwei Wochen später, und ich sitze wieder in meiner Matheklasse. Kevin hat mir erklärt, dass ich noch nicht bereit sei, Realm wiederzusehen, weil ich noch nicht vollständig wiederhergestellt bin. Genau das aber sei die Voraussetzung. Und er hat mich mahnend darauf hingewiesen, dass er sich nicht nur deshalb um mich kümmert, um Realm einen Gefallen zu tun, sondern weil er aufrichtig um meine Gesundheit besorgt ist, und dies sei seine Priorität.
James Murphy sitzt auf dem Platz neben mir, hört aufmerksam der Lehrerin zu. Ich senke den Kopf, lasse mein Haar nach vorn fallen, damit es die rechte Seite meines Gesichts verdeckt, sodass ich James durch den Vorhang meines dunklen Haars beobachten kann.
Die Narben auf seinem Arm zeigen merkwürdige Zickzacklinien. Ich kann mir nicht vorstellen, was eine solche Verletzung verursacht haben könnte, und auch nicht, warum sie nicht hässlich wirken und weiß sind statt rosa wie sonst. Ob er sich verbrannt hat?
James sieht zu mir herüber, bemerkt, dass ich auf seinen Arm gestarrt habe. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Dann blickt er wieder nach vorn, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich schlucke.
Ich wende mich erneut meinem Schreibblock zu, schreibe ein paar Aufgaben von der Tafel ab. Ich werfe einen Blick zu Kevin hinüber, der in einen Tagtraum versunken aus dem Fenster sieht. Wieder spähe ich zu James hin, denn dass er mich ignoriert, weckt meine Neugier erst recht. Und obwohl ich ihn nicht abschätzend mustere, stelle ich doch fest, wie attraktiv er ist – ich meine, das kann man nun nicht wirklich übersehen.
Er ist nicht extra gestylt, das Kinn unrasiert, die Stoppeln ein wenig dunkler als seine Haare. Als mein Blick auf seinen Mund fällt, registriere ich, dass ein feines Lächeln auf seinen Lippen liegt, obwohl er immer noch stur nach vorn schaut.
Dann beugt sich James vor, blättert eine Seite in seinem Block um und schreibt schnell etwas auf das Blatt.
Ich beobachte, wie er den spiralgebundenen Block zu mir herüberschiebt, dabei immer noch angestrengt nach vorn starrend. Ich bin nicht sicher, was er damit bezweckt, als er leise mit dem Finger auf das Blatt tippt.
Und dann begreife ich plötzlich, dass er will, dass ich lese, was er geschrieben hat. Ich beuge mich leicht zur Seite.
Wieso starrst du mich so an?
Er wirft einen Blick in meine Richtung, und ich spüre, wie ich vor Verlegenheit ganz rot werde. Ich zucke mit den Schultern.
James nickt, schreibt erneut etwas auf das Blatt.
Ich krieg ja schon Komplexe.
Ich versuche, mein Lachen zu ersticken, indem ich meinen Mund mit der Hand bedecke. Fast die halbe Klasse dreht sich bei diesem Laut nach mir um, aber James wirkt wie die Unschuld in Person, schlägt hastig die ursprüngliche Seite auf und faltet die Hände.
»Gibt es ein Problem, Sloane?«, fragt die Lehrerin. Innerhalb von Sekunden steht Kevin neben meinem Tisch. Er wirkt besorgt.
»Nein«, versichere ich. »Tut mir leid. Ich habe mich nur an meinem Kaugummi verschluckt.«
»Vielleicht sind deshalb Kaugummis im Unterricht nicht erlaubt«, erwidert sie, offensichtlich verärgert über die Unterbrechung.
»Alles wieder okay?«, flüstert Kevin. »Sollen wir nach draußen gehen, damit du besser Luft bekommst?«
»Ist nicht nötig«, sage ich sofort. »Mir geht’s gut. Wirklich.«
Kevin betrachtet James mit einem nervösen Blick, dann geht er nach vorn und unterbricht die Lehrerin mitten im Satz. Ich wage es nicht, zu James hinzusehen, aber ich fühle, dass er mich beobachtet.
»Natürlich«, sagt die Lehrerin zu meinem Betreuer. »Sloane, würdest du dich bitte nach vorn setzen?«
Ich raffe schnell meine Sachen zusammen und suche mir einen freien Platz schräg vor dem Lehrerpult, bleibe dort bis zum Ende des Unterrichts sitzen und fühle mich irgendwie gedemütigt. Und vielleicht auch ein bisschen besonders.
Nach dem Unterricht nimmt mich Kevin beiseite. »Was war da eben los?«, will er wissen und sieht mich eindringlich an.
»Ich musste lachen. Das war alles.« Es gefällt mir nicht, dass er so neugierig ist, doch dann sage ich mir, dass ein normaler Betreuer viel strenger nachforschen würde als Kevin.
»Kennst du James Murphy näher?«, will er wissen.
»Nein.«
Kevin atmet erleichtert aus und richtet sich auf. »Dann sollte das auch so bleiben, Sloane. James gehört nicht zu der Sorte Jungen, die du näher kennenlernen möchtest. Ich kann dich nicht beschützen, falls du diesen Weg einschlägst.«
»Und welcher Weg wäre das?«
»Der Weg der Selbstzerstörung. Versprich mir, dass du dich von James fernhalten wirst. Bitte!«
Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreiben will, mit wem ich zusammen sein darf und mit wem nicht. Aber Kevin sieht mich so flehend an, dass ich nicke, obwohl ich weiß, dass ich dieses Versprechen nur schwer halten kann.