10. Kapitel
Nach einem temporeichen Kartenspiel ziehen Realm und ich uns auf die Couch zurück, um mit ein paar anderen einen Film zu sehen. Ich habe die Beine hochgezogen und mich an Realm gelehnt, und niemand sagt etwas: Keine Schwester befiehlt uns auseinanderzurutschen. Wir können tun, was wir wollen, und es ist herrlich. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, etwas selbst bestimmen zu können.
Als Schwester Kell hereinkommt und sagt, dass es Zeit sei, auf unsere Zimmer zu gehen, zieht Realm mich in die andere Richtung.
»Hast du Lust, noch ein bisschen bei mir abzuhängen?«, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern, nehme seinen Arm, als wir den Flur hinuntergehen.
Er öffnet die Tür und lässt mich eintreten, dann schaut er sich noch einmal nach allen Seiten um, bevor er die Tür hinter uns schließt.
»Macht doch Spaß, sie ein bisschen auszutricksen, oder?«, sagt er.
»Ja. Dabei hatte ich echt gedacht, nichts kann es toppen, ständig mit Medikamenten zugedröhnt zu sein.« Ich lache, doch auf Realms Gesicht legt sich ein ernster Ausdruck.
Er setzt sich auf sein Bett, während ich auf dem Stuhl gegenüber Platz nehme und dann anfange, unruhig hin und her zu rutschen. Ich weiß, dass er über Roger sprechen will.
»Sloane, ich muss das fragen … Hat er dich vergewaltigt?«
»Was?« Ich schaue ihn erschrocken an. »Nein.«
»Was ist dann passiert?« Realm schluckt, und ich weiß, dass es keinen Zweck hat, etwas abstreiten zu wollen.
»Er hat mir einen Tausch angeboten.«
»O Gott!«
»Er wollte einen Kuss. Und ein bisschen … anfassen. Aber als er mich angepackt hat, hab ich das Knie richtig fest hochgezogen. Es war wirklich nur ein Kuss.« Mir wird schon schlecht, als ich nur daran denke, und ich senke den Kopf, weil ich nicht will, dass Realm mein Gesicht sieht.
»Und was hat er dir dafür gegeben?«
»Eine Pille. Er versprach, dass ich damit eine Erinnerung festhalten könnte.«
Realm flucht leise vor sich hin, reibt sich heftig mit beiden Handflächen durchs Gesicht. »Ich bring ihn um«, sagt er mehr zu sich selbst. »Ich hab ihm gesagt, er soll dich in Ruhe lassen.«
»Er hat das auch mit anderen gemacht, nicht wahr?«, frage ich.
Realm nickt, dann schaut er mich mit einem schmerzlichen Ausdruck in den Augen an. »Ich fürchte, das geht wohl schon eine ganze Weile so.«
Ich krümme mich zusammen, als ich daran denke, dass einige Mädchen hier mit diesem Freak Sex hatten, und ich kann nicht fassen, dass ich ihm jemals erlaubt habe, mich zu berühren. Aber ich wollte doch mein Leben behalten. Mich behalten. Doch ich komme mir dumm vor und beschmutzt, und ich schlinge die Arme um mich, als ich mich auf dem Stuhl zurücklehne.
»Sie wirkt nicht, diese Pille, weißt du«, sagt Realm. »Wird eine Erinnerung aus dem Kontext gerissen, kommt sie nie mehr zurück oder macht keinen Sinn. Du solltest die Pille nicht nehmen.«
Ich zucke zusammen, als ob man mich geschlagen hätte. Ich habe zugelassen, dass Roger mich anfasst, und nun bekomme ich nicht einmal das dafür, was er mir versprochen hat. Es war umsonst. Ich habe das alles für nichts getan.
»Sie wirkt nicht?«, frage ich, und meine Stimme klingt angespannt.
Realm schüttelt den Kopf.
Meine Welt bricht auseinander. Meine einzige Hoffnung ist ausgelöscht. Ich habe alles darauf gesetzt, dass ich diese Erinnerung behalte. Jetzt bin ich wirklich verloren.
»Du solltest mir die Pille geben«, sagt er.
»Geht nicht«, erwidere ich ruhig. »Ich habe sie schon genommen.«
Ärger flammt in Realms Augen auf. »Du Närrin«, sagt er. »Du hättest dich damit umbringen können.«
Verwirrt senke ich den Kopf. Realms grobe Worte tun weh. Ich stehe auf, doch er greift schnell nach meiner Hand.
»Tut mir leid«, flüstert er. »Ich habe das nicht böse gemeint. Bitte bleib hier, Sloane. Ich bin einfach nur frustriert.« Er spricht nicht weiter, und als ich endlich aufblicke, atmet er tief aus. »Tut mir leid«, wiederholt er und löst seine Finger von meinen. »Lass uns das Thema wechseln, ja?«
Weil ich nicht weiß, wohin ich sonst gehen soll, setze ich mich wieder. »Such dir eins aus«, sage ich. Realm nimmt immer so bereitwillig alles hin, was mit dem »Programm« zu tun hat, wehrt sich nicht dagegen, dass sie ihm seine Vergangenheit nehmen. Aber ich bin anders. Ich will mich nicht ändern.
Realm rutscht ein Stück beiseite und klopft auf die Decke neben sich. »Möchtest du dich zu mir setzen?«, fragt er.
Ich nicke und klettere neben ihn auf die Matratze.
»Es wird alles gut«, sagt er sanft. »Du hast es doch bald hinter dir.«
Ich starre ihn an, und es ist, als würde jemand die Luft aus mir herauspressen. »Ist das alles, worauf ich mich noch freuen kann? Auf den Zeitpunkt, an dem ich leer bin?«
Er lächelt traurig. »Es tut nicht mehr weh, wenn du erst einmal alles vergessen hast. Es ist das Einzige, was uns jetzt noch retten kann.« Er beugt sich zu mir und lehnt seine Stirn an meine. »Wir können so nicht weitermachen«, flüstert er. »Hier drin hast du ein riesiges Loch.« Er legt seine Hand auf mein Herz; es ist eine intime und fast schon tröstliche Berührung. Aber ich habe keine Schmetterlinge im Bauch, und es ist auch nicht romantisch – ich empfinde nichts in dieser Art für ihn. Dennoch es ist eine Berührung, bei der ich mich wie ein Mensch fühle. Lebendig.
»Ich weiß nicht, ob ich es schaffe«, sage ich und schließe die Augen.
»Du schaffst es. Du bist doch schon so weit gekommen. Und, verdammt, du bist wenigstens nicht gestorben, oder?« Er lehnt sich wieder zurück und umfasst mein Kinn, bringt mich so dazu, ihn anzuschauen. »Und jetzt möchte ich, dass du mich hältst«, scherzt er und zieht mich an sich, als wir uns zurück in die Kissen lehnen.
»Was ein Glück, dass wir beide zur selben Zeit hier sind«, fährt er fort und beginnt, mit meinem Haar zu spielen. »Sonst müsste ich mit Schwester Kell kuscheln.«
Ich lache und lege meine Hand auf seine Brust, auf sein Herz. Und bin überrascht, wie schnell es klopft. »Bist du nervös?«, will ich wissen.
»Nun, ich liege mit einem hübschen Mädchen auf dem Bett. Ich fürchte, diese Art von Reaktion kann ich nicht kontrollieren.«
Ich setze mich auf, Realm aber rutscht tiefer, bis er flach auf dem Bett liegt. Ich stütze mich auf meinen Ellbogen und betrachte sein Gesicht. Die Verfärbung unter seinem Auge ist verblasst, und seine Haut wirkt gesünder als bei unserer ersten Begegnung. Die Narbe an seinem Hals verheilt, und ich frage mich, wie alt sie ist. Mit dem Zeigefinger fahre ich die gezackte rosa Linie nach.
Realm hält den Atem an, und der Blick seiner dunklen Augen sucht meinen.
»Tut es immer noch weh?«, frage ich.
Realm antwortet nicht gleich, fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Dann sagt er: »Jeden Tag.«
Ich halte inne, mein Finger liegt unter seinem Kinn. »Mir auch«, erwidere ich.
Realm zieht mich näher an sich heran, und ich weiche nicht zurück. Ich bin so einsam, alles in mir ist zerbrochen, und ich glaube nicht, dass ich jemals wieder neu zusammengesetzt werden kann. Mit jemandem zusammen zu sein, könnte mich dies für eine Weile vergessen lassen. Realm ist gut zu mir. Er ist mein Freund.
Doch als er sich vorbeugt, zieht sich etwas in mir zusammen. Einen Moment, bevor seine Lippen meine berühren, drehe ich das Gesicht weg, sodass sein Mund stattdessen meine Wange streift.
»Ich kann nicht«, murmele ich. Realm ist nicht mein fester Freund. Er ist nicht James.
Ich schließe die Augen und lehne den Kopf an seine Brust, umarme ihn und hoffe, dass er mich nicht wegschickt. Ich will jetzt nicht allein sein. Realm beginnt sofort, sich zu entschuldigen, doch ich unterbreche ihn.
»Es liegt nicht an dir. Ich bin nun mal mit … mit James zusammen«, erkläre ich ihm, nicht sicher, ob das grausam ist. »Ich liebe ihn.«
Realm bewegt sich, aber er schiebt mich nicht weg. Stattdessen schließt er seine Arme um mich. »Ich verstehe«, flüstert er.
»Ich werde ihn wiederfinden«, sage ich, jedoch mehr zu mir selbst. »›Das Programm‹ kann James nicht auch noch aus meinem Herzen löschen. Ich weiß, dass sie es nicht können.«
»Wenn es euch bestimmt ist …«, meint Realm und hört sich an wie meine Mutter. Doch ich höre auch heraus, dass er verletzt ist.
Ich antworte nicht und lasse ihn mich einfach halten, obwohl ich weiß, dass ich nicht so mit ihm zusammen sein sollte.
Doch niemand kommt herein, um mich in mein Zimmer zu scheuchen. Und bevor ich einschlafe, denke ich noch, dass ich kein schlechtes Gewissen mehr habe – wenigstens für diesen Moment.
Ich bin angenehm empfindungslos geworden.