7. Kapitel
Geschrei draußen auf dem Flur weckt mich. Ich setze mich abrupt auf, was ich augenblicklich bereue, weil ich das Gefühl habe, dass mir mein Gehirn gleich aus dem Schädel fällt. Kopfschmerzen peinigen mich, als ich versuche, mich zurechtzufinden, und mich in dem unvertrauten Raum umschaue.
»Michael!« Das hört sich wie die energische Stimme von Schwester Kell an. »Du lässt ihn sofort los!«
»Lass bloß deine Finger von ihr, oder ich schwöre bei Gott, dass ich dich eigenhändig umbringen werde!«
Ich ziehe laut den Atem ein, denn ich bin sicher, dass das Realms Stimme ist. Ich steige schnell aus dem Bett und gehe zur Tür, öffne sie gerade einen Spalt breit, damit ich hinausblicken kann.
Ein Stück den Flur hinunter hat Realm Roger gegen die Wand gedrückt, den angewinkelten Arm an dessen Kehle.
Aber Roger sagt kein Wort. Er erwidert Realms Blick, als wolle er ihn herausfordern.
»Michael«, sagt Schwester Kell erneut, doch diesmal klingt es sanfter. Sie berührt ihn am Arm, den er so plötzlich sinken lässt, dass Roger stolpert und zu Boden fällt. Für einen Moment befürchte ich, dass Realm ihn treten wird. Stattdessen macht er einen Schritt zurück, doch er scheint sich nur mit Mühe zu beherrschen.
Als ich die Tür ein bisschen weiter öffne, knarrt sie, und alle drei blicken zu mir hin. Realm dreht sich um, und ich sehe, dass eines seiner Augen zugeschwollen ist.
Schwester Kell scheint plötzlich verärgert. »Sloane, du gehst sofort in dein Zimmer!«, befiehlt sie, dann packt sie Realm grob am Ellbogen. »Und mit dir wird Dr. Warren ein Wörtchen reden!«, zischt sie.
Realm sieht mich an und zuckt mit den Schultern, fast so, als wolle er sich entschuldigen, dann lässt er sich von ihr fortziehen.
Mein Herz klopft heftig, während es sich mit Sorge füllt. Was, wenn sie ihn wegschicken? Ihm wehtun? Realm ist mein einziger Freund. Was ist, wenn sie ihn mir auch noch wegnehmen?
Erst dann denke ich an Roger. Er hockt immer noch auf dem Boden. Als unsere Blicke sich treffen, zwinkert er mir zu, dann steht er auf und humpelt davon.
Ich warte im Speisesaal, rühre mein Essen nicht an. Ich sitze ganz für mich allein. Sie haben Realm noch nicht zurückgebracht, und ich bin total in Panik. Ich habe niemandem erzählt, was ich beobachtet habe, aber ich hab gehört, wie Derek und die anderen Jungs sagten, Realm habe einen Betreuer zusammengeschlagen und würde nun in eine andere Einrichtung verlegt. Meine Finger zittern, als ich versuche, einen Löffel Wackelpudding zu essen.
»Kann ich mich zu dir setzen?«, fragt Tabitha und zeigt auf den leeren Stuhl mir gegenüber.
»Oh. Klar.« Es bietet mir die Möglichkeit, sie zum ersten Mal aus der Nähe zu betrachten. Ihr Haar ist rot gefärbt, an den Wurzeln kann man erkennen, dass es von Natur aus dunkel ist. Ihre Haut ist blass, ihre Augen zeigen ein helles Haselnussbraun. Sie ist hübsch, wenn auch auf diese Emo-Art. Sie erinnert mich irgendwie an Lacey – an die alte Lacey.
»Ich sehe da einen Verband«, sagt sie und beginnt zu essen. »Hast du versucht, dir die Pulsadern aufzuschneiden?«
»Irgendwie schon. Aber ich wollte mich nicht umbringen. Ich war einfach angepisst.«
Sie lacht. »Ja. Natürlich. Und wo steckt Realm?«, fügt sie hinzu, und ich vermute, dass es das ist, was sie von Anfang an wissen wollte. »Er meinte, ich könnte heute Abend mit ihm Karten spielen. Oh …« Sie macht eine Pause, lächelt. »Vielleicht lässt er dich ja auch mitspielen. Er ist ziemlich nett. Und sieht gut aus, oder?«
Ich starre sie an, suche nach äußeren Anzeichen dafür, dass sie einen Hirnschaden davongetragen hat. Ich habe noch nie gehört, dass jemand QuikDeath überlebt hätte. Lacey hatte sich überlegt, ob sie es nehmen sollte. Sie wollte, dass Miller es zusammen mit ihr nimmt.
Moment – Miller. Was ist mit Miller passiert?
»Was guckst du so? Findest du nicht, dass er ganz schön heiß ist?« Tabitha grinst von einem Ohr zum anderen, doch ich antworte ihr nicht und schaue stattdessen auf mein Tablett.
Was, zum Teufel, ist mit Miller passiert? Mir kommt es so vor, als sei er in meinem Kopf, und dann plötzlich – weg. »O mein Gott«, sage ich, »ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Bist du okay?«, fragt Tabitha. Sie hört sich ängstlich an. »Soll ich eine Schwester holen?«
»Nein«, wehre ich schnell ab, strecke meine Hand aus und lege sie auf ihre. »Sie nehmen mir meine Erinnerungen«, flüstere ich ihr zu. »Sie löschen mich aus.«
Sie blinzelt, als würde sie ganz genau verstehen, was ich meine, doch dann wird ihr Blick glasig. »Red nicht so«, sagt sie leichthin. »Sonst kommen wir deinetwegen beide in eine andere Einrichtung und müssen noch einmal von vorn beginnen.«
Sie steht abrupt auf, nimmt ihr Tablett und geht. Meine Hände liegen auf der weißen Tischplatte und fühlen sich kalt an. Ich zittere. Erst der Ring, und jetzt Miller. Was fehlt sonst noch, was ich nicht mehr finden kann? Was passiert mit mir?
Und plötzlich weiß ich es. Plötzlich weiß ich, was ich tun muss, wenn ich das hier überleben will. Ich lasse mein Tablett auf dem Tisch stehen und gehe zu einer der Türen. Ich habe sie fast erreicht, als ein älterer Betreuer mich aufhält.
»Wo willst du hin?«, fragt er.
»Toilette.«
»Toiletten gibt es hier auch«, entgegnet er und zeigt auf den hinteren Bereich des Speiseraums.
Ich versuche, mir blitzschnell etwas auszudenken. »Aber da gibt es keine Tampons mehr.«
Er starrt mich streng an, als könnte er allein dadurch schon herausfinden, ob ich meine Tage habe oder nicht. Dann winkt er mich durch. »Beeil dich«, sagt er, dann lässt er den Blick wieder durch den Raum schweifen.
Ich eile hinaus auf den Flur, nicht sicher, wo ich ihn finden werde. Verzweiflung treibt mir heiße Tränen in die Augen, doch ich blinzele sie zurück. Ich muss stärker sein. Ich muss mich selbst retten.
Als ich an der Vorratskammer vorbeigehe, entdecke ich ihn und stoppe so plötzlich, dass ich auf meinen Hausschuhsocken schliddere. Abscheu schnürt mir den Magen zusammen, während ich beobachte, wie er die Toilettenpapierrollen durchzählt und dann die Anzahl auf einem Clipboard notiert.
Als er mich bemerkt, lächelt er. »Hallo, Miss Barstow. Kann ich was für dich tun?«
»Ja, Roger.« Ich ersticke fast an seinem Namen. »Ich schätze, das können Sie.«
Roger schließt die Kammer ab und begleitet mich zu meinem Zimmer. Die ganze Zeit über lächelt er, summt zwischendurch sogar ein Lied. Ich kann mich kaum dazu bringen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch ich habe keine Wahl. »Das Programm« zwingt mich, das zu nehmen, was ich kriegen kann.
Roger öffnet die Tür zu meinem Zimmer und macht einen Schritt beiseite, um mir den Vortritt zu lassen. Als ich an ihm vorbeigehe, nehme ich den starken Geruch nach Minze wahr, und ich weiß, ich werde nie mehr in der Lage sein, Pfefferminz zu schmecken, ohne würgen zu müssen. Ich bleibe mitten im Raum stehen, vermeide es, zum Bett hinzusehen.
Als Roger die Tür schließt und absperrt, verschränke ich die Arme vor meiner Brust. »Verraten Sie mir erst, was mit Realm passieren wird.«
Roger lacht. »Oh, ich bin sicher, Michael Realm geht es gut. Er hat die Gabe, sich aus Dingen herauszuwinden, für die ihr anderen bestraft würdet.«
Ich ziehe die Brauen zusammen. »Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass er bald zurückkehren wird. Aber ich hoffe doch, dass du mich nicht seinetwegen hierher gebeten hast, Sloane.« Er legt den Kopf schief, als sei er tatsächlich neugierig.
Ich bin starr vor Angst.
»Woher soll ich wissen, dass Sie mir wirklich meine Erinnerungen zurückgeben können?«
»Ich kann dir deine Erinnerungen nicht zurückgeben«, sagt er, fast schon entschuldigend. »Ich kann nur dabei helfen, dir einige ausgewählte Erinnerungen zu bewahren. Sie gegen die Antigene abzuschirmen.«
»Antigene?«
»Die kleinen gelben Pillen, die du nimmst«, erklärt er. »Die spüren deinen Erinnerungen nach, denjenigen, die Dr. Warren ausgewählt hat. Als Erstes nimmst du die roten Pillen – eine Art Wahrheitsserum, wenn du so willst. Während du erzählst, fungiert es zudem wie ein Marker, heftet sich an deine Gedanken. Die gelben Pillen löschen sie dann aus. Es funktioniert nicht immer exakt, aber bald schon sind weniger und weniger Erinnerungen vorhanden und daher leichter zu finden.«
Die Pillen – sie verschlingen meine Erinnerungen. Dr. Warren hat behauptet, sie würden lediglich dazu dienen, mich zu entspannen. Worüber hat sie mich noch belogen?
»Und wie genau können Sie mir helfen?«, frage ich Roger. »Was können Sie tun, um sie daran zu hindern, mich auszulöschen?«
Er langt in seine Tasche, holt einen kleinen Behälter hervor, öffnet ihn und holt mit den Fingern eine purpurrote Pille heraus. »Die hier kann dir einen einzelnen Gedanken retten, etwas, was du nicht verlieren möchtest. Dir könnte übel davon werden, aber es sollte dir das Risiko wert sein. Wenn du jedoch Dr. Warren davon erzählst, werden sie deine Erinnerungen komplett löschen. Also sei dir bewusst, dass es unser Geheimnis bleiben muss, wenn du sie nimmst.«
Ich blicke auf die kleine Pille, die er nun hochhält, nicht sicher, ob das alles stimmt oder ob er nur lügt, damit er sich an mir vergehen kann.
»Und was möchten Sie als Gegenleistung?«, frage ich, obwohl ich mich vor der Antwort fürchte.
Er lächelt, Fältchen kräuseln sich um seine Augen. »Ich bin doch kein Monster, Sloane. Vielleicht will ich ja nur einen kleinen Kuss.« Er macht eine Pause. »Diesmal.«
»Erkaufter Sex?« Mein Tonfall soll deutlich machen, wie sehr mich das abstößt, aber ich wusste, dass es darauf hinausläuft. Ich wusste es und habe ihn trotzdem gebeten, herzukommen. Und dennoch insgeheim auf eine andere Antwort gehofft.
»Natürlich nicht«, erwidert er. »Wie ich schon sagte: ein Kuss. Ein bisschen Zuneigung. Zuneigung unterstützt deine Therapie, Sloane. Haben sie dir das nicht gesagt? Allerdings denke ich, dass du das inzwischen schon selbst herausgefunden hast.«
Ich weiß, dass er damit Realm meint, aber ich mache mir nicht die Mühe, ihm zu antworten. Soll er doch glauben, dass Realm und ich zusammen sind, doch das wird niemals passieren. Ich werde zu James zurückkehren.
Ich strecke die Hand aus und nehme die Pille aus Rogers Fingern, schaue sie mir genau an. »Wie funktioniert sie?«
»Du musst dich auf eine einzelne Erinnerung konzentrieren, dann schluckst du die Pille und hältst den Gedanken fest. Misch diese Erinnerung nicht mit irgendetwas anderem oder erweitere sie, denn sonst wird sie nicht klar in deinem Kopf erhalten bleiben.«
Mein Blick wandert zwischen der Pille und dem Betreuer hin und her, meine Kehle ist trocken, meine Hände sind klamm. Es ist nur ein Kuss, aber mir erscheint es so, als würde Roger mich auffordern, von einer Brücke zu springen. Ich kann mich nicht dazu überwinden, mich ihm zu nähern, und ich spüre, wie meine Entschlossenheit bröckelt.
»Was ist es dir wert, Sloane?«, fragt er sanft. »Was ist dir deine Vergangenheit wert?«
Bei diesen Worten quellen Tränen aus meinen Augen. Ich denke an James. An Brady und Miller. Den Teil von mir, der »Das Programm« nicht überleben wird. Vielleicht kann diese eine Pille das Ergebnis verändern. Vielleicht kann sie mich retten.
»Nur ein Kuss«, stelle ich klar.
Roger lacht. »Ja, aber ich bestimme, wie lang er dauert. Und er muss gut sein, Sloane. Ich will deine Leidenschaft spüren.«
Ich wische mir die Wangen, so grob und fest, dass die Haut schmerzt. Ich schiebe die Pille in die Tasche meines Morgenmantels und mache unsicher einen Schritt nach vorn.
»Nicht, dass Sie auf falsche Ideen kommen«, flüstere ich. »Ich hasse Sie.«
Er lächelt. »Ich mag Herausforderungen.« Er packt mich grob, kneift mich in den Oberarm, als er mich an sich zieht, und sein anderer Arm kriecht wie eine Schlange um mich. Sein Mund legt sich auf meinen, kräftig und feucht.
Anfangs versuche ich, mich abzuwenden, doch da hält er mich umso fester, und als er sich gegen mich presst, kann ich spüren, wie erregt er ist.
Ich wimmere und versuche zurückzuweichen, als seine Zunge über meine Lippen leckt.
»Lass mich glauben, es wäre echt«, sagt er atemlos. »Oder ich nehme dir die Pille wieder weg.«
Er küsst mich erneut, und diesmal lasse ich seine Zunge in meinen Mund eindringen. Pfefferminz überzieht meine Lippen, und ich kann den Geschmack nicht ertragen. Ich kann dies alles nicht eine Sekunde länger aushalten.
Tränen tropfen von meinen Wangen, als er seine Hand auf meinen Hintern legt, mich eng an sich drückt. Seine andere Hand umfasst meinen Hals und beugt ihn, sodass er mich dort küssen kann.
»Du schmeckst köstlich«, flüstert er an meiner Haut.
Ich versuche, so zu tun, als wäre er James, aber Rogers Berührungen sind zu aggressiv. James hätte mich niemals so angefasst. James würde mir niemals so etwas antun.
Schon bald schluchze ich, und Roger küsst mich erneut, seine Hand schiebt sich unter mein Oberteil. Und endlich raste ich aus und ziehe mein Knie hoch, treffe jedoch nicht seine Weichteile, sondern nur seinen Oberschenkel.
Er schreit auf und springt zurück. Doch während ich vor ihm stehe und leise Schluchzer über meine Lippen dringen, lacht er nur.
»Ach, komm schon, Sloane«, sagt er kalt. »So schlimm war es nun auch nicht. Andere Mädchen haben viel mehr hergegeben.«
»Hau ab!«, stoße ich hervor und weiche zurück, bis an das Fußteil meines Betts. »Hau ab!«, schreie ich.
Er zuckt zusammen, dreht sich um zur Tür. »Also gut«, meint er und hebt eine Hand. »Aber damit das klar ist zwischen uns: Solltest du jemandem etwas verraten …«
»Ich weiß.« Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen. Ich spucke seinen Geschmack aus, direkt vor ihm auf den Linoleumboden, und er schaut darauf, überrascht, dass ich so zornig bin.
»Für die nächste Dosis will ich blanke Haut«, sagt er. »Und ich schlage vor, dass du dich besser beherrscht, denn ich stehe nicht auf Heulerei.« Nach diesen Worten dreht er sich um und geht, zieht die Tür hinter sich zu.