5. Kapitel

Als James den Wagen geparkt hat und ich gerade aussteigen will, greift er nach meiner Hand.

»Hey, ich muss dir noch was sagen, bevor du reingehst«, sagt er ernst.

Mein Herz setzt für einen Schlag aus. »Was?«

»Ich wollte nicht darüber reden, solange wir noch bei dir zu Hause waren. Miller ist heute Nacht in Laceys Schlafzimmer eingedrungen, weil er mit ihr sprechen wollte. Er glaubt, dass sie ihn heute abholen werden. Den Rest kann er dir ja selbst erzählen. Aber sonst ist er okay. Er lebt noch.«

Ich versuche, ganz tief durchzuatmen. Senke den Kopf und löse meine Hand aus der von James, stütze mich am Armaturenbrett ab.

»Er ist okay?«, wiederhole ich und sehe James von der Seite her an.

Er nickt, doch ich bin nicht erleichtert. Etwas in seinem Ausdruck ist merkwürdig.

»Glaubst du denn auch, dass sie ihn abholen werden?«, will ich wissen.

»Ich hoffe, nicht.«

Ich schließe die Augen und lehne den Kopf gegen die Nackenstütze. »Warum hat er das nur gemacht?« Ich stoße einen lauten Seufzer aus. »Warum hat er nicht einfach noch ein bisschen gewartet?«

»Keine Ahnung«, erwidert James. »Aber ich finde, wir sollten heute ziemlich früh von hier verschwinden, vielleicht gleich nach dem Mittagessen. Ist besser, wenn wir erst mal abtauchen.«

»Sagt der Typ, der ein Schulprojekt an der Sumpter High erfunden hat.«

»Das war was anderes. Ich wollte Miller doch nur helfen.«

»Es war dumm«, sage ich. »Wir müssen uns etwas Cleveres einfallen lassen. Es ist unsere Schuld, wenn sie Miller schnappen.«

»Ich bin nicht blöd«, fährt James mich an. »Denkst du vielleicht, ich wüsste das nicht?«

Wir starren uns an, und sein Ausdruck bekommt etwas Wildes. James fühlt sich für den Tod meines Bruders verantwortlich. Immer fühlt er sich verantwortlich. Für mich. Für Miller. So ist er nun mal. Und manchmal bin ich dumm genug zu glauben, dass er tatsächlich für unsere Sicherheit garantieren kann.

»Ich weiß immer ganz genau, was du denkst«, murmele ich, und Verzweiflung nistet sich in meinem Herzen ein.

James’ Miene wird weicher. »Komm her«, sagt er.

Aber zunächst rühre ich mich nicht. Die Gefahr, in der Miller schwebt, drückt alles in erstickender Weise zusammen, den Wagen hier, die ganze Welt.

»Sloane, ich brauche dich«, fügt er hinzu, und seine Stimme klingt rau.

Ich schiebe alles andere beiseite, beuge mich zu ihm, grabe meine Nägel in seinen Rücken, als ich ihn an mich ziehe.

Er zuckt zusammen, dann drückt er mich noch fester.

Sobald ich achtzehn bin, hauen James und ich von hier ab, fangen irgendwo anders ganz neu an. Aber noch können wir nicht abhauen. Sie würden uns finden, eine offizielle Vermisstenmeldung an die Medien geben, wie sie es bei entführten Kindern tun. Sie würden unsere Spur aufnehmen und uns finden. Wir würden es niemals schaffen. Niemand, kein Einziger hat es bisher geschafft zu entkommen.

Wir halten uns ganz fest, bis James’ Hand über meinen bloßen Oberschenkel wandert, dorthin, wo sich der Saum meines Rocks befindet.

James atmet heftiger. »Mein Mund mag nicht länger reden«, flüstert er an meinem Ohr. »Küss mich, jetzt, damit ich das alles vergesse.«

Ich lehne mich zurück und sehe die Traurigkeit in James’ Augen, das Verlangen darin. Und so sage ich leise, dass ich ihn liebe, dann klettere ich auf seinen Schoß und küsse ihn, als ob dies der letzte Kuss wäre, den wir jemals miteinander tauschen.

In Wirtschaftskunde starre ich immer wieder zu Miller hin. Er sitzt neben mir, den Kopf gesenkt, und kritzelt unter dem Pult in seinen Notizblock. Und immer wieder sehe ich zu ihm hin, um mich zu vergewissern, dass er sich nicht auffällig benimmt, so auffällig, dass man ihn mitnimmt. Er scheint in Ordnung zu sein.

»Und?«, murmele ich, als der Lehrer mit seiner Runde durch die Klasse beginnt, um uns die Tests zurückzugeben. »Was ist bei Lacey passiert?«

Miller hört auf zu kritzeln. »Nachdem ihre Eltern eingeschlafen waren, bin ich bei ihr durchs Fenster eingestiegen. Ich hab versucht, ihr klarzumachen, dass ich ihr nichts Böses will, aber sie fing an zu weinen.« Er schüttelt den Kopf. »Sie dachte, ich wollte sie umbringen oder so. Wer weiß, was ihr ›Das Programm‹ über mich erzählt hat.«

Ich stütze die Ellbogen auf den Tisch und lege die Hände an die Stirn. Das ist eine Katastrophe. Eine riesige Katastrophe. Das ist genug, damit sie ihn wegholen. Garantiert.

»Hat sie ihre Eltern gerufen?«

»Nein«, antwortet Miller. »Sie hat nur gesagt, ich soll verschwinden. Obwohl ich versucht habe, ihr zu erklären, wer ich bin, hat sie gesagt, ich soll verschwinden.« Seine Stimme klingt flach. »Ich hab wohl gehofft, dass sie mich immer noch liebt, irgendwo tief drin in ihrem Inneren.« Er sieht mich an, sein Blick ist verschwommen. »Glaubst du, das ist so?«

»Ja«, sage ich. »Das glaube ich. Mensch, Miller, du hättest festgenommen werden können. Weggeschickt. Und dann? Was soll ich denn ohne dich machen?«

»Ich musste es versuchen. Du würdest James doch auch nicht einfach aufgeben.«

Ich antworte nicht gleich, dann sage ich: »Nein, das würde ich nicht.«

Er nickt, sieht aus, als tue es ihm leid, diesen Vergleich gezogen zu haben, und widmet sich wieder dem Notizblock.

»Wirst du es noch mal probieren?«, will ich wissen.

»Hat keinen Zweck«, entgegnet er. »Sie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Ich glaube, sie würde sich auch nicht mehr in mich verlieben.«

Ich blinzele heiße Tränen zurück. »Tut mir echt leid.«

»Ich weiß. Ich muss halt in die Zukunft schauen, oder? Jedenfalls sagt mir das ständig meine Mom.«

Millers Mutter hat Lacey nie sonderlich gut leiden können. Sie hat sich immer gewünscht, dass ihr Sohn mit jemand Fröhlicherem zusammen wäre. Aber in unserem Leben gibt es nicht mehr viel, worüber man sich freuen kann. Und die, die noch gute Laune zeigen, haben normalerweise »Das Programm« hinter sich.

»Miller, du wirst doch nicht …«

»Sloane Barstow?« Mr. Rocco ruft mich auf und bringt mich mit einem strengen Blick zum Schweigen.

Miller hält den Kopf gesenkt, während er heimlich weiterkritzelt. Und ich bin erleichtert, dass er nichts Verrücktes mehr plant. Wir müssen nur irgendwie diese neueste Bedrohung überstehen, alle zusammen, dann überleben wir. Und vielleicht können wir Lacey in ein paar Monaten, wenn sie nicht länger unter Beobachtung steht, überreden, wieder mit uns zusammen abzuhängen.

»James und ich verschwinden nach dem Lunch«, flüstere ich Miller zu, als ich sicher bin, dass unser Lehrer nicht mehr auf uns achtet. »Kommst du mit?«

»Klar doch. Was glaubst du, weshalb ich hier bin? Zum Lernen?«

Ich lächele. Zum ersten Mal an diesem Tag hört sich Miller wieder ganz wie er selbst an. Gerade, als ich James simsen will, dass Miller mitkommt, erkenne ich, was er da in seinen Notizblock zeichnet. Eine große schwarze Spirale, die sich über das ganze Blatt zieht.

Ich tue so, als hätte ich nichts gesehen, und wende mich wieder nach vorn. Ich spüre, wie das Handy in meiner Hosentasche vibriert.

Verstohlen ziehe ich es heraus und lese die Nachricht. LASS MILLER NICHT AUS DEN AUGEN, ES SIND MEHR BETREUER ALS SONST IN DER SCHULE.

»Miller, James schreibt, hier treiben sich heute mehr Betreuer als normal herum«, erzähle ich ihm. »Meinst du, sie sind deinetwegen hier?«

Miller leckt sich über die Unterlippe. Tut so, als müsse er nachdenken. Dann nickt er. »Könnte sein. Dann sollten wir vielleicht schon vor dem Lunch abhauen. Wir fahren zu mir nach Hause.«

Ich stimme zu und bringe James auf den neuesten Stand, erleichtert, dass wir verschwinden werden. Das Letzte, was ich mit ansehen will, ist, dass ein Freund, mein bester Freund, weggeholt wird. Wieder einer.

Ich sitze neben Miller auf der geblümten Couch, während James in der Küche den Kühlschrank inspiziert.

Miller kaut an einem Nagel, und als er zum nächsten Finger wechselt, sehe ich, dass er all seine Nägel schmerzhaft kurz abgekaut und blutig gebissen hat. Ich schlage ihm die Hand weg, und er legt sie in seinen Schoß.

»Ich hab sie heute auf dem Weg zur Schule gesehen«, sagt Miller und starrt durch das große Fenster, das sich uns gegenüber befindet, nach draußen.

»Lacey?«

»Ja. Ich bin an der Sumpter vorbeigefahren und hab sie auf dem Parkplatz gesehen. Sie unterhielt sich gerade mit Evan Freeman. Sie … sie hat gelacht.«

Er beginnt wieder an den Nägeln zu kauen, und diesmal lasse ich ihn. Ich lege einfach nur meinen Kopf auf seine Schulter und schaue gemeinsam mit ihm nach draußen.

In den ersten Monaten, wenn sie wieder zu Hause sind, ist es den Rückkehrern verboten, zu große Nähe zu anderen Leuten aufzubauen. Allerdings dürfen sie sich Freunde suchen – vorzugsweise solche, die »Das Programm« ebenfalls erfolgreich durchgestanden haben. Ich denke, die Betreuer sind der Meinung, wenn sie alle sauber geschrubbt sind, dann können sie keinen schlechten Einfluss mehr aufeinander ausüben. Vor Miller hatte Lacey tatsächlich ein paar Dates mit Evan Freeman, doch sie sagte, er würde sie mit seiner Zunge nerven.

Es macht mich krank, dass sich Lacey jetzt mit ihm unterhält – mit ihm lacht –, ohne sich bewusst zu sein, dass er gar kein Fremder für sie ist. Es irritiert mich dermaßen, dass ich kaum damit fertig werde.

»Was meinst du, was sie dort mit ihr gemacht haben?«, sage ich vor mich hin, nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich wissen will.

»Sie haben sie seziert«, erwidert Miller und spuckt ein Stück Nagel aus. »Sie haben ihren Kopf geöffnet, die einzelnen Teile herausgenommen und anschließend zu einem Hallo-ich-bin-glücklich-Puzzle wieder zusammengesetzt. Es ist, als wäre sie überhaupt kein richtiger Mensch mehr.«

»Das wissen wir doch gar nicht«, widerspreche ich. »Ganz tief drin könnte sie doch immer noch dieselbe sein. Sie kann sich nur nicht mehr an sich selbst erinnern.«

»Und wenn sie sich nie mehr erinnern wird?« Er wendet mir sein Gesicht zu, eine Träne rollt über seine Wange. »Glaubst du ernsthaft, irgendetwas könnte wieder so sein wie früher? Sie ist leer, Sloane. Sie ist jetzt eine lebende Tote.«

Ich will das nicht glauben. Seit knapp zwei Jahren habe ich nun Rückkehrer erlebt, und obwohl ich mit keinem jemals mehr als ein paar flüchtige Worte in der Mall gewechselt habe, bin ich sicher, dass sie immer noch richtige Menschen sind. Nur … irgendwie aufpoliert. Strahlender, als ob ihnen alles ganz großartig erscheint. Ja, man hat sie einer Gehirnwäsche oder etwas Ähnlichem unterzogen. Aber sie sind nicht leer. Das darf nicht sein.

»Es wäre besser, sie wäre gestorben«, flüstert Miller mir zu.

Ich setze mich gerade hin und sehe ihn wütend an. »Du sollst so was nicht sagen«, halte ich ihm vor. »Sie ist nicht tot. Und wenn es so weit ist, werden wir es wieder versuchen. Vielleicht kennt sie dich ja nicht mehr, Miller. Aber ihr Herz wird dich immer kennen.«

Er schüttelt den Kopf, weicht meinem Blick aus. »Nein. Ich gebe auf. Ich lasse sie los. So, wie der Psychologe es mir geraten hat.«

Nachdem »Das Programm« sie weggeschickt hatte, wurden James, Miller und ich zu einer Intensivbehandlung verdonnert, zwei Wochen lang jeden Tag vertiefte Therapie, die über die übliche Ausfragerei hinausgeht. Wir sollten ihnen Details nennen, Dinge, die sie bei Laceys Behandlung verwerten könnten. Aber ich glaube, in Wirklichkeit wollten sie nur herausfinden, ob wir auch schon infiziert waren. Glücklicherweise waren wir es nicht.

Ich würde Miller so gern sagen, dass er nicht aufgeben soll. Dass er es aussitzen und dann versuchen soll, sie zurückzugewinnen. Doch im Grunde weiß ich, dass er recht hat. Lacey hat anders ausgesehen, sich anders benommen. Sie ist nicht mehr dieselbe. Wird es wahrscheinlich nie mehr sein.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als Miller und Lacey sich begegnet sind. Ich hatte ihn zu unserem Tisch mitgenommen, weil ich die beiden einander vorstellen wollte. Aber Lacey stand noch in der Warteschlange an der Essensausgabe und stritt sich mit der Frau an der Kasse.

Lacey trug dieses lächerliche schwarz-weiß gestreifte Kleid, in dem sie aussah wie Beetlejuice, aber Miller bekam gleich diesen sehnsuchtsvollen Welpenblick. Er beugte sich vor und erklärte James und mir, dass sie genau das Mädchen sei, das er sucht – ein Mädchen, bei dem seine Mutter garantiert die Krise kriegt.

Ich schubste ihn, doch James, der uns gegenüber saß, lachte auf. »Lass die Finger von ihr, Mann«, riet er mit einem Grinsen. »Sie ist wie eine schwarze Witwe. Typen wie dich verspeist sie schon zum Frühstück.

Aber Miller lächelte nur, als würde ihn die Vorstellung faszinieren. Lacey dagegen war nicht so einfach zu überzeugen. Aber schließlich kamen sie dann doch zusammen, und sie waren glücklich. O Gott, waren sie glücklich!

»Tut mir leid, Miller«, sage ich leise.

Er nickt, dann dreht er sich mir zu und umarmt mich. Meine Hand liegt auf seinem Nacken, als er mich so fest drückt, dass ich kaum Luft bekomme. Ich verkneife mir zu sagen, dass schon alles wieder in Ordnung kommen wird, weil ich mir nicht sicher bin, ob die geringste Hoffnung darauf besteht.

In ebendiesem Moment kommt James ins Wohnzimmer, an einem Apfel kauend. Er schaut uns an, neigt den Kopf zur Seite, als wolle er die Situation abschätzen. Noch einmal beißt er in den Apfel, dann tritt er zu uns, beugt sich vor und legt seine Arme um uns beide.

»Kann ich auch ein bisschen Liebe haben?«, fragt er auf diese alberne Art, die er immer an sich hat, wenn er verhindern will, dass wir zu traurig werden. Er versucht uns abzulenken. Er gibt Miller einen lauten Schmatz auf die Wange. Ich lache und schiebe ihn weg, und er richtet sich wieder auf.

Miller aber steht auf und sagt kein Wort.

James wirkt unsicher, schaut mich vorwurfsvoll an, als wolle er damit sagen, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Miller sich so hängen lässt.

Was ich ja auch gar nicht beabsichtigt habe. Darum zucke ich nur mit den Schultern.

James blickt sich im Zimmer um, als suche er einen Hinweis, was er als Nächstes tun kann. Dann geht er hinüber zum Kamin und nimmt das neueste Familienfoto vom Sims.

»Oh Mann«, meint er, »deine Mutter sieht wirklich verdammt heiß aus auf diesem Bild.«

»Geh zum Teufel«, entgegnet Miller und kaut an seinen Nägeln, während er in der Tür steht.

So geht das jedes Mal, wenn James Millers Mom sieht, die tatsächlich sehr hübsch ist, blondes Haar hat und kurze Röcke trägt und vielleicht ein wenig zu sehr von meinem unausstehlichen Freund beeindruckt ist. Wenn er ein bisschen älter ist, wird aus ihm garantiert ein richtiger »Herzensbrecher«, behauptet sie. Nicht, wenn ich es verhindern kann.

»Ich mein ja nur«, sagt James, kommt zurück und lässt sich neben mich auf die Couch fallen. »Wenn ich die hier nicht hätte …«, er zeigt mit dem Daumen auf mich, »dann würde ich vielleicht dein neuer Stiefdaddy.«

»Hey!« Lachend gebe ich ihm einen Klaps aufs Bein.

James zwinkert mir zu und dreht sich dann wieder zu Miller um. »Ich könnte mit dir dann draußen Verstecken spielen oder so. Was meinst du?«

»Ja, das wäre ein Spaß«, sagt Miller, doch er wirkt kein bisschen amüsiert. »Dafür krieg ich dann Sloane. Ich brauch eh eine neue Freundin.«

Uns beiden, James und mir, bleibt das Lachen im Hals stecken. Miller starrt James an, dann mich, dann wendet er sich ab. »Ich mach mir ’n Brot«, erklärt er und geht in die Küche.

James’ Mund steht leicht offen, während er Miller hinterherschaut, und ein Hauch von Rosa legt sich über seine Wangen. »Das hat er ernst gemeint, oder?«, stellt er verwirrt fest. »Warum sagt er so was?« Er starrt mich an, die Brauen zusammengezogen. »Will er was von dir?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein«, erwidere ich ehrlich.

Wir sind aus gutem Grund so besorgt. Wir wissen beide, dass Millers Verhalten gerade ganz untypisch für ihn ist. Man hat uns eingetrichtert, auf solche Anzeichen zu achten.

»Sollen wir mit ihm darüber reden?«, frage ich.

James reibt sich mit der Hand den Mund, während er nachdenkt. »Nein«, meint er schließlich. »Ich will nicht, dass er sich noch mehr aufregt.«

Eine Weile schweigen wir beide, das Einzige, was wir hören, ist, wie der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen wird.

James sieht mich an. »Und noch was: Es ist streng verboten, mit Miller herumzumachen.«

»Halt die Klappe.«

»Ich schlage dir einen Deal vor: Wenn du nicht mit ihm herummachst, dann mach ich auch nicht mit seiner Mom rum.«

»James!« Ich will ihm erneut einen Klaps versetzen, doch er fängt meine Hand ab und zieht mich dann auf seinen Schoß, hält mich fest, sodass ich nicht aufstehen kann. James ist so perfekt darin, alles normal erscheinen zu lassen. Lachend versuche ich, mich aus seiner Umarmung zu winden.

Als Miller zurückkommt, ein belegtes Brot in der Hand, bleibt er einen Moment in der Tür stehen. Sein Gesicht zeigt nicht den geringsten Ausdruck.

Ich höre auf, herumzuzappeln, doch James lässt mich nicht los. Mit dem Kinn deutet er auf Miller.

»Wir sind uns doch einig, dass Sloane mir gehört?«, fragt er. Nicht aggressiv, nur neugierig. »Dass ich sie liebe und für niemanden aufgebe, nicht einmal für dich. Das weißt du doch, oder?«

Ich frage mich unwillkürlich, was aus seinem Ich-will-nicht-dass-er-sich-noch-mehr-aufregt-Vorsatz geworden ist.

Miller beißt in sein Truthahn-Sandwich und zuckt mit den Schultern. »Kann sein«, meint er. »Aber wir wissen doch alle, dass sich die Dinge ändern. Ob wir das nun wollen oder nicht.« Immer noch ohne die geringste Gefühlsregung zu zeigen, dreht sich Miller um und verschwindet, geht langsam die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.

James lässt mich los, und ich setze mich wieder neben ihn, verwirrt. Ich weiß, dass sich Miller nicht auf diese Weise von mir angezogen fühlt. Dass er sich nur danebenbenimmt. Wir haben schon früher miterlebt, wie Leute ihre besten Freunde vor den Kopf stoßen oder anfangen, in der Gegend rumzumachen, wenn die Depression nach ihnen greift. Auch mein Bruder ist aus der Rolle gefallen, doch wir wollten es nicht wahrhaben. Wir haben so getan, als hätten wir es nicht bemerkt.

Mit diesem Gedanken wende ich mich James zu, mein Gesicht angespannt vor Sorge. »Soll ich …«

»Nein«, unterbricht er mich und hebt eine Hand. »Ich werde das schon regeln.« Er gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er die Treppe nach oben geht, zu Millers Zimmer. »Es kann eine Weile dauern«, fügt er hinzu. Auf das, was er vorhat, hat man uns seit der siebten Klasse gedrillt: mit einer Intervention einzugreifen, wenn es einem Freund nicht gut geht.

Ich nickte und schaue James hinterher, wie er nach oben geht, um Miller wieder zu uns zurückzubringen.

In der kleinen Küche, in der auf allem und jedem Hähne als Motiv auftauchen, bereite ich mir eine Hühnersuppe mit Nudeln zu, esse sie zusammen mit ein paar Crackern und spüle anschließend den Topf. Als mir langweilig wird, setze ich mich auf die Treppe, lehne den Kopf gegen die Wand und lausche, ob ich irgendetwas von oben höre.

Eine Dreiviertelstunde später taucht James am Treppenabsatz auf. Er lächelt, wirft mir einen Blick zu, der besagen soll, dass alles geklärt ist.

Miller schiebt sich an ihm vorbei, und ich weiche in die Diele zurück, beobachte, wie er die Treppe herunterkommt, bis er schließlich vor mir stehen bleibt.

»James meint, ich hätte keine Chance bei dir, weil er besser küssen kann«, beginnt er. »Ich hab ihm vorgeschlagen, wir könnten das doch austesten, aber da hat er mich so hart in den Magen geboxt, dass ich fast gekotzt habe.«

Ich werfe meinem Freund einen alarmierten Blick zu, doch er zuckt nur mit den Schultern.

»Ist schon okay«, beruhigt mich Miller und berührt mich am Arm. »Verdient hab ich’s ja. Tut mir leid, wenn ich so nervig war.« Sein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. »Hoffentlich bist du jetzt nicht allzu enttäuscht, aber ich fühle mich nun mal nicht wirklich angezogen von dir.«

Ich verdrehe die Augen und blicke dann wieder zu James hin, der nun langsam Stufe für Stufe herabsteigt. »Hast du ihn tatsächlich geschlagen?«

»Ist nun mal das, was ich unter ›Intervention‹ verstehe. Und hat doch funktioniert, oder?«

Das ist typisch für James. Er denkt, dass er uns nur lange genug ablenken muss, damit wir vergessen, in was für einem Schlamassel wir stecken. Aber ist das wirklich ein Allheilmittel? Kann er uns immer und jedes Mal dazu bringen, unsere Tränen wegzulachen? Ich sehe ihn an, in dem Bewusstsein, wie sehr ich mich auf ihn verlasse. Darauf, dass er meine Gefühle lenkt.

James’ Lächeln verblasst, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Als ob er genau wüsste, warum ich so ernst bin. Statt wie sonst einen Witz zu machen, schaut er nun auf die Bodendielen.

»Wollt ihr zwei einen Film sehen?«, fragt Miller, und er klingt zum ersten Mal an diesem Tag wieder lebendig. »Meine Mom kommt nicht vor vier zurück.«

»Deine Mom …«, setzt James an.

»Halt die Klappe«, sagen Miller und ich wie aus einem Mund.

James lacht, blickt endlich wieder auf, strahlt wieder so wie immer. Alles ist gut. Alles ist … normal.

Wir kehren ins Wohnzimmer zurück, vertrödeln die Zeit, wie wir es schon tausendmal getan haben.

Aber ich kann nicht anders, dauernd sehe ich unauffällig aus dem Fenster und halte Ausschau nach den Männern in den weißen Kitteln.