1. Kapitel

Langsam drehe ich den Kopf zur Seite, meine Sicht ist noch leicht verzerrt, während ich langsam wach werde. Neben mir, ganz nah, steht der dunkelhaarige Betreuer.

»Hab mir schon Sorgen gemacht, ich hätte dir zu viel Thorazin verabreicht. Du warst etliche Stunden weggetreten.« Er streckt die Hand aus, um mir das Haar aus dem Gesicht zu streichen.

Ich zucke zusammen, drehe den Kopf zur Seite. »Rühren Sie mich nicht an«, zische ich voller Abscheu. »Wagen Sie ja nicht, mich anzurühren!«

Er lacht. »Ich weiß, dass du sauer bist. Ich weiß, dass du dich nicht wohl fühlst.« Er beugt sich vor, seine Stimme ist bloß ein Hauch an meinem Ohr. »Aber das ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen.«

Ich kneife die Augen zusammen, denke, dass ich Angst haben, traurig sein sollte. Doch alles, was ich empfinde, ist Wut. Sie haben James verändert. Und Lacey. Und sie werden mich verändern.

»Dann werde ich jetzt dem Arzt berichten, dass du wach bist«, sagt der Betreuer. Erneut berührt er mein Haar. »Wir sehen uns, Sloane.«

Mein Magen zieht sich zusammen, als er meinen Namen ausspricht. Ich versuche aufzustehen, doch meine Hände sind mit Lederriemen ans Bett gefesselt. Als ich mich bewege, schmerzt mein linkes Handgelenk, und ich erinnere mich daran, wie ich es mir in meinem Zimmer aufgeschlitzt habe, bevor sie mich gepackt haben.

Ich presse die Kiefer fester aufeinander, lausche seinen Schritten nach. Als ich höre, dass die Tür ins Schloss fällt, öffne ich wieder die Augen und sehe mich um.

Das Zimmer ist weiß, einfach weiß. Die Wände sind eben und kahl, neben meinem Bett steht ein Stuhl. Alles ist sauber und riecht nach Reinigungsmittel.

Mein Herz klopft, während ich warte. Ich weiß nicht, was mit mir passieren wird. Ob es wehtun wird, wenn sie in meinen Kopf gehen. Ich lehne mich zurück ins Kissen, lasse für einen Moment die Angst in mich sickern.

Meine Eltern haben mich betrogen. Ich hasse sie, obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte. Sie glauben, sie würden mich retten. Stattdessen haben sie mich zu einem halb gelebten Leben verdammt. Ich bin dabei, alles zu verlieren.

Es kitzelt ein wenig, als eine Träne über meine Wange rollt, und ich beschimpfe mich selbst dafür, dass ich sie nicht zurückgehalten habe. Ich drehe den Kopf ins Kissen, um sie wegzuwischen, und dann schniefe ich, starre an die Decke. Es ist still – so still, dass der einzige Laut mein Atmen ist. Ich frage mich, ob mich allein schon diese Stille in den Wahnsinn treiben wird.

Die Tür öffnet sich mit einem leisen Klicken. Ich erstarre, nicht sicher, ob ich hinschauen will.

»Guten Abend«, sagt eine tiefe Stimme mit kaum hörbarem britischem Akzent. Eine ruhige Stimme. Fast schon einladend.

Ich kneife die Augen fester zusammen.

»Ich bin Dr. Francis«, sagt der Mann, und ich höre Rollen quietschen, als er sich auf den Stuhl setzt.

Ich habe Angst, mich zu bewegen, doch als seine warmen Finger meinen Arm berühren, zucke ich zusammen. Dann erst begreife ich, dass er meine Fesseln löst. Ich schaue dorthin, wo seine Finger sich bemühen, mich zu befreien.

»Tut mir leid«, meint er, während er die Riemen löst. »Es ist eine Vorsichtsmaßnahme bei allen neu eingelieferten Patienten.«

»Ich will kein Patient sein«, erkläre ich.

Dr. Francis hält inne, seine grünen Augen sind nachdenklich auf mein Gesicht gerichtet. Sein Haar ist kurz geschnitten, die Wangen sind glatt rasiert.

»Sloane, ich weiß, dass du Angst hast, aber wir möchten wirklich bloß helfen«, sagt er freundlich. »Es mag dir nicht bewusst sein, aber du bist krank. Du hast sogar versucht, Selbstmord zu begehen.«

»Nein, habe ich nicht. Ich wollte nur nicht, dass sie mich mitnehmen.« Ich lasse unerwähnt, dass ich versucht habe, mich im Fluss zu ertränken.

»Wir werden dir nicht wehtun.« Er steht auf und geht um das Bett herum, um auch die andere Fessel zu lösen. »Wir werden die Krankheit entfernen, Sloane. Darum geht es hier.«

»Ich habe die Rückkehrer gesehen«, erkläre ich, und meine Augen werden schmal. »Ich habe ganz genau gesehen, was Sie entfernen.«

Als meine Hände frei sind, setze ich mich auf und reibe meine Handgelenke, erstaunt, um wie viel weniger verletzlich ich mich jetzt fühle. Aber ich trage Krankenhauskleidung, und ein Frösteln lässt mich zittern, als ich überlege, ob der dunkelhaarige Betreuer mich vielleicht ausgezogen hat.

Dr. Francis zieht besorgt die Augenbrauen zusammen. »Jedem, der hierher ins ›Programm‹ kommt, geht es sehr schlecht.«

»Das ist nicht der Punkt«, halte ich dagegen. »Wir sollten die Wahl haben.«

»Aber wie kann die richtige Entscheidung getroffen werden, wenn der Verstand von der Krankheit vernebelt ist? Es ist eine Infektion, Sloane. Eine verhaltensbezogene Ansteckung. Die einzige Heilung liegt bei uns.« Er schweigt einen Moment, als sei ihm gerade erst klar geworden, wie kalt das klingt. »Tut mir leid«, fährt er fort. »Du solltest dich erst einmal eingewöhnen. Ich werde die Schwester zu dir schicken, damit sie dich unter ihre Fittiche nimmt.« Er nickt mir zu, bevor er den Raum verlässt.

Ich zittere immer noch von der Spritze, die mir der Betreuer gegeben hat, aber ich frage mich unwillkürlich, ob der Arzt nicht doch recht hat. Vielleicht bin ich krank und erkenne es bloß nicht. Ich lege mich wieder zurück und betrachte den Verband an meinem Handgelenk und erinnere mich daran, wie verzweifelt ich war.

Doch ich kann mich auch an etwas anderes erinnern – an den Ausdruck auf dem Gesicht des Betreuers, als er kam, um mich zu packen, diesen Raubtierausdruck. Auf genau diesen Moment hatte er gewartet. Darauf, mich hierherbringen zu können.

Nein. »Das Programm« ist nicht die Heilung. Es ist das Ende meines Selbst.

»Und das dort ist der Aufenthaltsraum«, erklärt die Krankenschwester und zeigt nach vorn. Sie ist der großmütterliche Typ, trägt sogar eine Strickjacke über ihrer Uniform.

Aber ich denke, dass das alles nur Fassade ist, dass sie mich auf irgendeine Art austricksen soll. Ich schlinge meine Arme enger um mich selbst und schlurfe hinter ihr her in den großen Raum. Ich bin immer noch ein bisschen benommen.

Ich trage einen zitronengelben Krankenhausanzug und den passenden Morgenmantel, meine Füße stecken in sonnigen Hausschuhsocken. Irgendwas Deprimierenderes wäre mir lieber, Schwarz vielleicht, aber ich denke, genau aus diesem Grund haben sie sich für Gelb entschieden.

Der Aufenthaltsraum wirkt nicht sonderlich einladend. Anders als im Wellness Center gibt es hier keine Farben. Er ist einfach weiß und langweilig, wie ein Schwarzweißfilm mit ein paar gelben Sprenkeln.

Um die zwanzig Leute halten sich hier auf. »Das Programm« nimmt Patienten zwischen dreizehn und siebzehn auf, doch die meisten hier scheinen zu den Älteren zu gehören.

Man kann hier weder Tischtennis noch Schach spielen. Stattdessen stehen ein Fernseher hier und davor ein Sofa. Einige Tische und Stühle sind vor den Fenstern aufgestellt – die sich nicht öffnen lassen, dessen bin ich sicher –, von denen aus man auf eine Wiese blickt. Es gibt auch ein paar Computer, an denen Schilder mit der Aufschrift »KEIN INTERNETZUGANG« befestigt sind.

Das Einzige, was annähernd einladend wirkt, ist das Kartenspiel, das an dem Tisch in der Ecke gespielt wird. Drei Typen sitzen dort, einer kaut auf einer Laugenstange wie auf einer Zigarre. Sie benehmen sich, als ob sie Freunde wären, und plötzlich überflutet mich Sehnsucht nach James und Brady. Wir haben auch immer zusammen Karten gespielt.

»Welche Einrichtung ist das hier?«, erkundige ich mich. Mir ist schlecht. Es gibt drei Gebäudekomplexe, die »Das Programm« nutzt. Ich frage mich, ob man James auch hierhergebracht hat.

»Springfield«, erwidert die Schwester. »Roseburg und Tigard sind inzwischen fast voll besetzt. Wir können uns nur um vierzig Patienten gleichzeitig kümmern, also gibt es hier engen Zusammenhalt.« Sie lächelt und berührt mich an der Schulter. »Es dauert noch gut eine Stunde bis zum Abendessen. Warum versuchst du nicht, ein paar Freunde zu finden? Das ist gut für deine Heilung.«

Ich sehe sie dermaßen hasserfüllt an, dass sie zurückweicht. Freunde? Sie werden mir schon bald meine Freunde wegnehmen.

Mit einem Nicken stakst die Schwester davon, und die Großmutter-Art fällt von ihr ab, als sie sich anderen Pflichten zuwendet.

Erneut denke ich, dass alles hier bloß Fassade ist. Dass sie uns das Gefühl falscher Ruhe vermitteln, es Ruhe hier jedoch gar nicht gibt. Denn das hier ist »Das Programm«. Ich weiß, wie gefährlich es ist.

Am anderen Ende des Raums lacht der Typ mit der Laugenstangenzigarre plötzlich laut auf und wirft die Karten hin.

Ich bin so verblüfft, hier ein Lachen zu hören, dass ich ihn anstarre und mich frage, wie irgendjemandem an einem so gottverdammten Ort ein Lachen über die Lippen kommen kann.

Auf einmal blickt er zu mir herüber und bemerkt mich. Sein Lächeln wird ein wenig unsicher. Dann tippt er grüßend mit dem Finger an die Stirn.

Ich wende mich ab, gehe zur Fensterreihe hinüber und setze mich auf einen Stuhl, ziehe die Knie an und schlinge die Arme um meine Beine. Wie viele Leute mögen wohl versucht haben, aus einem dieser Fenster zu springen, bevor sie beschlossen haben, sie dauerhaft zu verriegeln?

Ich habe Höhe nie besonders gemocht. Als wir noch Kinder waren, nahmen meine Eltern uns einmal in einen Vergnügungspark mit, und Brady überredete mich, mit ihm Riesenrad zu fahren. Ich muss damals acht oder neun gewesen sein, und als wir ganz oben waren, hielt das Riesenrad an, wie festgefroren. Anfangs alberte Brady noch herum, brachte die Gondel zum Schwingen. Doch er hörte sofort damit auf, als ich zu weinen anfing.

»Wahrscheinlich hast du Höhenangst, Sloane«, sagte er und legte beschützend einen Arm um meine Schultern. »Tut mir leid.« Dann schwieg er, ließ den Blick über den Vergnügungspark schweifen. »Es ist nicht gut, wenn man solche Ängste hat«, fuhr er fort. »Das macht es nur wahrscheinlicher, dass man daran stirbt – eine selbsterfüllende Prophezeiung nennt man das.«

Ich wischte mir die Wangen. »Was?«

»Ich hab das mal in einem Buch gelesen. Also, wenn du dich weiterhin vor Höhen fürchtest, wirst du wahrscheinlich dadurch sterben, dass du von irgendwo herunterstürzt.«

Ich klammerte mich fester an die Stange, mein Atem ging heftiger.

Brady fing an zu lachen. »Doch nicht heute. Irgendwann einmal. Das ist wie mit dem Fluss, Sloane. Du hast Angst vor dem Schwimmen, also ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du ertrinkst, wenn du jemals hineinfällst. Das ist mental bedingt.«

Ich halte inne, blicke nun auf die Wiese vor diesem Gebäude, das dem »Programm« gehört. Nein, ich bin nicht im Fluss ertrunken, obwohl ich es versucht habe. Aber mein Bruder starb darin. War es meine Schuld, weil er wusste, dass ich Angst vor dem Wasser hatte?

»Du schaust drein, als hätte jemand deinen Hund getreten.«

Ich fahre zusammen, als ich die Stimme höre, und als ich aufblicke, sehe ich den Jungen vom Kartentisch vor mir stehen.

»Was?«, frage ich und stelle meine Füße wieder auf den Boden.

»Wahrscheinlich haben sie gerade deine Erinnerung daran gelöscht.« Er lächelt. Sein schwarz gefärbtes Haar ist lang und wirr, steht in alle Himmelsrichtungen ab, aber es sieht gar nicht so übel aus. Unter seinen Augen liegen tiefe Schatten. Auf seinem Hals, gleich unterm Kinn, verläuft eine gezackte Narbe.

Ich zucke zusammen, schaue dann in seine dunklen Augen. »Bin echt nicht in der Stimmung für Witze«, sage ich. »Vielleicht ein andermal.« Ich sehe wieder zum Fenster hinaus und hoffe, dass er verschwindet, damit ich mich erneut in meine Erinnerungen verkriechen kann. Damit ich an James denken kann.

»Okaaay«, sagt der Typ und tritt einen Schritt zurück. »Also, bis dann mal, Süße«, fügt er hinzu und geht, wahrscheinlich überrascht, dass ich keine Lust habe zu quatschen.

Aber ich will hier nicht mit anderen reden. Ich bin nicht daran interessiert, Freunde zu finden. Das Einzige, was mich interessiert, ist, wie ich hier herauskomme.