9. Kapitel

»Sloane!«, wispert eine Stimme.

Ich reiße die Augen auf und schreie los, als ich eine Gestalt neben meinem Bett sehe.

»Pst … pst …«, macht Realm und legt schnell einen Finger auf die Lippen. Er schaut besorgt zur Tür, und ich zwinge mich, still zu sein.

»Du hast mir eine Heidenangst eingejagt«, flüstere ich, und dann beuge ich mich vor, damit ich ihn in dem dämmrigen Raum besser sehen kann. Das einzige Licht kommt von dem Mond, der von draußen durch das nicht zu öffnende Fenster scheint. Ich halte inne, als ich Realm besser erkennen kann. »Dein Auge!«

Er hat ein blaues Auge, das so ausschaut, als täte es noch ziemlich weh.

»Geht schon«, meint er und macht eine wegwerfende Geste. »Ich wollte nur sichergehen, dass du okay bist. Hatte nicht vor, so plötzlich zu verschwinden.« Er grinst, aber er mustert mich sehr genau, ob ich wirklich in Ordnung bin.

»Das war ziemlich unhöflich«, erwidere ich im selben Ton. Dann setze ich mich auf und schlinge die Arme um seinen Nacken.

Er lacht und hält mich ganz sanft, fast so, als würde es ihn verlegen machen, dass wir uns umarmen.

»Ich war so einsam«, sage ich.

Realm streicht mir das Haar zurück. »Sloane …« Er zögert einen Moment. »Dir hat doch niemand etwas getan, oder?«

Seine Stimme klingt besorgt, und ich vermute, dass er Roger damit meint. Aber ich kann ihm doch nicht von der Pille erzählen. Von dem Kuss.

»Nein«, lüge ich. »Ich dachte nur, du würdest nicht mehr zurückkommen.« Ich löse mich langsam von ihm und lege mich wieder hin, glücklich, dass er da ist.

»Du solltest jetzt weiterschlafen«, sagt Realm leise. »Wir sehen uns morgen beim Frühstück?«

Ich nicke lächelnd. »Vielleicht gibt es ja Waffeln.«

Er lacht. »Wenn nicht, dann werde ich welche für dich auftreiben.«

Ich lege mich auf die Seite und ziehe die Beine an, und Realm steckt die Decke um mich herum fest. »Ich trau’s dir zu.«

Ich schaue ihm hinterher, als er geht und langsam die Tür hinter sich zuzieht. Dass er wieder da ist, scheint eine schwere Last von meinen Schultern zu nehmen. Ich weiß, dass ich mich vorhin aufgeregt habe, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, warum. Ich bin einfach nur froh, dass mein Freund wieder da ist.

Am nächsten Morgen wartet Realm schon an meinem Tisch auf mich. In seinem neuen, zitronengelben Krankenhausanzug erscheint er frisch und ausgeruht, das noch feuchte Haar ist nach hinten gebürstet, und mit dem blauen Auge macht ihn das geradezu anbetungswürdig.

»Keine Waffeln«, sagt er, als würde er fürchten, ich wäre enttäuscht. »Aber ich hab’s als Anregung in die Liste eingetragen, also hoffen wir, dass wir morgen welche bekommen.«

Ich lache und setze mich neben ihn, mache mir erst mal nicht die Mühe, mir mein Frühstück zu holen. »Verdankst du dieses hübsche Veilchen dem Betreuer?«, erkundige ich mich und lehne mich vor, um es mir anzuschauen.

Realm beobachtet mich, während ich ihn mustere, einen traurigen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Roger hat einen Treffer mit dem Ellbogen gelandet, aber dafür habe ich ihn beinahe erwürgt. Also sind wir quitt.«

Ich bin plötzlich ganz angespannt und wende mich ab. Ich wünschte mir, ich hätte Roger nie erlaubt, mich zu berühren. Aber ich habe eine Gegenleistung dafür erhalten, ein Stück von mir selbst, das ich behalten kann. Zumindest hoffe ich das.

»Was ist?«, fragt Realm.

»Nichts«, murmele ich. »Ich bin nur hungrig.« Ich stehe auf und gehe zur Essensausgabe.

Es ist gegen Ende meiner dritten Woche hier, und ich weigere mich weiterhin, die Pillen zu nehmen. Ich wünschte fast, ich wüsste nicht, was die Medikamente mir antun, sodass ich diesen Kampf nicht jeden Tag erneut ausfechten müsste. Aber ich weiß es. Und ich will kämpfen.

Nach einer Therapiestunde und einer weiteren Injektion habe ich bereits den halben Weg zu meinem Zimmer geschafft, als er in den Flur tritt.

»Hallo, Sloane«, sagt Roger. »Tut mir leid, dass ich nicht da sein konnte. Ich musste viel Zeit an deiner neuen Schule verbringen.«

Ich bekomme Gänsehaut, als ich seine Stimme höre. »Lass mich in Ruhe«, sage ich undeutlich.

»Willst du nicht wissen, warum?«

Ich drehe mich um, um ihn anzuschauen. Das dunkle Haar fällt ihm über die Augen. »Nein.«

»Kommt dir der Name James Murphy bekannt vor?«, fragt er.

Ich ziehe scharf die Luft ein und bleibe stehen, stütze mich an der Wand ab. James ist mein Freund, oder zumindest war er es, bis er ins »Programm« kam. Auch er war mit Miller befreundet – und davor … was? Wer war James davor?

Ich presse mir einen Handballen gegen die Stirn. Ich kann mich nicht erinnern.

»Scheint so, als würde James gern Schwierigkeiten machen. Kein Wunder, dass ihr beide so lange zusammen wart. Ihr seid beide Unruhestifter.« Roger lacht, und ich würde mich am liebsten auf ihn stürzen und ihm die Augen auskratzen.

»Geht es ihm gut?«, will ich wissen.

»Ja. Er ist okay. Und ansonsten eine Nervensäge. Ständig provoziert er die Betreuer, schleicht sich davon. Er kann froh sein, dass er bald achtzehn wird, sonst könnte er erneut hier landen.«

James geht es gut. Ich lächele und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand.

Roger kommt zu mir herüber und stellt sich dicht vor mich. »Dir ist doch bewusst, Sloane«, flüstert er, »dass es nur noch eine oder zwei Sitzungen dauern wird, bis James vollkommen aus deiner Erinnerung verschwunden ist.«

»Halt den Mund«, sage ich und kneife die Augen zusammen, als seine Finger über meinen bloßen Arm streichen.

»Ich habe dir gesagt, was es dich kostet, und ich denke, es ist ein fairer Preis. Also, was ist?«

Er kommt noch näher, sein Pfefferminzatem streift mein Ohr. Seine Finger gleiten meinen Arm hinauf zu meinem Oberteil, streifen seitlich über meinen Busen.

Die Medikamente lassen den Flur um mich kreisen, aber ich versuche, nicht schlappzumachen. Ich will nicht so verwundbar sein, wenn er in meiner Nähe ist. Ich will seine abscheulichen Hände nicht auf mir spüren.

»Nein«, fauche ich ihn an.

»Hm …«, meint er und schiebt seinen Arm um meine Taille, lehnt meinen Kopf an seine Schulter. »Vielleicht sollte ich dich in dein Zimmer bringen.«

Ich falle fast hin, als ich versuche, mich von ihm zu lösen, da höre ich plötzlich jemanden rufen.

»Hey, Roger«, sagt Realm, die Hände in den Taschen seines gelben Anzugs. »Sieht aus, als brauchst du Unterstützung.«

Statt zu antworten, legt Roger mich auf den Boden und weicht zurück. »Hab nix Unerlaubtes getan, Michael.«

»Ach?«, sagt Realm und kommt näher.

Die Kühle der weißen Fliesen fühlt sich gut an meinen Wangen an. Ich nehme Realm aus einer merkwürdigen Perspektive wahr.

»Und mit den anderen Mädchen hast du auch nie was Unerlaubtes getrieben, was?«, fragt Realm. »Was meinst du, was Dr. Warren dazu sagen würde?« Seine Miene verdüstert sich, als er vor mir steht.

Ich greife nach dem Saum seiner Hose, umklammere den Stoff und versuche, mich aufzurichten.

»Wenn du mein Geheimnis für dich behältst, behalte ich auch deins für mich«, sagt Roger und drückt sich an die Wand. Seine Augen sind zu schmalen Schlitzen verkniffen.

Realm nimmt meine Hand und zieht mich sanft auf die Füße. »Sloane, kannst du gehen?«

Ich will »Ja« sagen, als ich mich gegen ihn lehne, doch ich kann das Gleichgewicht nicht halten.

Realm bückt sich, schiebt den anderen Arm unter meine Knie und hebt mich hoch. Mein Kopf liegt an seiner Brust. Als er losgeht, um mich in mein Zimmer zu bringen, drückt sich Roger so eng wie möglich an die Wand.

»Das ist noch längst nicht ausgestanden«, ruft Realm ihm zu, bevor er die Tür meines Zimmers mit dem Fuß aufstößt.

Ich spüre, wie sein Körper sich anspannt, und ich frage mich, was Roger mir angetan hätte, wäre Realm nicht aufgetaucht. Doch ich schiebe den Gedanken beiseite, klammere mich an Realm, als er mich auf mein Bett legt. Ich bettele ihn an zu bleiben, lasse sein Hemd nicht los, bis er mich in die Arme nimmt. Und dann verliere ich das Bewusstsein.

Beim Abendessen sprechen Realm und ich nicht über das, was passiert ist. Jedenfalls anfangs nicht. Er hilft mir, obwohl Derek und Shep dumme Witze über ihn reißen, als ich mein Essen hole, und behaupten, ich hätte ihn unterm Pantoffel. Aber ich zittere, mir ist abwechselnd heiß und kalt, als würden die Medikamente Nebenwirkungen zeigen.

»Kann ich mich zu euch setzen?«, fragt Tabitha gelassen, die an unserem Tisch auftaucht.

Die Jungs lachen, doch Realm rückt zur Seite.

»Natürlich, Tabby.«

Ich lächele ihn an, denke mir, wie freundlich er ist. Er ist klug. Auf gewisse Weise erinnert er mich an James, denn er weiß stets, was er tun muss, damit ich mich besser fühle. Auch James hat mich immer zum Lachen gebracht, obwohl ich nicht mehr weiß, wann wir das letzte Mal zusammen gelacht haben.

Realm legt eine Scheibe Maisbrot auf meinen Teller. »Hier, du musst etwas essen, Sloane. Sonst löst du dich irgendwann in nichts auf.«

»Vielleicht will ich mich ja in nichts auflösen.«

»Du darfst hier so etwas nicht sagen«, zischelt er mir eindringlich zu. »Sonst fangen sie noch einmal von vorn an mit dem ›Programm‹.«

Ich nicke. Es tut mir leid, dass ich ihn aufgeregt habe, und unter dem Tisch greife ich nach seiner Hand. »Ich tue mir im Moment selbst leid«, erkläre ich leise. »Meine Erinnerungen … es sind nicht mehr viele übrig.«

Realm drückt meine Hand und hält sie weiterhin fest. Er sieht mich an, als würde er mich verstehen, dann wenden wir uns wieder unserem Essen zu, während die anderen reden. Ich nicke, als Derek uns erzählt, dass er den Staat verlassen wird, sobald er achtzehn ist.

Ich bin dankbar, dass Realm mich festhält. Es kommt mir kein bisschen romantisch vor. Es fühlt sich an, als wäre er mein Rettungsanker.