11. Kapitel
Ich wache auf und blicke auf die kahlen weißen Wände. Ich liege allein in meinem Bett, bin allein in meinem Zimmer. Ich war zwar in Realms Zimmer eingeschlafen, doch gegen drei bin ich aufgewacht, fühlte mich so ungeheuer leer und bin in mein eigenes Bett zurückgekehrt.
Als ich in den Speiseraum gehe, wartet Realm bereits am Tisch auf mich, ein albernes Grinsen im Gesicht. Seine Freunde pfeifen, als ich in meinem zitronengelben Krankenhausanzug zu ihnen trete, ein Tablett mit Rührei in der Hand.
Realm boxt Shep mit dem Ellbogen gegen die Brust. »Verschwinde«, sagt er, doch das Grinsen verschwindet nicht für eine Sekunde.
»Was ist los?«, frage ich, als ich mich neben ihn setze. Es kümmert mich nicht, ob sie über mich klatschen – nicht wirklich. Wenigstens werden sie jetzt nicht mehr versuchen, mich anzubaggern. Und nach Roger hoffe ich eh, dass mich nie mehr jemand anmachen wird.
Realm zuckt mit den Schultern. »Vielleicht ist ihnen aufgefallen, dass gestern Abend ein Mädchen mit in mein Zimmer gekommen ist. Und falls sie denken, dass du es gewesen sein könntest und wir es miteinander getrieben haben, dann ist das nicht meine Schuld.«
»Du hast es nicht klargestellt?«
»Nein. Und es ist immer noch nicht meine Schuld. Du hättest eine Verkleidung tragen sollen, wenn du gewollt hättest, dass man dich nicht erkennt.« Realm streckt die Hand aus und öffnet meine Milchtüte für mich, dann fängt er wieder an zu essen.
Ich starre auf meine Milch und denke, dass dies eine nette Geste war, wenn auch ein wenig besitzergreifend.
»Was ich dich schon längst fragen wollte«, sage ich, »wie lange bleibst du noch hier?«
Realm hält inne, blickt aber nicht auf. »Zwei Wochen. Und du hast danach noch anderthalb Wochen vor dir.«
Panik beginnt an mir zu zerren, schnürt mir die Luft ab. »Anderthalb Wochen können so lang sein.« Meine Stimme bricht, und ich habe plötzlich grässliche Angst davor, ganz allein hier zu sein. Ganz allein mit der Fremden zu sein, die mein Gesicht trägt. Und Roger, der jetzt garantiert wütend auf mich ist.
»Süße«, sagt Realm, »es wird alles gut.«
»Wird es nicht«, flüstere ich. »Ich werde alles vergessen. Und dann wird Roger … was nur? Was wird er tun, wenn ich nicht in der Lage bin, mich gegen ihn zu wehren?«
»Roger wird dir nicht mehr nachstellen«, gibt sich Realm überzeugt. »Das verspreche ich dir. Ich werde es nicht zulassen.«
»Du wirst nicht mehr hier sein.«
Realm sieht mich von der Seite her an und wirkt todernst, als er sagt: »Ich gebe dir mein Wort, dass ich es nicht zulassen werde. Keine Ahnung, wie ich das hinkriege, aber er wird dich nie mehr anrühren.« Er hört sich so an, als würde er es wirklich so meinen. Und obwohl ich Angst habe, dass ihm irgendetwas passieren könnte, schafft er es mit einem Lächeln, dass sich meine Sorge in nichts auflöst.
Dann beugt er sich vor und gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange, einen Kuss, der nach Frühstück riecht, und macht sich wieder über sein Essen her.
Dr. Francis untersucht mich erneut und stellt fest, dass ich ein Pfund zugenommen habe. Das freut ihn, und so verringert er die Medikamentenmenge, die ich täglich verabreicht bekomme, sagt, dass ich solche Fortschritte in meiner Genesung gemacht habe, dass er endlich die Dosis senken könne.
Ich möchte ihm glauben, doch ich tue es nicht. Nicht, solange er für »Das Programm« arbeitet.
Nachdem die Untersuchung beendet ist, bringt er mich zu Dr. Warrens Büro. Sie scheint erfreut zu sein, mich zu sehen. Sie hat ihr Haar zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebunden, trägt keinen Anzug, sondern eine bunte Bluse.
»Sie sehen so fröhlich aus«, sage ich, als ich den Raum betrete.
Sie lächelt. »Dachte, du könntest ein bisschen Abwechslung gebrauchen. Brauchen wir Marilyn auch heute?« Sie schiebt mir den Plastikbecher hin.
»Ja.«
Ich bemerke, dass sie wieder angespannt ist, aber sie winkt nur, und die Schwester kommt herein, hält mich fest, während mich Dr. Warren mit der Nadel sticht.
Diesmal dauert es nicht so lange, bis meine Gegenwehr erlahmt. Offenbar ist die Dosis noch einmal erhöht und nicht gesenkt worden, wie Dr. Francis es versprochen hat. Entweder das, oder die Droge wirkt schneller, weil mir nur noch wenige Erinnerungen geblieben sind.
Ich sinke in meinen Sessel. »Was wollen Sie denn heute kritisieren?«, erkundige ich mich.
»Ich höre dir einfach nur zu, Sloane. Ich habe nie etwas anderes getan als zuzuhören.«
»Lügnerin.«
Sie seufzt. »Warum liebst du James so sehr?«, will sie wissen, »Weil er dich an die Zeit erinnert, die du mit deinem Bruder verbracht hast?«
»Nein. Weil er so ein heißer Typ ist.« Ich lache, lehne meinen Kopf gegen die Rückenlehne. Sie ist verrückt, nicht ich, wenn sie denkt, dass ich ihr den wahren Grund verrate.
»Würde es dir sehr wehtun, wenn ich sage, dass James dich nicht geliebt hat?«
Ich starre sie an. »Wie bitte?«
»Ich habe James’ Akte gelesen, und er hat seinem Betreuer erzählt, dass er sich verpflichtet gefühlt hat, sich um dich zu kümmern. Dass er dich retten wollte, weil es dir nicht gutging und er nicht wollte, dass du genau wie dein Bruder stirbst.«
Was sie da sagt, ist garantiert nicht wahr – wahrscheinlich hat James nur versucht, mich vor ihnen zu schützen. Und doch treffen mich Dr. Warrens Worte wie ein Stich mitten ins Herz.
»James hat mich geliebt«, zische ich. »Daran werden auch Ihre verdrehten Lügen nichts ändern.«
»Woher willst du es wissen, Sloane? Wann ist dir klar geworden, dass er dich wirklich geliebt hat? Und du ihn?«
»Als ob ich Ihnen das auf die Nase binden würde«, antworte ich verächtlich.
Dr. Warren nickt und winkt erneut nach Marilyn. »Noch eine Dosis, bitte!«
»Moment mal, warten …«
Ich spüre den schmerzhaften Einstich, als Marilyn mir eine weitere Spritze setzt. »Das können Sie doch nicht tun«, sage ich, voller Furcht vor einer Überdosis, davor, dass ich hier, in dieser Anstalt, sterben könnte.
»Sloane, wir werden tun, was immer wir tun müssen. Wir versuchen, dein Leben zu retten und ein weiteres Ausbreiten der Epidemie zu verhindern. Und jetzt arbeite bitte mit uns zusammen, oder wir müssen dich in einen Untersuchungsraum bringen.«
Diese Drohung macht mir richtig Angst. Was würden sie mit mir machen? Meinen Kopf aufsägen? Ich starre Dr. Warren an und reibe mir den Arm.
»Okay«, sage ich. »Okay.«
Marilyn geht, und Dr. Warren greift wieder nach meiner Akte, um das zu notieren, was ich erzähle.
Ich überlege, ob ich lügen soll, doch dann schlägt die Wirkung der Droge wie eine Welle über mir zusammen und schwächt mich dermaßen, dass ich nicht mehr in der Lage bin zu schwindeln.
»James war vor mir schon mit anderen Mädchen zusammen, ganz schön vielen sogar«, beginne ich. »Als wir dann offiziell als Paar auftraten, wollten mir einige von ihnen einreden, James wäre nur mit mir zusammen, weil mein Bruder tot ist. Der gleiche Unsinn, wie Sie ihn mir weismachen wollen. Natürlich wussten sie nicht, dass wir schon vorher zusammen gewesen waren, und ich habe es niemandem verraten. Weil ich mich dafür schämte, dass wir es nicht einmal Brady gesagt hatten.
Mein Bruder war erst seit einigen Wochen tot, als meine Eltern meinten, sie müssten ein Gespräch mit mir führen. Sie behaupteten, sie würden sich Sorgen um mich machen, dabei ging es mir gut. Viel besser als ihnen. Und dann sagten sie, sie seien wegen meiner Beziehung zu James besorgt. Zwei Menschen, die eine Tragödie durchlebt hatten, sollten nicht zusammen sein, weil dies das Risiko eines Selbstmords steigen lasse. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass sie beide dann vielleicht auch nicht zusammen sein sollten.
Meine Mutter hat mir an jenem Abend eine Ohrfeige verpasst. Ich kann den Schmerz immer noch auf meiner Wange spüren. Ich kam mir gemein vor, weil ich das gesagt hatte, aber ich habe mich nicht dafür entschuldigt. Und werde es wohl auch nie mehr tun, weil alles vergessen sein wird.
Ich bin dann abgehauen«, erzähle ich Dr. Warren. »Ich stieg ins Auto und fuhr ohne Umwege zu James. Es war schon nach zehn. Sein Dad öffnete mir. Er war ganz offensichtlich sauer.«
Ich kann mich noch genau an Mr. Murphys Gesicht erinnern, wie verschlossen es wirkte.
»Tut mir leid, Sloane«, sagte er. »Keine Besuche mehr um diese Uhrzeit.« Er sah James sehr ähnlich, war allerdings größer und schwerer. Und kälter.
Tränen brannten in meinen Augen. »Aber es ist wichtig.«
Er reagierte gereizt. »Hör zu. Ich habe schon mit James darüber gesprochen. Ihr beide … ich halte nicht viel davon.« Mr. Murphy legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich finde, du bist ein großartiges Mädchen, Sloane«, sagte er. »Und ich habe deinen Bruder geliebt. Aber du und mein Sohn, ihr könnt nicht gesund werden, wenn ihr euch gegenseitig ständig an seinen Tod erinnert. Fahr nach Hause, Liebes«, fügte er hinzu. »Ich bin sicher, deine Eltern machen sich Sorgen um dich.«
»Offensichtlich hatten meine Eltern ihn angerufen«, erzähle ich Dr. Warren. »Sie hatten ihn vorgewarnt, dass ich wahrscheinlich kommen würde.«
Ich höre wieder auf zu reden, lasse mich stattdessen entspannt in die Erinnerung sinken. Erlebe noch einmal den Moment, in dem James und ich erkannten, dass wir füreinander bestimmt waren. Für immer.
»Ich liebe Ihren Sohn«, sagte ich zu Mr. Murphy, als ich von der Tür zurücktrat. »Nicht wegen Brady. Ich liebe ihn einfach.«
James’ Vater senkte den Blick, dann schlug er mir die Tür vor der Nase zu. Schloss mich aus.
Einen Moment lang stand ich da, verwirrt. Aber als ich zum Auto zurückging, hörte ich einen Pfiff. Ich wandte mich um und sah James auf mich zurennen, einen Rucksack über die Schulter geworfen.
»Was tust …«
Sein Gesicht war ausdruckslos. »Lass uns verschwinden.« Er zog mich zum Auto, und wir stiegen ein. Ich fuhr los. James sah aus, als ob er gleich weinen würde.
»James«, begann ich, »sie sind der Meinung, dass …«
Er unterbrach mich, blickte mich eindringlich an. »Sloane, sie können mich nicht von dir fernhalten.«
»Was also sollen wir tun?«, wollte ich wissen.
Er zeigte nach vorn. »Fahr einfach.«
Dr. Warren setzt sich anders hin, und ich schaue sie an. Sie nickt, ermutigt mich, mich ganz genau an alles zu erinnern.
»James und ich sind fortgelaufen«, erzähle ich ihr. »Wir fuhren zu einem Campingplatz, auf dem es Jurten gab – diese zeltähnlichen Behausungen, die bereits aufgestellt sind –, und James mietete eine für den Rest der Woche. Niemand stellte ihm irgendwelche Fragen, weil er bar bezahlte und älter wirkte. Dann betraten wir unsere Jurte, und sie war wie unser eigenes kleines Haus. Unser eigenes kleines Leben.«
Ich lehne mich zurück in dem Sessel in Dr. Warrens Büro, mein Körper ist warm von den Drogen. Ich erinnere mich daran, wie James und ich den Tisch und das Bett umgestellt haben und diese Jurte so zu der unsrigen machten. Wir wären am liebsten für immer dort geblieben. Es gab dort auch ein Kartenspiel, und irgendwie überredete mich James zu einer Runde Strip-Poker. Nur dass er es war, der verlor.
»Verlierst du mit Absicht?«, fragte ich ihn lachend.
»Wenn ›gewinnen‹ bedeutet, dich nackt zu sehen, dann kannst du darauf wetten, dass ich alles daransetze, zu gewinnen.« Sein Blick glitt über mein T-Shirt und meine Jeans. »Du könntest wenigstens eine Socke ausziehen, um mich ein bisschen aufzuheitern.«
Also tat ich es, zog sie langsam aus und warf sie dann quer durch den Raum.
James’ Gesichtsausdruck veränderte sich, das Spielerische wich daraus. »Sloane«, flüsterte er und legte die Karten auf den Boden, »ich liebe dich. Nur mit dir fühle ich mich komplett.«
Über die Karten weg kroch er zu mir herüber, dann stoppte er dicht vor mir. Sein Gesicht war meinem nahe, er musterte mich. »Ich liebe es, wie du lachst. Wenn du weinst. Ich liebe es, dich zum Lächeln zu bringen.« Er berührte meine Wange, und ich lächelte unwillkürlich. »Dich zum Stöhnen zu bringen.«
Schmetterlinge flatterten in meinem Magen, und ich schlang meine Arme um seinen Hals.
»Baby«, fuhr er fort, »ich werde den Rest meines Lebens mit dir verbringen oder bei dem Versuch sterben, es zu tun.«
»Sprich nicht übers Sterben«, murmelte ich und küsste ihn sanft auf den Mund.
»Du bist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann. Du bist die Einzige, die jemals wissen wird, wie ich wirklich bin.«
»Ich weiß, dass James mich liebte«, erkläre ich Dr. Warren, während mir Tränen über die Wangen laufen. »Weil ich ihn besser kannte, als jemals jemand ihn gekannt hat. Er tat immer so, als wäre alles in Ordnung, als ob er taff wäre, aber Bradys Tod quälte ihn zutiefst. James hasste seinen Vater dafür, dass der uns auseinanderbringen wollte. Er nahm es seiner Mutter übel, dass sie ihn verlassen hatte, als er noch ein Kind war. Wenn wir allein waren, zeigte James sich verletzlich, und dann liebte ich ihn am meisten.« Ich wische mir die Tränen von den Wangen und sehe Dr. Warren an. »Wir waren zusammen, weil wir uns geliebt haben. Und das war der einzige Grund.«
Dr. Warren nickt bedächtig, notiert nichts, sondern sieht nur so drein, als würde sie verstehen. Aber wahrscheinlich täuscht sie das genauso vor wie alles andere.
Der Raum um mich herum verliert seine Konturen, wie in einem Traum.
»Nimm das«, sagt sie und schiebt mir eine schwarze Pille hin. Keine gelbe, die ich gewöhnlich nehmen muss, und plötzlich packt mich Hoffnung. Vielleicht hilft Dr. Warren mir ja doch. Ein Lächeln spielt um meine Lippen, und ich beuge mich träge vor und nehme die Pille, schlucke sie dankbar.
Als ich dies tue, atmet Dr. Warren aus und legt ihren Stift hin.
»Tut mir leid, dass du so vieles durchmachen musstest, Sloane«, sagt sie, und es klingt so, als würde sie es auch so meinen. »Du solltest dir nun einen Moment gönnen, um Abschied zu nehmen.«
Ich ziehe die Brauen zusammen. »Abschied von wem?«
»Von James.«
Der Boden scheint unter mir wegzubrechen, und obwohl die Drogen meine Bewegungen verlangsamen, springe ich auf. Nein. Nein. Nein. Ich stecke mir schnell den Finger in den Hals, würge, während Dr. Warren mir aufzuhören befiehlt und die Schwester ruft. Ich muss die Pille ausspucken, bevor sie ihn auslöschen können. James.
Aber meine Erleichterung ist nur von kurzer Dauer. In dem Moment, in dem ich die Pille herauswürge, kommt Marilyn mit der Spritze herein, um mir alles zu nehmen.