11. Kapitel

Es ist jetzt knapp einen Monat her, seit Miller gestorben ist, und James ist immer noch nicht wieder er selbst. Es fordert mir alle Kraft ab, die Fassade aufrechtzuerhalten, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ich mache James’ Hausaufgaben, reiße aus seinem Block die Seiten mit den schwarzen Spiralen heraus und schreibe stattdessen Logarithmen hinein. Ich bringe ihn in seine Klassen, achte darauf, dass er nicht versucht, irgendwo QuikDeath zu kaufen, passe auf, ob es den anderen auffällt, dass er sich verändert hat.

Natürlich fällt es ihnen auf. Unsere Schulkameraden wenden den Blick ab, wenn wir an ihnen vorbeigehen, weil sie nicht mit uns in Verbindung gebracht werden wollen. Das Risiko, selbst weggeschickt zu werden, ist ihnen zu hoch.

Ich weiß, dass uns nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, und so trage ich noch ein bisschen dicker auf. Ich lache zu laut. Küsse James auf dem Gang zu leidenschaftlich – obwohl er meine Küsse nicht erwidert. Ich fange an zu vergessen, wie er früher war. Ich fange an zu vergessen, wie wir früher waren.

Zum neuen Halbjahr wechseln die Unterrichtspläne, und wie durch ein Wunder landet James in meiner Matheklasse. Oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass unsere Schule an wachsendem Schülerschwund leidet. Seit Miller hat es zwei weitere Selbstmorde gegeben. Ich stelle fest, dass immer mehr Betreuer da sind, darunter auch derjenige, der mich immer beobachtet.

Und er ist auch jetzt hier, in unserer Klasse, steht mit einem anderen Betreuer an der Tür und schaut in den Raum. Neben mir sitzt James und starrt auf sein Pult. Er hat den Block noch nicht herausgenommen. Er sitzt ganz reglos da.

»James«, flüstere ich und hoffe, dass ich damit keine Aufmerksamkeit auf uns ziehe. »Bitte!« Aber er reagiert nicht.

Dann höre ich Schritte, und noch bevor ich aufblicke, weiß ich es. Weiß es, weil das Aufkeuchen der anderen es mir verrät. Tränen drängen in meine Augen, doch ich halte sie zurück und betrachte meinen Freund. Ich weiß, was gleich passieren wird.

»Ich liebe dich«, wispere ich James zu. »Du wirst zu mir zurückkommen.« Meine Worte sind kaum mehr als ein Hauch.

Dann geraten die weißen Kittel in mein Sichtfeld. Sie stellen sich neben ihn. Ziehen ihn von seinem Stuhl hoch.

Mir ist so schlecht, dass ich mich fast übergebe, doch ich klammere mich an der Tischplatte fest, kämpfe immer noch gegen meine Tränen. Die anderen Schüler halten die Köpfe gesenkt, wollen ihre Gefühle nicht preisgeben. Mein James. Mein James.

Die Betreuer zerren ihn zur Tür, doch dann blickt James plötzlich zu mir zurück, die blauen Augen weit aufgerissen. Er beginnt zu kämpfen, will sich aus ihrem Griff befreien.

»Sloane!«, ruft er und lässt sich auf die Knie fallen. »Warten Sie!«, sagt er dann mit fester Stimme, doch sie hören nicht auf ihn, zerren ihn wieder hoch. Einer der Betreuer wirft mir einen Blick zu, als deutliche Warnung, nicht zu antworten.

Ich versuche zu lächeln, irgendetwas zu tun, dass James sagt, dass er es überleben wird. Und dass ich da sein werde, wenn er zurückkehrt. Ich hauche einen Kuss auf jeden meiner Finger und tue so, als würde ich ihm all diese Küsse zuwerfen.

Er bleibt stehen, gibt jeden Widerstand auf, und sie packen ihn fester. Dann schließt James die Augen und lässt sich von ihnen durch die Tür bugsieren.

Als er fort ist, schauen ein paar Leute zu mir hin. Die Lehrerin starrt mich an. Alle warten sie darauf, wie ich reagiere, ob ich die Nächste sein werde. Ob die Betreuer gleich in die Klasse zurückkehren müssen.

Aber ich tue nichts. Ich sterbe, alles in mir zerreißt, blutet. Ich bin schon so weit fortgegangen, dass ich nicht sicher bin, ob ich je wieder zurückkehren kann. Doch ich schlage meinen Block auf, lege den Stift darauf, als sei ich bereit zu schreiben.

Ich strenge mich an, gleichmäßig zu atmen. Warte. Und dann beginnt die Lehrerin wieder zu reden, erklärt uns weiter mathematische Grundsätze. Ich höre die Stühle knarren, als meine Klassenkameraden ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Unterricht richten.

Eine Träne rollt mir über die Wange, eine, die ich nicht zurückhalten konnte. Ich wische sie nicht weg, und sie fällt mit einem leisen »Plopp« auf den Block. Ich schließe die Augen.

James war immer grauenvoll schlecht in Mathe. Brady hat versucht, ihm zu helfen, aber es war hoffnungslos. Mein Freund hat es einfach nicht kapiert.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie einmal gemeinsam Hausaufgaben gemacht haben. Brady rief mich in die Küche. Er und James saßen am Tisch, die aufgeschlagenen Bücher lagen vor ihnen.

Ein Monat war vergangen seit jenem Campingausflug, bei dem mich James dabei ertappt hat, wie ich ihn angestarrt habe. Seitdem war ich ihm ausgewichen.

Ich versuchte mir einzureden, dass sich nichts verändert hatte, obwohl ich ein paar Mal bemerkt hatte, wie er mich auf ganz seltsame Weise ansah, als versuche er sich darüber klarzuwerden, ob er mich darauf ansprechen solle oder nicht. Wenn er sich mit mir unterhielt, senkte ich beharrlich den Blick. Ich kam mir auch so schon dumm genug vor.

»Sloane«, sagte Brady, »schau dir doch mal diese Aufgabe an.«

Ich warf James einen unbehaglichen Blick zu, als ich die Küche betrat. Er nippte an seinem Sprudel, beachtete mich nicht.

»Worum geht’s?«, fragte ich meinen Bruder, während sich mein Magen nervös zusammenzog.

Brady zeigte auf eine Formel in seinem Buch und die dazu gehörende Übungsaufgabe. »Kannst du die lösen?«, wollte er wissen. Mit einem breiten Grinsen sah er dann zu James hinüber – der weiterhin so tat, als würde er mich nicht beachten.

Ich schluckte, und meine Augen wurden schmal, während ich die Aufgabe im Kopf ausrechnete. »X ist gleich acht«, sagte ich dann.

Brady lachte, und James schüttelte den Kopf, ein Grinsen auf den Lippen. Dann griff er in seine Hosentasche und holte einen Fünf-Dollar-Schein hervor, legte ihn auf das offene Buch meines Bruders.

Brady hielt den Schein triumphierend hoch. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie klüger ist als du.«

»Und ich habe dir da nie widersprochen«, erwiderte James und sah mich nun doch an. »Ich hab schon immer gewusst, dass deine Schwester klüger ist als ich. Und hübscher. Darauf hab ich ja auch gar nicht gewettet. Ich wollte nur, dass du sie hereinrufst, damit sie mich endlich mal wieder beachtet. Das war mir die fünf Dollar wert.«

Bevor ich richtig begriff, was er gesagt hatte, blätterte James schon wieder in seinem Buch, den Mund immer noch zu einem leichten Grinsen verzogen.

Brady drückte mir das Geld in die Hand. »Du hast es dir verdient«, meinte er. »Dafür, dass du ihn immer ertragen musst.« Er tat so, als hätte James einen Scherz gemacht, lachte dessen Worte weg.

Aber mein Gesicht brannte vor Verlegenheit. Und Demütigung.

Ich knüllte den Schein zusammen und warf ihn nach James, sah, wie er von seiner Wange abprallte. Er blickte auf, überrascht, und Brady lachte.

»Ich will dein Geld nicht«, sagte ich und drehte mich um, um wieder nach oben zu gehen, in mein Zimmer.

»Was willst du dann, Sloane?«, rief James mir amüsiert hinterher, als wollte er mich zu einer Antwort provozieren.

Ich blieb einen Moment auf der Treppe stehen, dann ging ich in mein Zimmer.

Ich weiß, dass James diesmal nicht zu mir kommen wird, so wie er es an jenem Tag tat, um sich zu entschuldigen. James ist jetzt im »Programm«. Der James, den ich gekannt habe, ist verschwunden.

»Sloane, Liebes?«, höre ich meine Mutter sagen, die draußen vor meiner Zimmertür steht.

Ich liege teilnahmslos auf meinem Bett, muss mich zwingen, ihr zu antworten. »Was ist?«

»Zeit zum Abendessen. Würdest du bitte nach unten kommen? Ich habe dich schon dreimal gerufen.«

Hat sie?

»Klar. Sicher.« Ich erhebe mich schwerfällig, schaue an mir herab. Ich wünschte, es wären Blutstropfen auf meiner Kleidung oder Tränen, irgendetwas, was auch äußerlich zeigt, wie verletzt ich bin. Doch es sind nur eine Jeans und ein pinkfarbenes T-Shirt. So schmerzhaft unbedeutend, dass ich mich selbst dafür hasse. Ich gehe nach unten.

Meine Eltern sitzen am Esstisch, jeder von ihnen ein wohlwollenes Lächeln ins Gesicht getackert. Ich versuche, ihr Lächeln zu erwidern, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen etwas vormachen kann.

Vater runzelt die Stirn.

»Ich hab dein Lieblingsessen gemacht«, sagt Mutter. »Spaghetti und Fleischbällchen.«

Ich weiß, dass sie eine halbe Ewigkeit gebraucht hat, um die Soße zuzubereiten, und deshalb bedanke ich mich. Ich setze mich und überlege, ob ich wohl etwas in ihrem Medizinschrank finden kann. Etwas, was mir helfen wird zu schlafen.

»James’ Vater hat angerufen«, sagt meine Mutter sanft. »Er hat uns erzählt, dass James heute ins ›Programm‹ geschickt wurde.«

Mein Magen knotet sich um ihre Worte, und ich trinke einen Schluck Wasser. Die Eiswürfel im Glas schlagen laut aneinander, weil meine Hände so sehr zittern.

»Er wird von nun an sicher sein«, fährt meine Mutter fort. »Wir sind alle so dankbar für ›Das Programm‹. Wir wussten ja nicht einmal, dass er infiziert war.«

Ich wusste es. Aber nun weiß ich auch, dass er fort ist, und wenn er zurückkommt, werde ich nicht länger Teil seines Lebens sein. Sie werden alles in ihm ausgelöscht haben.

»Sloane, deine Mutter redet mit dir«, mahnt Vater leise.

Ich sehe ihn an, und der Ärger spiegelt sich deutlich auf meinem Gesicht, denn er setzt sich aufrecht hin. »Was soll ich denn deiner Meinung nach darauf antworten?«, frage ich. Ich habe meine Stimme kaum unter Kontrolle. »Was ist die korrekte Antwort darauf?«

»Dass du glücklich darüber bist, dass es ihm nun besser gehen wird. Dass du glücklich darüber bist, dass er sich nun kein Leid mehr antun wird.«

»Sie haben ihn rausgezerrt«, fahre ich ihn an. »Sie sind in die Klasse gekommen und haben ihn nach draußen gezerrt. Was soll glücklich daran sein?«

»Sloane«, sagt meine Mutter alarmiert, »wusstest du etwa, dass er infiziert ist? Du hast doch nicht versucht, es zu verbergen, oder? Er hätte …« Sie spricht nicht weiter, schaut ganz entsetzt drein.

Ich kann einfach nicht glauben, dass sie es nicht verstehen. Ich frage mich, ob es daran liegt, dass Erwachsene eher dazu neigen, Probleme zu verdrängen, dass sie Nicht-Wissen für einen Segen halten. »Das Programm« stiehlt unsere Erinnerungen. Sie löschen unsere Gefühle, sodass wir wie ein unbeschriebenes Blatt Papier sind. Niemals verletzt wurden oder Liebeskummer hatten. Doch wer sind wir schon ohne unsere Vergangenheit?

»James wäre lieber gestorben, als sich dem ›Programm‹ zu unterwerfen«, sage ich und greife nach meiner Gabel. »Und jetzt verstehe ich auch, warum.«

Meine Mutter wirft ihre Serviette auf den Tisch. »Er wird Hilfe bekommen, Sloane. Nur darauf kommt es an, oder? Ich wünschte, wir hätten auch Brady rechtzeitig helfen können.«

Ich schreie auf, die Wut in mir ist zu mächtig, brodelt einfach heraus. »Bist du wirklich so dumm?«, brülle ich sie an. »Glaubst du wirklich, Brady hätte gewollt, dass alle seine Erinnerungen ausgelöscht werden? Niemand will das, Mom. Niemand will ausgehöhlt sein. Sie bringen uns um!«

»Nein!«, schreit sie zurück. »Ihr bringt euch selbst um. Sie retten euch.«

»Indem sie mir alles nehmen, was mein Leben lebenswert macht?«

»Sag mal, geht es hier wirklich nur um James? Liebes, ich bin sicher, wenn er zurückkommt, dann …«

Ich werfe meine Gabel durch den Raum, klirrend prallt sie gegen die Wand. »Es geht nicht nur um James! Sie reißen Stücke aus meiner Seele. Erinnerungen an Brady. Ich werde meine Freunde nicht wiedererkennen. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern können, warum ich so gern zum Fluss gehe … Weil mich nämlich James dort zum ersten Mal geküsst hat. Wusstet ihr das? Dort hat er mir zum ersten Mal gesagt, dass er mich liebt. Und nun werden sie ihm das wegnehmen, und er wird sich nicht mehr daran erinnern. Er wird nicht einmal mehr wissen, wer er überhaupt ist.«

»Wenn es euch bestimmt ist, dann werdet ihr euch wiederfinden.«

Na, wunderbar. »Ich hasse dich«, sage ich, und Tränen quellen aus meinen Augen.

Ich habe das bereits einmal zu meiner Mutter gesagt, damals, nachdem mein Bruder gestorben war. Sie hat mir daraufhin gedroht, mich ins »Programm« zu schicken, und so habe ich diese Worte nie wieder ausgesprochen.

Nun starre ich sie an, und all meine Gefühle fließen in einer schwarzen Spirale zusammen.

»Ich nehme es zurück«, sage ich leise und lächele traurig. »Weil ich mich selbst nämlich noch viel mehr hasse.« Und dann springe ich auf und renne zur Garage, um mir den Wagen meiner Mutter zu nehmen. Ich muss fort von hier. Fort von ihr. Von allem.