5. Kapitel

Lacey hat es sich zur Angewohnheit gemacht, beim Mittagessen mit mir am Tisch zu sitzen, ihre Cupcakes mit mir zu teilen und mich mit ihren Geschichten über Jungs zu unterhalten. Seit jenem ersten Mal bin ich nicht mehr im Wellness Center gewesen, und Lacey hat auch nicht mehr vorgeschlagen, das wir uns dort treffen sollten. Ich hoffe nur, dass meine Mutter doch irgendwann erlaubt, dass sie zu uns nach Hause kommt.

»Übrigens, ich hab mich gestern Abend mit einem neuen Typ auf einen Kaffee getroffen«, erzählt sie und strahlt.

»Wirklich?« Ich muss zugeben, ich bin ein bisschen eifersüchtig. Es hört sich so aufregend an, ein Date zu haben, so frei. Selbst wenn ich die Erlaubnis bekäme, mich mit jemandem zu verabreden, müsste ich Kevin mitschleppen. Und wie grässlich wäre das denn?

»Er ist süß«, erzählt Lacey. »Er hat einen Wagen, und das Beste überhaupt ist, dass er über achtzehn ist.«

»Also war er nicht im ›Programm‹?«

»Genau. Er ist so wahnsinnig normal, dass ich fast schon sagen würde, dass er langweilig ist, aber im Moment ist mir das egal. Er kann richtig gut küssen.«

Ich lache. »Ich glaube, das ist der eigentliche Grund, weshalb du ihn magst.«

»Das ist nicht komisch«, sagt sie und wirft mit der zusammengeknüllten Hülle ihres Strohhalms nach mir. »Es ist ein ernsthaftes Problem, wenn die Zunge zu heftig eingesetzt wird. Meiner Meinung nach ist das hier die eigentliche Epidemie.«

Ich fange an, wie verrückt zu lachen. Kevin beobachtet uns mit einem Mal wachsamer, doch ich kann einfach nicht aufhören.

»Aber trotzdem, seine Technik gehört mit zu den Gründen, weshalb ich ihn mag. Aber es gibt auch noch eine Menge anderer Gründe.« Sie grinst. »Er sieht sooo süß aus.«

»Oh Mann, wenn ihr so viel gemeinsam habt, dann kommt ihr mir ja glatt wie Seelenverwandte vor!«

»Ach, halt die Klappe.« Lacey lacht. »Aber ich sag dir was«, fährt sie dann wieder ernster fort. »In dem Augenblick, in dem ich meinen Abschluss habe, bin ich raus aus der Stadt. Und aus diesem Staat. Ich hab gehört, dass sie im Osten die Epidemie auch ohne ›Das Programm‹ im Griff haben. Stell dir mal vor, dort laufen alles normale Leute rum.«

Meine Augen werden ganz groß. »Sie haben sie im Griff? Davon hab ich ja noch nie gehört.«

»Wird ja auch nicht lauthals verkündet«, sagt sie und nippt an ihrem Getränk. »Das sind Untergrund-News, aber sie stimmen.« Sie lächelt. »Vielleicht kommst du ja mit mir.«

»Dann müsste ich aber auch Kevin mitnehmen«, sage ich und deute auf meinen Betreuer.

Lacey scheint darüber nachzudenken. »Okay, er kann mitkommen«, murmelt sie und mustert ihn. »Ich steh auf blonde Typen.«

Kevin hat bemerkt, dass wir ihn beobachten. Lacey lacht und widmet sich wieder ihrem Cupcake.

»Sag mal, hast du eigentlich im ›Programm‹ Freunde gefunden?«, will ich ein paar Minuten später wissen.

Lacey schüttelt den Kopf. »Nö. Die waren alle ziemlich lahm.« Sie schaut mich verschmitzt an. »Hast du vor, deinen Freund zu suchen – ich meine den mit den besonderen Vorteilen?«

»Er hat nicht diese Art von ›Vorteilen‹, und ja, das habe ich vor. Meinst du, ich sollte? Oder denkst du, es könnte mich wieder krank machen?«

Laceys Miene verdüstert sich. »Ich wünschte, ich wüsste, was uns krank macht, Sloane. Aber wir wissen es nicht. Und sie auch nicht. Ich sag dir: Zieh los und such ihn. Du verdienst es, ein Leben nach deinen Vorstellungen zu führen.« Es liegt ein Hauch von Traurigkeit in ihrer Stimme, als hätte sie sich selbst auch schon gefragt, ob sie wieder krank werden könnte.

Über Laceys Schulter hinweg fällt mein Blick auf James, der uns beobachtet. Prompt habe ich ein ganz eigenartiges Gefühl im Magen, Angst und Aufregung zugleich. Lacey muss es mir angesehen haben, denn sie dreht sich um und sieht ihn an, dann wendet sie sich wieder mir zu.

»Ich wusste doch, dass du ihn magst!«

»Nein, tue ich nicht«, behaupte ich schnell. »Es ist nur so, dass er anscheinend nicht mit mir sprechen will, und um ehrlich zu sein, macht ihn das irgendwie … noch heißer.«

Wir lachen beide.

»Glaub mir«, sagt Lacey und knüllt die Manschetten der Cupcakes zusammen, »James mag ein heißer Typ sein, aber er riecht nach Ärger. Wegen jemandem wie ihm könntest du wieder weggebracht werden. Also begnüge dich lieber damit, ihn aus sicherer Entfernung anzuhimmeln.« Sie zwinkert mir zu, dann steht sie auf und geht.

Als ich nach Unterrichtsende an meinem Spind stehe, ist von Kevin weit und breit nichts zu sehen. Ich überlege, ob ich auf ihn warten soll, doch dann wird mir bewusst, wie glücklich ich bin, unbewacht zu sein. Ich gehe hastig nach draußen. Es ist die Aufgabe meines Betreuers, mich zu finden, nicht umgekehrt.

Es ist ein schöner Tag. Die Sonne strahlt warm vom wolkenlosen Himmel, und es macht mir tatsächlich Spaß, zu Fuß zu gehen. Ein paar Leute schauen mich an, als wüssten sie, dass ich nicht ohne Begleitung sein sollte, aber sie grüßen mich trotzdem. Erst ein paar Blocks weiter wird mir klar, wie weit es tatsächlich bis zu meinem Elternhaus ist. Vielleicht sollte ich meine Mutter anrufen, dass sie mich abholt.

»Hey. Du bist Sloane, nicht wahr?«

Die Stimme lässt mich zusammenzucken, und ich schaue zu dem Wagen hin, der langsam neben mir herrollt. Ich bücke mich, um durch das Seitenfester nach innen zu sehen, und bleibe abrupt auf dem Bürgersteig stehen.

»Ja«, erwidere ich.

»Ich bin James«, sagt er. »Du weißt schon, der, den du immer in Mathe anstarrst.«

Ich werde rot, tue aber so, als ob mich das nicht stören würde. »Ich starre dich nicht an.«

Er lächelt, und natürlich weiß er, dass ich es tue. »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

Ich bin verlegen und nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Kevin hat mir gesagt, dass ich mich von James fernhalten soll, dass er auf einem selbstzerstörerischen Weg sei.

»Wir dürften eigentlich nicht miteinander reden«, sage ich.

»Wirklich? Okay, wenn es dir lieber ist, dann können wir auch die ganze Zeit den Mund halten.«

Ich lache und richte den Gurt meines Rucksacks auf meiner Schulter. »Ist das dein Auto?«, erkundige ich mich.

»Nein. Soll das heißen, dass du einsteigst?«

»Ich soll mich nicht von Fremden mitnehmen lassen«, sage ich.

James senkt den Blick, und plötzlich sieht er gar nicht mehr so lässig aus.

»Aber«, fahre ich fort, »du scheinst mir eher harmlos zu sein.«

Er wirkt überrascht. »Wirklich?«

»Nein. Du siehst aus, als könnte ich deinetwegen eine Menge Probleme kriegen. Aber es ist noch so weit bis nach Hause.« Ich trete an den Wagen heran und ziehe die Beifahrertür auf.

Er schweigt und fährt los, und als wir die Abzweigung zu unserem Haus erreichen, sage ich nichts.

Schließlich räuspere ich mich. »Glaubst du, dass sie uns folgen?«, frage ich.

»Wer?«

»Die Betreuer.«

James tippt mit dem Daumen auf das Lenkrad, als er nach links auf die Hauptstraße abbiegt und wir an all den Autohäusern und Restaurants vorbeifahren. »Ja, aber nicht heute«, antwortet er. »Sie sind alle zur Highschool gerast. Da scheint es einen schweren Zwischenfall gegeben zu haben, den sie unter Kontrolle bekommen sollen.«

»Meinst du, dass auch mein Betreuer dorthin gefahren ist? Und ich dachte schon, er hätte mich satt.«

»Wäre nicht unwahrscheinlich.« James lächelt. »Du scheinst mir eine ziemliche Nervensäge zu sein.« Schnell fügt er hinzu: »War nur ein Scherz.« Und fährt fort: »Wahrscheinlicher ist, dass er gerade jemanden tasert. Wahrscheinlich wird er nachher bei euch zu Hause vorbeifahren. Manchmal fahren sie auch noch bei mir vorbei.«

»Oh.« Ehrlich, ich hatte nicht gewusst, dass Kevin an unserem Haus vorbeifährt, und es verursacht mir ein unbehagliches Gefühl. »Was meinst du, was sie tun werden, wenn sie uns zusammen erwischen?«

»Nichts. Was sollen sie denn schon tun?« Er lacht. »Uns den Hintern versohlen?«

»Sie könnten uns zurück in …«

»Sloane, hast du Hunger?«, unterbricht er mich. »Vielleicht könnten wir zu Denny’s gehen oder so. Ich esse gern Pfannkuchen.«

»Man könnte uns bei Denny’s sehen«, wende ich ein.

»Stimmt. Du hast recht.« Er wendet sich mir zu und lächelt, aber es wirkt angestrengt, als sei seine Selbstsicherheit nur gespielt. »Der Drive-in von McDonald’s?«

»Warum hast du wirklich angeboten, mich nach Hause zu fahren?«, will ich wissen, denn ich bin echt neugierig. James hat mir zwar damals im Wellness Center geholfen, mich aber in der gesamten Zeit danach ignoriert – und jetzt redet er plötzlich wieder mit mir und fährt mich sogar durch die Gegend.

Er zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Aber warum hast du dann …«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich will keine Freunde, Sloane. Ich will einfach nur meinen Abschluss machen und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden.« Er atmet tief durch, starrt durch die Windschutzscheibe. »Und dann tauchst du plötzlich auf, schaust mich mit deinen großen braunen Augen an. Siehst mich an, als ob du mich kennen würdest.«

»Ich kenne dich nicht.«

»Und ich kenne dich nicht. Warum hat es mich dann gestört, dass dieses Arschloch da draußen auf der Terrasse so gemein zu dir war? Warum habe ich mir seit jenem Abend ständig Gedanken über dich gemacht? Kannst du mir das erklären?«

Er hört sich frustriert an, und ich begreife, dass ihn die gleichen widersprüchlichen Gefühle quälen wie mich. Gefühle, die losgelöst sind von sämtlichen Erinnerungen und deshalb ohne irgendeine Bedeutung.

Plötzlich bekomme ich Angst und denke wieder daran, dass James für mich ein Risiko ist. »Ich wohne am Hillsdale Drive«, murmele ich. »Wir sind schon vor einer ganzen Weile dran vorbeigefahren.«

James scheint etwas sagen zu wollen, doch dann macht er nur einen scharfen U-Turn und fährt zurück, in die Richtung meines Elternhauses. Er sagt nichts, und die Anspannung zwischen uns steigt an.

Ein Schmerz packt mich plötzlich, breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Ein heftiger Schmerz. Furcht. Ich möchte so weit wie möglich weg von James Murphy, denn ich glaube, er könnte der Auslöser sein. Ich fühle mich … krank.

Als er vor unserer Einfahrt hält, steige ich hastig aus. Ich bedanke mich noch und eile dann auf die Haustür zu, froh, dass meine Eltern noch nicht daheim sind und nicht sehen können, wie aufgelöst ich bin.

Als ich an der Tür bin, schaue ich noch einmal zurück. Der Wagen steht immer noch dort. James redet mit sich selbst und scheint ziemlich sauer zu sein. Doch plötzlich erstarre ich, als ich sehe, wie er sich ärgerlich über die Wangen wischt und dann losfährt.