14. Kapitel
Am nächsten Morgen lasse ich das Frühstück ausfallen, um Realm aus dem Weg zu gehen. Es ist mir peinlich, dass ich ohne eine Erklärung weggelaufen bin. Es hat mir gefallen, ihn zu küssen – er küsst gut. Aber es hat sich falsch angefühlt, warum auch immer, so, als ob ich ihn nicht berühren sollte.
Ich sitze im Schneidersitz auf meinem Bett, starre auf die Tür und versuche, mich selbst zu überreden, das Zimmer zu verlassen. Ich muss mich ihm stellen, doch zugleich hoffe ich, dass er so tut, als wäre nichts passiert. Er ist mein bester Freund, und vielleicht könnte er doch noch mehr für mich werden … Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich auch einfach nur ein Idiot.
Als ich schließlich all meinen Mut zusammengerafft habe, gehe ich hinaus auf den Flur und checke als Erstes den Aufenthaltsraum. Derek, der zusammen mit Shep fernsieht, bemerkt mich, nickt und ruft mir ein »Hallo« zu.
»Habt ihr Realm gesehen?«, erkundige ich mich.
»Nö«, antwortet Derek, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. »Ich glaub, er hat heute früh einen Termin bei Dr. Warren.«
Ich verziehe den Mund. Ich selbst habe erst am Nachmittag eine Therapiesitzung, und ich fürchte mich davor, obwohl Dr. Warren mir versichert, dass ich unglaubliche Fortschritte gemacht habe. Ich habe keine Ahnung, ob sie die Wahrheit sagt, denn ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich früher war.
Ich gehe in Richtung der Büros und frage mich, ob ich Realm abfangen kann, wenn er herauskommt. Die Tür zu Dr. Warrens Büro ist geschlossen, und ich nehme an, dass Realm noch drinnen ist. Ich lehne mich neben der Tür an die Wand und höre plötzlich eine lautstarke Diskussion.
»Michael«, höre ich Dr. Warren sagen, »sexuelle Kontakte sind nicht erlaubt. Das ist gegen die Regeln, und wir werden dich mit aller Härte bestrafen …«
»Wir schlafen nicht miteinander.«
Das ist Realms Stimme, und ich berühre meine Lippen, fürchte, dass er Ärger bekommen könnte.
»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt«, fährt er fort. »Ich tue das, weshalb ich hier bin. Wir haben uns geküsst. Das ist alles.«
Ich stehe draußen neben der Tür, lausche und mache mir Sorgen. Ich dachte, es würde sie nicht stören, wenn Realm und ich zusammen sind, aber vielleicht tut es das doch. Vielleicht haben sie uns sogar die ganze Zeit über beobachtet.
»Selbst damit hast du bereits eine Grenze überschritten. Und ich denke, nach deiner kleinen Auseinandersetzung mit Roger können wir uns nicht noch mehr Scherereien leisten. Tut mir leid, Michael, ich werde dich in eine andere Einrichtung schicken müssen.«
Nein! Panik überwältigt mich, und fast stürze ich in den Raum, um ihn zu verteidigen, doch Realm redet schon weiter.
»Wenn Sie mich jetzt wegschicken, dann gefährden Sie ihre Genesung«, sagt er. »Sloane glaubt sowieso, dass ich nächste Woche entlassen werde. Es gibt keinen Grund, eine Situation zu schaffen, in der Sie ihr als die Böse erscheinen. Es ist bemerkenswert, wie sehr sie sich verändert hat, finden Sie nicht auch?«
Ich habe plötzlich Angst. Eine Gänsehaut kriecht meine Arme hinauf. Was meint er damit?
»Ja, sie hat einen weiten Weg zurückgelegt«, meint Dr. Warren nachdenklich. »Also gut. Diese Woche kannst du noch bleiben, um dieses Stadium der Therapie zu einem Ende zu führen, aber ich warne dich: Hände weg von ihr! Sie könnten sonst ein Gerichtsverfahren gegen ›Das Programm‹ anstrengen.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass körperlicher Kontakt Wunder bei der Genesung zu bewirken vermag. Weil dadurch auch Vertrauen aufgebaut wird.«
»Hände weg«, wiederholt Dr. Warren, und ihre Worte klingen endgültig. Dann atmet sie tief aus. »Michael, bist du sicher, dass sie die Therapie beenden kann? Es gibt andere Möglichkeiten …«
»Sie wird es schaffen«, versichert Realm. »Ich brauche nur noch ein bisschen Zeit, um sicherzugehen, dass ihre Erinnerungen tatsächlich alle verschwunden sind. Sie ist im Moment sehr verletzlich.«
Ich stehe da, völlig verwirrt, und versuche zu begreifen, was ich da höre. Ist Realm tatsächlich ein Patient? Ich … ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Hat er mich hereingelegt?
»Tja, dann denke ich, dass damit alles erledigt ist«, meint Dr. Warren.
»Fast alles«, sagt Realm ruhig.
Ich stehe immer noch neben der Tür, als sie plötzlich geöffnet wird. Ich presse mich ganz flach gegen die Wand, als Realm herauskommt, mein Herz klopft wie verrückt. Er will schon gehen, bleibt dann aber noch stehen. Ich halte den Atem an.
»Lass dich nicht erwischen, wie du hier stehst«, murmelt er, ohne sich mir zuzuwenden. »Sonst schicken sie dich für noch einmal sechs Wochen woanders hin. Vielleicht sogar für länger.« Er senkt den Kopf, dann geht er den Gang hinunter.
Ich will ihm hinterherrennen und ihn fragen, was das alles bedeutet. Ich will, dass er es mir erklärt. Doch dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Realm arbeitet für sie. Er ist mein Freund, mein einziger Freund, aber er ist nicht echt. Realm ist Teil des »Programms«.
O Gott! Realm ist Teil des »Programms«! Alles, was ich ihm je anvertraut habe, hat er an Dr. Warren weitergetragen – Dinge, über die ich in den Sitzungen nicht sprechen will. Meine Geheimnisse.
Realm. Meine Lippen zittern, doch meine Hand ballt sich zur Faust. Er … er hat mit meinem Verstand gespielt. Er ist nicht besser als sie alle.
Realm sitzt beim Abendessen nicht mit mir zusammen, und ich schaue nicht auf, als er an mir vorbeigeht. Ein paar Leute wollen wissen, ob wir uns gezankt haben, aber ich ignoriere sie. Ich esse so gut wie nichts von dem Hähnchen auf meinem Teller.
Realm ist ein Spitzel, ein Verräter. Ich könnte ihn vor allen Leuten auffliegen lassen, und dieser Raum würde explodieren. Aber was wäre danach? Würden sie uns alle »Das Programm« noch einmal durchlaufen lassen? Gehören Derek und Shep auch dazu?
Mein Ärger ist so groß, dass er sich gegen die Drogen in meinem Blut durchsetzt. Ich schaue dorthin, wo Realm mit seinen Freunden sitzt, und ich stehe auf. Meine Hände zittern. Ich setze mich in Bewegung, und kurz, bevor ich bei ihm angekommen bin, sieht er mich und springt auf.
»Hey, Süße«, sagt er, und als er meine Hand packt und mich in die andere Richtung zieht, sehe ich, wie gezwungen sein Lächeln ist.
»Fass mich nicht an«, zische ich und reiße mich los.
Realm wirft mir einen warnenden Blick zu und dreht sich dann zum Tisch um. »Scheint so, als sei ich nicht mehr absolut in Ungnade gefallen, sondern nur noch ein bisschen«, sagt er. »Wir sehen uns nachher, Jungs.«
Sie lachen, aber ich weiche zurück zur Tür, Tränen drängen in meine Augen.
Als Realm es bemerkt, zieht er mich schnell in seine Arme und drückt meine Wange an sein Hemd, während ich versuche, mich freizukämpfen.
»Lass sie nicht sehen, dass du weinst«, sagt er ruhig. »Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst, aber wenn sie glauben, dass du zusammenbrichst, werden sie dich hierbehalten. Und ich weiß doch, dass du nach Hause willst, Sloane.«
Ich lege meine Hand auf seinen Unterarm, bohre meine Nägel hinein, so fest ich kann. Er zuckt zusammen, aber er lässt mich nicht los. Ich höre auf, denn ich weiß, dass ich ihm wehtue, und das will ich nicht, selbst jetzt noch nicht. Ich will, dass er mir sagt, dass ich mich irre, dass er tatsächlich mein Freund ist und mich nicht betrogen hat. Ich schniefe und wische mir die Tränen an seinem Hemd ab, bevor ich den Kopf hebe.
»Mein Kumpel ist ganz schön clever«, sagt Derek hinter uns und lacht.
Realm blickt auf mich herab. Er wirkt elend. Bedauern liegt in seinen dunklen Augen, aber seine Kiefer sind fest zusammengepresst. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann, ob die Gefühle, die er mich sehen lässt, echt sind. Und plötzlich kommt mir der Gedanke, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, was echt ist. Vielleicht habe ich endgültig den Verstand verloren.
Realm nimmt meine Hand und führt mich zur Tür. Er sagt kein Wort.
Schwester Kell sieht ihn an und macht ein besorgtes Gesicht.
»Ist schon okay«, versichert er ihr und fügt dann leiser hinzu: »Können Sie bitte dafür sorgen, dass ihre Medikamente in ihr Zimmer gebracht werden? Jetzt gleich?«
Sie nickt, dann zieht mich Realm auf den Flur. Doch statt zu meinem Zimmer zu gehen, biegt er in die andere Richtung ab. Zu seinem Zimmer. Er hält den Blick strikt nach vorn gerichtet, mein Handgelenk liegt fest in seinem Griff.
»Was machen wir hier?«, will ich wissen und frage mich, ob ich Angst vor ihm haben soll. Ob er vielleicht genauso gefährlich ist wie Roger.
»Hier können sie uns nicht belauschen«, flüstert er und schiebt mich in das Zimmer. Kaum sind wir drin, drängt er mich mit dem Rücken gegen die Tür, senkt den Kopf, sodass seine Lippen dicht neben meinem Ohr sind.
»Ich weiß, dass du mitgehört hast«, flüstert er. »Aber glaub mir bitte, ich bin wirklich dein Freund.«
»Nein.«
Er stützt die Hände links und rechts von meinem Kopf ab. Wenn irgendjemand uns so sehen würde, würde er denken, zwei Verliebte stünden da.
»Ich bin eine besondere Art von Betreuer«, fährt er fort. »Ich werde gemeinsam mit den anderen Patienten untergebracht, wie einer von ihnen. Und diesmal bin ich extra auf dich angesetzt worden, weil du … schwierig bist.«
Schmerz durchbohrt mein Herz, als er meine größte Furcht bestätigt: dass mein einziger Freund auf dieser Welt, der einzige, an den ich mich erinnern kann, kein echter Freund ist. Man hat mich manipuliert, ich fühle mich verletzt und zerrissen.
Realm kommt näher, schiebt einen Arm hinter mich, als wolle er mich umarmen. »Es tut mir so leid, Sloane«, sagt er, und seine Lippen streifen mein Ohr. »Aber ich schwöre dir, ich versuche nur, dir zu helfen. Sie wären noch tiefer in dein Gehirn eingedrungen, hätte ich dem nicht widersprochen. Du weißt, wovon ich rede?«, fragt er mich. »Sie hätten einen Eingriff vorgenommen und dich operiert, sodass du anschließend nicht mehr selbstständig hättest denken können.«
Mir wird ganz anders, ich fühle mich schwach und möchte mich hinlegen, doch Realm hält mich fest. »Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen«, ermahnt er mich. »Sie würden sofort merken, dass etwas nicht stimmt.«
Ich blicke zu ihm auf, sehe auf die Narbe an seinem Hals. »Ich verstehe das nicht«, sage ich, und mein Herz tut so weh. »Du bist doch einer von uns.«
Er nickt. »Ich war im letzten Jahr im ›Programm‹.« Er zeigt auf seinen Hals. »Wegen eines unglücklichen Zwischenfalls mit einem gezackten Messer. Ich kam hierher, und es ging mir besser. Nachdem meine Zeit zur Hälfte abgelaufen war, nahm Dr. Warren mich beiseite und fragte mich, was ich tun wollte, wenn ich entlassen würde. Aber da war nichts, wohin ich hätte zurückkehren können. Meine Eltern sind schon vor langer Zeit gestorben, und ich kann mich nicht mehr an meine Freunde erinnern. Ich hatte nichts. Also bot Dr. Warren mir einen Job an – eine Zukunft innerhalb des ›Programms‹. Damit ich Leuten helfe, wieder gesund zu werden. Ich habe den Vertrag unterschrieben.«
»Und was tust du uns an?«
Er krümmt sich, als wüsste er, dass mir die Antwort nicht gefallen wird. »Ich baue solide Beziehungen auf, bringe den Patienten bestimmte Dinge wieder zu Bewusstsein, damit sie nicht verstört und hilflos sind, wenn sie entlassen werden. Es hat Rückfälle und Nervenzusammenbrüche gegeben, und sie kamen zu der Überzeugung, dass die vom Trauma der Wiedereingliederung ausgelöst werden, wenn man die Leute ohne eine gewisse Vorbereitung wieder rauslässt in die reale Welt.«
»Also hast du nicht nur so getan, als wärst du mein Freund?«, halte ich ihm herausfordernd vor. »Du hast mich nicht betrogen und ihnen all das weitererzählt, worüber wir gesprochen haben? All das, woran ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann?«
»Natürlich musste ich es ihnen erzählen«, erklärt er. »Ich musste doch sichergehen, dass die Therapie Wirkung zeigt. Und glaub mir, Süße, du hättest garantiert keine Lust darauf, mit unvollständigen Erinnerungen herumzulaufen. Über kurz oder lang würde es dich in den Wahnsinn treiben.«
Ich hebe meine Hände und schiebe ihn zurück. »Und dass du mich geküsst hast, war das auch Teil meiner Vorbereitung?« Es fällt mir schwer, das auszusprechen. Denn ich fühle mich nicht nur betrogen, sondern auch benutzt.
Realm schüttelt den Kopf. »Nein, war es nicht. Ich hätte es nicht tun sollen.«
»Und warum hast du?«
Realm senkt den Blick. »Weil ich dich mag. Auch ich bin einsam. Nur weil ich kein Patient bin, heißt das nicht, dass ich mich nicht genauso isoliert fühle wie ihr. Ich bin jetzt seit fünf Wochen hier, Sloane. Ich will wieder raus. Und ich möchte dich mit mir nehmen.«
Erneut schiebe ich ihn weg, und er stößt gegen das Bett. Er versucht nicht, sich zu widersetzen. Die Vorstellung, dass Realm jederzeit hätte verschwinden können, während ich gegen meinen Willen hier festgehalten werde, weckt in mir Hass auf ihn.
»Und was ist mit Roger?«, frage ich plötzlich. »Hat er auch dazugehört?«
»Nein«, sagt Realm. »Ich meine, ja. Er war mit eingebunden, aber das ist ja nun vorbei. Er hatte kein Recht, solche Dinge zu tun. Ich wusste es nicht. Ich schwöre …«
»Klar. Auf dein Wort ist ja Verlass.«
»Ich wusste es wirklich nicht. Ich hätte alles getan, um dich zu beschützen.«
»Bevor oder nachdem du ihnen geholfen hast, mein Leben auszulöschen? Glaubst du wirklich, ich könnte das verzeihen? Glaubst du wirklich, ich werde jemals darüber hinwegkommen?«
»Ich hoffe es«, sagt er. »Ich …« Er redet nicht weiter. Seine blasse Haut ist noch fahler als sonst. Als ob ihm übel würde. »Ich habe nichts. Und dies ist das erste Mal, dass ich gedacht habe, ich könnte mir vielleicht wieder ein Leben aufbauen. Wenn ich von hier fortgehe, habe ich sechs Wochen frei, bevor ich an einer anderen Einrichtung in ›Das Programm‹ zurückkehre. Mein Vertrag läuft über zwei Jahre, und ich darf ihn nicht brechen, denn sonst nehmen sie mir sämtliche Erinnerungen, die ich habe. Ich versuche, uns beide zu retten, und ich dachte, wie könnten zusammen sein, wenn du entlassen bist.«
Ich lache. Ich weiß, es ist grausam, aber es ist mir egal. Ich bin so verletzt, dass ich gemein sein will. Ich will, dass er zu spüren bekommt, was er mir angetan hat.
»Tja«, sage ich, »das kannst du dir abschminken. Dein Vertrag könnte früher enden, als du denkst. Weil es nämlich nicht so aussieht, als hätte meine Therapie Erfolg, Michael!« Voller Zorn spreche ich seinen Namen aus.
Realm packt mich grob an den Handgelenken, zieht mich zu sich heran. »Sag so was nicht. Du wirst hier rauskommen. Aber nicht, solange du kämpfst. Solange behalten sie dich hier.«
»Ach, und was muss ich dann tun?«, frage ich verächtlich. »Dich so lange küssen, bis ich erlöst bin?«
Er lässt die Arme sinken. »Nein. Und ich kann verstehen, wenn du nicht mehr mit mir reden willst. Bitte glaub mir, dass das nicht geplant war. Ich habe dich geküsst, weil ich dich küssen wollte. Du bist stark und klug, und du weckst in mir den Wunsch zu leben.« Er schaut mir in die Augen. »Aber bitte, erzähl niemandem davon. Du würdest mir damit schaden.«
Laut klopft jemand an die Tür, und wir zucken beide zusammen. Ich wische noch einmal schnell über mein Gesicht, während Realms Blick zwischen der Tür und mir hin und her schweift.
Die Klinke wird heruntergedrückt, und Schwester Kell steckt den Kopf herein.
»Ich habe eure Medikamente, ihr Lieben«, sagt sie, und ihre Stimme klingt unerträglich süß. Ihre Schultern sind gestrafft, und ich denke, sie hat eine ganze Weile nach uns gesucht.
»Nimm deine Pille«, murmelt Realm, während er den Becher nimmt, den die Schwester ihm hinhält. Er nickt ihr zu, und ich greife nach dem anderen Becher auf dem Tablett.
Meine Hände zittern so sehr, dass es Schwester Kell bestimmt auffällt. Ich blicke in den Becher, nehme die weiße Pille aber nicht heraus. Stattdessen schaue ich Realm trotzig an. Sein Gesichtsausdruck wird weicher, als würde er mich insgeheim anflehen.
»Nein«, sage ich zu Schwester Kell. »Mir geht es so gut, dass ich heute Abend nichts brauche.« Ich stelle den Becher zurück aufs Tablett und drehe mich um, durchquere Realms Zimmer und stelle mich neben den Beistelltisch. Mein ganzer Körper zittert vor Wut und Hass. Ich werde diesen verdammten Ort hier zu Kleinholz zerlegen.
Ich höre, dass Realm ihr etwas zuflüstert, aber ich wende mich nicht um. Von mir aus können sie beide zur Hölle gehen. Von mir aus kann Dr. Warren zur Hölle gehen. Ich will nicht einmal mehr weg von hier. Ich will sie alle einfach nur fertigmachen.
»Also gut«, sagt Schwester Kell mir gespielter Fröhlichkeit. »Die anderen sind alle noch im Aufenthaltsraum. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch ihnen ja wieder anschließen.«
»Wir kommen gleich«, erwidert Realm.
Nun schaue ich doch zu ihm hin und sehe, dass er mich beobachtet, ganz konzentriert, die Brauen zusammengezogen. Schwester Kell beißt sich auf die Lippen, dann schiebt sie sich aus dem Raum, lässt uns wieder allein.
»Was war das für eine Pille?«, frage ich.
Er wirkt niedergeschlagen. »Etwas, um dich zu entspannen.«
»Und was war in deiner, Michael?«
»Zucker. Wie immer.«
Ich gehe zu ihm hin und versetze ihm eine Ohrfeige, dass meine Handfläche anschließend brennt.
Er zuckt zusammen, dann packt er mich fest bei den Schultern und drängt mich hart gegen die Wand. Ich hole scharf Luft. Rot zeichnen sich meine Finger auf seinem Gesicht ab, und er atmet schnell, als würde er gleich ausrasten.
»Schlag mich doch«, zische ich. »Wirf mich doch zu Boden und melde mich. Aber ich werde dir trotzdem einen Strich durch die Rechnung machen. So einfach kommst du nicht davon.« Ich beuge mich vor. »Weil ich nämlich allen von dir erzählen werde.«
Der Ärger weicht aus seinem Gesicht, sein Griff lockert sich. Wir stehen dicht voreinander, atmen beide schwer. Doch statt mich ihnen auszuliefern, presst Realm seinen Mund auf meinen und küsst mich hart. Anfangs versuche ich noch, mich von ihm zu lösen, doch sein Kuss ist so intensiv und leidenschaftlich, und es ist eine Art von Trost, wie ich sie vermisst habe. Trotz allem, was passiert ist, fühlt sich dieser Kuss wirklich an. Und nach all den Lügen brauche ich etwas, das wirklich ist. Ich höre auf, mich zu wehren.
Und genau in dem Moment, als ich nachgebe und seine Zunge meine berührt, fühle ich einen Stich in meinem Oberschenkel. Ich schreie auf und schiebe Realm weg. Er hält eine Spritze, aus deren Nadel noch Flüssigkeit tropft.
Tränen schimmern in seinen Augen. »Es tut mir so leid«, flüstert er. »Aber ich kann nicht zulassen, dass sie mich auslöschen.«
»Was hast du getan?«, schluchze ich, völlig verwirrt und entsetzt. »Realm, was hast du mir angetan?«
»Ich musste es tun, Sloane.« Er hält mir eine Hand hin, doch ich schlage sie weg und renne an ihm vorbei.
»Rühr mich nicht an!«, schreie ich, als ich die Tür öffne. Ich habe Angst, dass er mir folgen wird, deshalb haste ich zu meinem Zimmer. Aber ich habe nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft, als die Wirkung des Medikaments wie eine Welle über mir zusammenschlägt. Ich stolpere vorwärts, nicht sicher, ob ich es bis zu meinem Bett schaffen werde.
Es ist ein ähnlicher Effekt wie bei der gelben Pille, die Dr. Warren mir immer gibt, nur viel stärker. Ich fürchte plötzlich, dass »Das Programm« mich dafür töten will, dass ich die Wahrheit über Realm herausgefunden habe. Dass Realm mich töten will. Ich wanke in mein Zimmer und falle gleich hinter der Tür hin, schlage hart mit den Knien auf den weißen Boden.
Ich stütze mich auf Hände und Knie, während sich das Zimmer um mich dreht, und krieche auf die Sicherheit meines Betts zu.
»Sloane«, höre ich jemanden sagen, und dann spüre ich Arme um meine Taille, die mich hochziehen. Ich wende langsam den Kopf und sehe Realm.
»Nein«, sage ich und versuche, ihn abzuwehren, »lass mich allein.« Aber die Worte kommen nur undeutlich über meine Lippen, als er mich zu meinem Bett führt.
»Es tut mir leid. Aber es war die einzige Möglichkeit. Ich schwöre dir, es war die einzige Möglichkeit.«
»Was hast du getan?«, frage ich, obwohl ich nicht sicher bin, dass er mich überhaupt verstehen kann, denn Schlaf droht mich zu ertränken wie das rauschende Wasser des Flusses.
»Ich kann nicht zulassen, dass du dich erinnerst«, murmelt er und hilft mir ins Bett, dann legt er sich neben mich und hält mich beschützend fest.
Ich wehre mich nur schwach. Er redet immer noch, doch seine Stimme verklingt, verklingt immer mehr …
»… oder ich komme niemals mehr hier heraus.«
»Ich werde es allen verraten«, versuche ich zu sagen, aber ich kann meine Augen nicht mehr offen halten.
Und dann ist Realm fort.
Und ich auch.