2. Kapitel
Nachdem mich mein Betreuer zu Hause abgesetzt und mir gesagt hat, dass er mich gegen halb sieben wieder abholen wird, setze ich mich sofort an meine Hausaufgaben. Aber obwohl ich das Gefühl habe, dass ich einige der Antworten kennen sollte, verhaspeln sich meine Gedanken. Besonders, wenn es um Mathe geht. Als ob einige Regeln ausradiert worden sind und ich nur noch halbe Antworten geben kann. Irgendwann bin ich zu frustriert, klappe mein Heft zu und stelle den Fernseher an.
Ich bin nicht überrascht, auf Dateline eine Sondersendung über »Das Programm« zu sehen – es scheint inzwischen jeden Sender zu beherrschen. Selbst auf MTV, das früher eher billige Reality Shows brachte, sind nun ständig rührselige Geschichten über Teenager zu sehen, die vom »Programm« gerettet wurden. Ich frage mich, und das nur halb im Scherz, ob »Das Programm« inzwischen das gesamte Fernsehprogramm sponsert.
In ebendiesem Moment betritt der Reporter von Dateline eine Anstalt – dieselbe Einrichtung, in der auch ich war. Ich setze mich aufrechter hin, mein Herz klopft. Ich glaube, Schwester Kell zu sehen, die sich beeilt, der Kamera zu entkommen, und dann ist der Bildschirm von Sicherheitsleuten gefüllt.
»Sie dürfen sich hier nicht aufhalten«, sagt einer der Wachleute und schiebt die Kamera mit der Hand weg.
Doch der Reporter will nicht nachgeben, und plötzlich ist der Ton weg, der Bildschirm wird schwarz. Ich warte und frage mich, wie es weitergehen wird. Dann sieht man den Reporter hinter einem Schreibtisch sitzen, er schüttelt den Kopf.
»Als wir um eine Begründung gebeten haben, hat uns der Präsident des ›Programms‹, Arthur Pritchard, folgende Erklärung zukommen lassen: ›Die Wirksamkeit der Behandlung – die immer noch einen Erfolg von hundert Prozent aufweist – hängt davon ab, dass die Privatsphäre unserer Patienten gewahrt bleibt. Jede Einmischung könnte das Leben der Minderjährigen gefährden. Daher können wir weder über die Behandlung Auskunft erteilen noch allgemeinen Zugang zu unseren Einrichtungen gewähren.‹«
Ich stelle den Apparat aus und versuche mir vorzustellen, wie es gewesen sein mag, als diese Fernsehleute versucht haben, ins »Programm« einzudringen. Ob Shep und Derek noch da waren? Als ich mich dort befand, schien mir das Gebäude hermetisch abgeriegelt zu sein. Aber vielleicht ändern sich die Dinge.
Und einen Moment lang erfüllt mich Furcht. Was, wenn sie das Programm stoppten und wir die Einzigen sind, die verändert wurden? Wird man uns dann unser Leben lang als Außenseiter abstempeln? Hieße das, dass irgendetwas mit uns nicht in Ordnung ist? Ich fühle Panik in mir aufsteigen, doch dann spüre ich wieder das warme Wasser, das alles wegzuspülen scheint. Ich hole tief Luft. Die Furcht ist verschwunden. Ich schließe die Augen und lehne den Kopf gegen das Sofakissen.
Es ist irgendwie tröstlich, hier in diesem vertrauten Wohnzimmer zu sitzen, und doch werde ich das Gefühl nicht los, ich sollte eigentlich etwas ganz anderes tun. Als ob es wirklich ist und gleichzeitig … nicht. Ich bin erleichtert, als meine Mom mit ihren Einkäufen nach Hause kommt und ich ihr helfen kann, alles wegzuräumen, dankbar für die Ablenkung.
»Erzähl, wie war der erste Tag nach deiner Rückkehr?«, fragt mein Vater, der mir gegenüber am Esstisch sitzt. Seine Augen strahlen, und er lächelt mich an, bevor er ein Stück von seinem Steak isst.
Es ist seltsam, wie meine Eltern mich keine Sekunde aus dem Blick lassen. Als wäre ich ein Wunder, jemand, der aus dem Grab auferstanden ist. Gebannt lauschen sie jedem meiner Worte.
»Es war gut«, berichte ich, »wenn auch anfangs ein bisschen einschüchternd. Und ich habe schon eine neue Freundin gefunden.«
Meine Mutter strahlt und legt ihr Besteck hin. »Du hast schon eine Freundin gefunden?«
Sie tauscht einen erfreuten Blick mit meinem Vater. Und ich finde, es lässt mich wie ein absoluter Loser erscheinen, wenn meine Eltern so begeistert davon sind, dass ich eine Freundin gewonnen habe.
»Ihr Name ist Lacey«, fahre ich fort. »Wir haben mittags zusammen gegessen.«
Meine Mutter scheint zu erstarren, dann schiebt sie sich ein großes Stück Fleisch in den Mund.
Ich warte darauf, dass sie mich weiter ausfragt, doch sie sagt kein Wort. Ich starre auf meinen Teller und bemerke die weiße Pille, die neben meinem Glas liegt. Ich beschließe, dass ich nicht länger so benebelt sein will. Ich beschließe, dass ich sie nicht nehmen werde.
»Ich treffe mich heute Abend mit Lacey im Wellness Center«, füge ich hinzu. »Mein Betreuer sagt, dass es gesund für mich ist, mit anderen Leuten zusammen zu sein.«
»Einverstanden«, sagt Vater, doch er klingt ein wenig zu fröhlich.
Ein komisches Gefühl erfasst mich, als ob ich eine … Ausgestoßene wäre. Meine Eltern benehmen sich so unnatürlich. Aber vielleicht bin ich es ja, die unnatürlich ist.
Ich würde mich am liebsten entschuldigen und auf mein Zimmer gehen, doch Mutter fängt nun wieder an, über »Das Programm« zu reden. Sie erzählt mir, dass man in England gerade die erste Gruppe von Rückkehrern entlassen hat. Sie scheint so stolz darauf zu sein – als ob Rückkehrer eine Art Elite wären.
Ich nicke an den passenden Stellen, während meine Gedanken rasen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, was für ein Leben ich geführt habe, kurz bevor ich in »Das Programm« kam. Aber es tauchen immer nur dieselben alten Erinnerungen auf: mein Vater, der Brady und mich zum Eisessen ausführt; meine Mutter, die ein Halloweenkostüm näht … Immer und immer dieselben Bilder, bis schließlich meine Schläfen pochen. Ich höre auf, an die Vergangenheit zu denken, weil ich Angst habe, dass es Schaden anrichten könnte.
Dr. Warren war sehr unnachgiebig, wenn es darum ging, meine Gesundheit zu erhalten. Sie hat mich gewarnt, dass zu viele Reize die Rekonstruktion gefährden könnten, der sie meinen Verstand unterzogen haben. Es könnten Brüche in meiner Wahrnehmung der Wirklichkeit entstehen, bleibende psychische Schäden seien die Folge.
Aber was, wenn sie gelogen hat?
»Sloane«, sagt meine Mutter in den Strom meiner Gedanken hinein. »Du hast dein Essen ja gar nicht angerührt.«
Ich sehe sie an, sehe ihre Besorgnis und entschuldige mich, schneide mir dann ein Stück Fleisch ab. Doch ich kann es kaum hinunterschlucken, vor allem, als ich den kreidigen Nachgeschmack bemerke. Etwas, was Lacey gesagt hat, taucht in meinem Kopf auf: Ich bin ziemlich sicher, dass sie uns Beruhigungsmittel ins Essen geben.
Als meine Mutter wieder zu reden beginnt, wische ich mir den Mund mit der Serviette ab und spucke dabei unauffällig das Fleisch hinein. Vielleicht bin ich paranoid. Vielleicht drehe ich endgültig durch. Doch ich erwähne nichts dergleichen, frage nur, ob sie mich entschuldigen und ich auf mein Zimmer gehen darf, um mich fertig zu machen.
Meine Eltern scheinen enttäuscht, doch dann bittet meine Mutter mich, mein Geschirr wegzuräumen. »Und vergiss deine Pille nicht«, mahnt sie mich, als ich in die Küche gehen will.
Ich nehme die Pille und werfe sie mir in den Mund.
Doch kaum bin ich in der Küche, spucke ich sie in die Spüle und kratze das Essen von meinem Teller, entsorge es im Abfall. Und dann zermahle ich alles in winzig kleine Stücke.
Ich posiere vor dem Spiegel, drehe mich hin und her, um mein Aussehen zu begutachten. Sie haben meine gesamte Kleidung entfernt und durch neue Klamotten ersetzt, an denen noch die Preisschilder hängen. Es kommt mir seltsam vor, dass sie all meine Sachen, meine komplette Garderobe beseitigt haben. Glauben sie ernsthaft, ein altes T-Shirt würde einen emotionalen Absturz herbeiführen? Habe ich mich ganz in Schwarz gekleidet und den Eyeliner zu dick aufgetragen?
Ich kann mich nicht erinnern. Und so trage ich nun eine rosa Button-down-Bluse, die sich viel zu steif anfühlt, und einen Khaki-Rock. Ich wirke … schmerzhaft durchschnittlich.
Ich nehme die Bürste von meiner Kommode und fahre mir damit durchs Haar, kämme es zum Schluss an einer Seite hinter die Ohren.
Es ist schon fast halb sieben. Gleich wird Kevin kommen und mich zum Wellness Center fahren. Und doch hat sich Sorge in meine Gedanken geschlichen. Was läuft ab dort in diesem Wellness Center? Und was werden die Leute von mir halten, die nicht »Das Programm« durchlaufen haben?
Ich bin anders als sie.
Ich hole tief Luft und setze mich auf die Bettkante, versuche, mich zu beruhigen. Und denke plötzlich, dass ich die Pille doch hätte nehmen sollen, denn im Moment könnte ich diesen Hemmstoff gut gebrauchen. Doch dann sage ich mir wieder, dass ich begreifen möchte, was um mich herum passiert. Und ich bin mir nicht sicher, ob mir das gelingt, wenn ich ständig unter Drogen stehe und völlig benommen bin.
Ich höre es an der Tür klingeln und werfe einen letzten Blick auf mein Spiegelbild. »Wer bist du?«, murmele ich und warte einen Moment, ob meine Erinnerungen mir eine Antwort geben. Doch alles bleibt still.
Ich weiß nicht, was genau ich vom Wellness Center erwartet habe, aber sicherlich nicht das. Ich dachte, es würde eher so sein wie die Anstalt des »Programms« – kalt und steril. Doch dieser Ort hier wimmelt von Leuten, die lachen und sich unterhalten. Ich versuche, mich ihnen anzupassen, zu entspannen. Aber ich kann Lacey nirgendwo entdecken, und meine Angst sticht mich wie mit Nadeln. Doch ich will es mir nicht anmerken lassen, damit Kevin nicht auf die Idee kommt, ich könnte heute Abend meine Pille nicht genommen haben.
»Womit willst du anfangen?«, fragt er und zeigt nach vorn. »Beim Tischfußball dürften noch ein paar Plätze frei sein.«
»Ja«, sage ich und senke den Blick. Ein paar Leute hier sind auf mich aufmerksam geworden, und ich werde unglaublich verlegen. Ich bin nicht sicher, ob ich schon bereit dafür bin.
Wir suchen uns unseren Weg durch die Menge, Kevin hält behütend meinen Am. Einige Leute grüßen mich. Als wir uns dem Tisch nähern, höre ich ein lautes Lachen und erhasche einen Blick auf einen blonden Pferdeschwanz.
»Ich denke, ich komme zurecht«, sage ich schnell zu Kevin und löse mich sanft aus seinem Griff. »Ich will dorthin«, füge ich hinzu und zeige auf die Couch.
Er nickt. Zu meiner Erleichterung geht er zur Wand hinüber, zu einem anderen Betreuer, denn so habe ich wenigstens ein bisschen Privatsphäre.
»Da bist du ja!«, ruft Lacey und steht auf, als ich auf sie zukomme. Auf der Couch sitzen zwei Jungs – Fremde –, und ich nicke ihnen höflich zu. Gott, warum bin ich so nervös?
»Hey«, sage ich, während Lacey mich einer kurzen Musterung unterzieht. Sie öffnet sofort den zweiten Knopf an meiner Bluse und lächelt mir zu.
»Sloane, das ist Evan«, stellt sie mir den dunkelhaarigen Jungen vor. »Und der dort ist Liam.« Dann beugt sie sich vor und flüstert mir zu: »Stell dir vor, Liam ist kein Rückkehrer. Aber da er nicht depressiv ist, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Daraufhin sehe ich mir Liam genauer an, registriere sein rotblondes Haar, seine braunen Augen.
Er sieht mich ebenfalls an, und sein Grinsen beunruhigt mich irgendwie. »Setz dich, Sloane«, sagt er und klopft auf den Platz neben sich. »Nett, dich … kennenzulernen.«
Ich will Lacey einen Blick zuwerfen, doch sie hat sich schon wieder auf Evans Schoß gesetzt und redet, als sei das alles hier völlig normal, als wären wir alle schon oft zusammen ausgegangen. Ich drehe mich um und sehe mich noch einmal im Raum um.
Obwohl das Wellness Center klein ist, geht es hier lebhaft zu. Kräftige Farben, mitreißende Spiele mit viel Gelächter. Die meisten Leute hier sind genauso gekleidet wie ich: steif und adrett. Aber es gibt noch ein paar andere, die mit großen Augen den Raum absuchen. Ihre bequeme Kleidung lässt mich vermuten, dass sie keine Rückkehrer sind.
Als mein Blick auf Kevin fällt, nickt er mir zu, als wollte er damit sagen, dass es ganz normal sei, dass ich verwirrt bin. Und ich fühle mich prompt gleich ein bisschen besser.
Ich sitze auf der Couch und zucke zusammen, als Liams Oberschenkel meinen berührt. Mein Verstand versucht, einen Weg durch die unterschiedlichsten Erinnerungen zu finden, holt einige noch einmal hervor und lässt sie nachhallen. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinem Bruder gezeltet habe, nur wir beide. Ich spüre, da ist noch etwas, doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, lehnt sich Liam mit seiner Schulter gegen meine.
»Wie lange warst du im ›Programm‹?«, will er wissen.
Ich finde diese Frage fast schon beleidigend, viel zu persönlich, als dass sie mir jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe, stellen könnte. Aber wahrscheinlich bin ich zu empfindlich.
»Sechs Wochen«, antworte ich.
»Und sie haben etwas mit dir gemacht, ja? Zum Beispiel in deinem Verstand herumgepfuscht?«
Okay, jetzt bin ich wirklich beleidigt.
Liam muss es bemerken, denn er entschuldigt sich schnell und wirft einen vorsichtigen Blick zu meinem Betreuer hinüber.
»Ich hab es nicht so gemeint«, sagt er. »Na ja, ich bin mit Evan befreundet, und ich kannte ihn nicht vor dem ›Programm‹. Ich bin einfach neugierig, wie es die Leute verändert. Wie es dich verändert hat.«
»Klar, und das fragst du dann ausgerechnet mich, Liam?«, erwidere ich. Toll. Ich mache ihn neugierig. Ich komme mir vor wie ein Tier im Zoo. Ich stehe auf und trete einen Schritt zurück.
»Warte«, sagt Lacey. »Wohin gehst du?«
Es gibt keinen Ort, an den ich gehen könnte. Ich bin verwirrt und überfordert. Ich werfe einen Blick in Kevins Richtung und sehe, dass er sich mit einem anderen Betreuer unterhält. Ich sehe das als Wink an.
»Es ist heiß hier drin«, erwidere ich. »Ich will ein bisschen frische Luft schnappen.« Und bevor sie etwas einwenden kann, verschwinde ich, sorgsam darauf bedacht, mit der Menge zu verschmelzen, damit Kevin mich nicht zurückhalten kann. Ich will nicht, dass er sieht, wie durcheinander ich bin – er würde sofort merken, dass ich meine Medikamente nicht genommen habe. Ich brauche einen Moment, um wieder zu mir zu finden, und danach werde ich Kevin bitten, mich nach Hause zu bringen. Ich will einfach nur nachdenken.
Ich schlüpfe durch die hintere Tür nach draußen, auf die mit Holzdielen ausgelegte Terrasse. Niemand sonst scheint sich dort aufzuhalten, und so trete ich an das Geländer und atme tief durch, schließe die Augen.
Zum ersten Mal, seit ich zurückgekehrt bin, drohen meine Gefühle mich zu ertränken. Dr. Warren hat mich davor gewarnt – ich war zu vielen Reizen ausgesetzt. Es ist, als ob mein Körper gegen mich revoltieren würde, und ich presse den Handballen gegen meine Stirn, befehle mir, mich zu beruhigen. Es gibt keine Bedrohung. Ich bin nur ein bisschen durcheinander, weil … weil meine Gefühle sich neu ordnen. Ich hätte diese weiße Pille schlucken sollen.
In eben diesem Moment höre ich die Tür hinter mir und wirbele herum. Ich erwarte, Kevin zu sehen, doch es ist Liam.
»Tut mir leid«, sagt er und zuckt mit den Schultern. »Lacey meinte, du wärst sauer und dass ich zu dir gehen und mich entschuldigen soll.«
Ich erwidere seinen Blick und frage mich, ob er weiß, dass eine Entschuldigung nichts wert ist, wenn man zugibt, dass jemand anderer einen dazu aufgefordert hat.
»Ist schon in Ordnung«, antworte ich, allerdings aus Höflichkeit, denn in Ordnung ist es nicht.
Ein schiefes Lächeln liegt auf seinen Lippen. »Weißt du, ich habe befürchtet, dass du als eine Art Zombie zurückgekommen wärst.«
Mein Magen macht einen Satz, und ich klammere mich ans Geländer. »Was meinst du damit?«, will ich wissen.
Hat Liam mich gekannt? Waren wir früher Freunde? Wirke ich auf ihn wie ein Volltrottel, weil ich hier stehe und mich nicht erinnern kann?
Liam schüttelt den Kopf. »Jetzt reg dich nicht auf«, sagt er. »Du willst mich doch nicht in Schwierigkeiten bringen, oder?« Er schaut sich um, bevor er einen Schritt zurücktritt.
Eine Träne rollt mir über die Wange.
»Hör damit auf!«, zischt er und zeigt auf mich. »Was, zum Teufel, ist los mit dir? Wenn sie dich so sehen, schicken sie uns beide ins ›Programm‹.«
»Aber ich verstehe nicht«, erwidere ich und wische mir heftig über die Wangen. »Kennst du mich denn?«
»Nein, du Freak«, fährt er mich an und geht rückwärts zur Tür. »Und behaupte bloß nicht gegenüber den anderen, dass ich dich kennen würde. Lass mich in Ruhe. Ich hab Evan gleich gesagt, dass ich nicht mehr hierherkommen will.«
Ich atme heftig, um gegen meine Tränen anzukämpfen.
Plötzlich schlendert jemand von der hinteren Seite der Terrasse herüber. Ich habe nicht gesehen, dass er dort saß. Er lehnt sich mit der Schulter gegen die Wand, nicht weit von der Tür entfernt.
»Ich bin sicher, du wolltest nicht so unhöflich sein«, sagt er zu Liam und mustert ihn von Kopf bis Fuß. »Es sei denn, natürlich, dass du depressiv bist oder so.«
»Halt dich da raus, James«, entgegnet Liam und scheint unsicher, ob er es zur Tür schaffen kann, jetzt, da der andere Junge so nahe dort steht.
James zieht eine Augenbraue hoch, als er mit seinem Namen angesprochen wird, doch er macht keine Bemerkung dazu. Stattdessen holt er sein Handy hervor, geht die Nummerneinträge durch. »Ich könnte ihnen einen anonymen Hinweis geben«, sagt er. »Sie auf deinen Zustand aufmerksam machen.«
Liam wird ganz blass. »Tu das bloß nicht, Mann! Ich bin nicht krank. Du kannst nicht …«
»Was kann ich nicht?«, fragt James mit einem Grinsen. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich kann.«
»Hör zu«, sagt Liam, und zum ersten Mal schwingt echtes Bedauern in seiner Stimme mit, »ich kann darauf verzichten, schließlich hatten wir das alles schon mal. Ich will keinen Ärger. Du kannst sie ganz für dich allein haben«, fügt er hinzu und streckt die Hände aus, als würde er mich diesem Fremden anbieten.
Ich schaue ihn verächtlich an, lasse ihn wissen, dass er nicht das Recht hat, mich irgendjemandem zu überlassen.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich sie haben will«, meint James, der immer noch an der Mauer steht. »Ich habe nur etwas festgestellt.«
Liam blickt ihn eindringlich an, als wolle er sich vergewissern, dass James die Wahrheit sagt, dann schüttelt er bedächtig den Kopf. »Ich glaub’s nicht«, sagt er mehr zu sich selbst. »Du kannst dich auch nicht erinnern.« Doch dann scheint er plötzlich erschrocken und macht einen Satz zur Tür.
James schluckt, lässt sich aber ansonsten nach außen hin nicht weiter anmerken, dass ihn diese Worte getroffen haben. Bevor er weitere Drohungen äußern kann, ist Liam schon verschwunden, rennt ins Innere, ohne sich nur einmal nach uns umzudrehen.
Mein Herz klopft wie verrückt, und als ich mich James zuwende, um mich dafür zu bedanken, dass er mir geholfen hat, hat er sich schon von der Wand abgestoßen und geht zur Tür.
»Danke«, rufe ich ihm hinterher.
Er hält einen Moment inne, die Hand auf dem Türknauf, doch er dreht sich nicht nach mir um.
»Du solltest dir nicht erlauben zu weinen«, sagt er leise. »Wenn man erst einmal damit angefangen hat …« Er lässt den Satz unbeendet und stößt einen tiefen Seufzer aus. Und dann geht er hinein, lässt mich allein in der herabsinkenden Nacht.