14. Kapitel
Während ich fahre, kaue ich auf meiner Lippe, ziehe an dem Fleisch, zucke zusammen, wenn es brennt. Jeden Tag fahre ich und weine, meine Lippen sind schon ganz rissig, aber es ist mir egal. Mein Haar ist ungekämmt und verfilzt, und auch das ist mir so was von egal.
Es ist jetzt vier Tage her, dass James nach Hause gekommen ist. Ich sitze meine Zeit in der Schule ab, aber ich rede nicht, schaue nicht auf. Meine Eltern fragen mich ständig irgendwas, doch ich antworte nur ausweichend. Sie machen sich Sorgen, doch das kümmert mich nicht. Nichts kümmert mich. Nichts hat mich je gekümmert.
Manchmal fahre ich am Haus von James’ Vater vorbei. Einmal habe ich James durch das Wohnzimmerfenster gesehen, während er nach draußen ins Leere starrte. Fast hätte ich geklingelt, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie sagt man jemandem, dass man die Liebe seines Lebens ist, wenn er einen nicht erkennt? Wenn er dann nicht mal die geringste Reaktion gezeigt hätte, wie hätte ich das überleben sollen?
Als ich nach einer weiteren Runde Weinen wieder vor unserem Haus anhalte, denke ich daran, endlich Schluss zu machen. Den Schmerz und die Furcht endlich enden zu lassen. Ich bin wütend – wütender, als ich je war, aber darunter liegt eine Traurigkeit, die ich kaum ergründen kann.
Ich stelle den Motor aus und steige aus dem Wagen, gehe lustlos zum Haus. Mein strähniges Haar hängt mir in die Stirn und sogar halb über die Augen. Ich streiche es nicht zurück. Ich mag es so, es gibt mir das Gefühl, verborgen zu sein. Als ob ich verschwinden könnte.
Es ist still im Haus, als ich die Vordertür öffne. »Ich bin zu Hause«, sage ich, mache mir aber nicht die Mühe, auf eine Antwort zu warten. Ich will gerade nach oben in mein Zimmer gehen, als ich Geräusche höre.
»Sloane?«, ruft meine Mutter. Ihre Stimme klingt erstickt. Ich bleibe stehen und drehe mich nach ihr um. Sie hat die Strickjacke fest um ihren Körper gezogen, die Arme um sich geschlungen. Ihre großen braunen Augen sind voller Sorge.
Einen Moment lang überlege ich mir, ob ich behaupten soll, ich wäre okay, aber ich will sie nicht anlügen.
»Ich bin zu Hause«, wiederhole ich. Ich will gerade weiter nach oben gehen, als auch mein Vater aus dem Wohnzimmer kommt. Seine Nase ist rot. Als ob er geweint hätte.
»Schätzchen«, sagt er zu mir, »komm her.« Seine Stimme ist sanft, aber anders als sonst. Ist das … ist das Schuld?
Mein erster Gedanke ist, dass James sich umgebracht hat. Ich bin am Boden zerstört und gleichzeitig erleichtert.
Doch dann öffnet sich hinter meinem Vater erneut die Tür. Zwei Männer in weißen Kitteln treten in den Flur.
Meine Brust zieht sich zusammen.
»Was machen die hier?«, frage ich, während Furcht über meinen Rücken kriecht. Der Betreuer mit den dunklen Haaren ist hier, hier in unserem Haus. Er ist hinter mir her.
Die Lippen meiner Mutter zittern. »Wir hatten solche Angst, Sloane. Seit James zurückgekehrt ist, bist du nicht mehr wie früher. Und nach Brady wollten wir kein Risiko mehr eingehen. Wenn du nun bitte …«
»Was habt ihr getan?«, flüstere ich.
Mein Dad schließt die Augen, und ich sehe ihm an, dass er das nicht tun wollte. Er wollte mich ihnen nicht ausliefern.
Wieder schaue ich zu meiner Mutter hin, hoffe, dass sie alles noch rückgängig machen kann.
»Was hast du getan, Mom?« Ein solches Entsetzen hat mich gepackt, dass ich kaum atmen kann.
Die Betreuer durchqueren den Flur, stapfen direkt auf die Treppe zu, direkt auf mich zu.
Mit einem letzten verwundeten Blick auf meine Eltern schiebe ich mich die Treppen hinauf.
Sie können mich nicht mitnehmen … Sie können mich nicht mitnehmen …
Ich stürme in mein Zimmer, knalle die Tür hinter mir zu, verschließe sie. Ich schaue zum Fenster hin, aber meine Angst ist zu groß, ich könnte mich bei einem Sprung nach draußen zu schwer verletzen, um zu entkommen. Voll Panik blicke ich mich um. Blicke auf all die Erinnerungen. Die Fotos von meinem Bruder und mir. Von James. Die Betreuer werden sie alle entfernen. Sie werden alles wegschaffen.
Hinter mir rüttelt jemand an der Türklinke. Klopft. Hämmert dann gegen das Türblatt.
Ich kann nicht entkommen. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, alles zu verlieren. Ich darf nicht zulassen, dass sie alles in ihre Finger bekommen.
Ich greife nach dem Foto von James und Brady, das in meinem Spiegel steckt. James, wie immer ohne Hemd und mit einem breiten Grinsen, hat einen Arm um Bradys Schultern gelegt. Hinter ihnen ist der Fluss zu sehen. Mein Bruder lacht, weil James gerade etwas wirklich Komisches gesagt hat. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was es war.
Das Hämmern an meiner Tür wird ungeduldiger, und dann höre ich die Stimme meiner Mutter, die mich anfleht zu öffnen und mir nichts anzutun.
Ich streife mir den angeschlagenen, purpurfarbenen Ring vom Finger, drücke inbrünstig einen Kuss darauf. Ich liebe dich, James, denke ich. Wir bleiben zusammen, für immer, genau wie du es versprochen hast.
Ich hebe meine Matratze an und taste nach dem Schlitz, den ich vor einer Ewigkeit dort hineingeschnitten habe, um James’ Briefchen zu verstecken. Auf der anderen Seite der Tür erklärt ihnen meine Mutter, dass sie noch einen Schlüssel hat. In ebendiesem Moment fühle ich den Schlitz und schiebe das Bild und den Ring hinein. Dann lasse ich die Matratze fallen und ziehe das Laken zurecht. Wenn ich fort bin, werden sie mein Zimmer von allem säubern, doch dort werden sie nicht nachschauen. Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie dort nachschauen werden.
Wenn ich aus dem Programm zurückkehre, werde ich die Sachen wiederfinden. Genau, wie ich James wiederfinden und ihn nach dem Foto fragen werde. Vielleicht erinnern wir uns dann daran, wer wir sind. Was wir einander bedeutet haben.
Mir fällt plötzlich auf, dass auf meiner Kommode eine Schere liegt, und es überrascht mich, dass ich sie nicht eher bemerkt habe. Ob ich mir den Weg nach draußen freikämpfen und die Betreuer niederstechen soll – vor allem den, der von Anfang an hinter mir her war?
Ich greife nach der Schere, umklammere sie fest.
Etwas klickt, dann schwingt die Tür auf. Meine Mutter schluckt, als sie die Schere in meiner Hand sieht. Mein Vater ruft meinen Namen, Entsetzen in seiner Stimme.
Ich weiche zum Fenster zurück. Meine Wangen sind heiß, und mein Mund ist feucht, während ich sie drohend ansehe.
»Sloane«, sagt der dunkelhaarige Betreuer ruhig, als er hereinkommt, »leg die Schere weg.« Er wirft dem anderen Betreuer einen Blick zu, und sie teilen sich auf, kommen von beiden Seiten auf mich zu, um mich in die Zange zu nehmen.
»Nein.« Meine Stimme klingt mehr wie die eines Tieres.
Mein Vater beginnt wieder zu weinen, und obwohl ich so zornig bin, vermag ich ihn nicht zu hassen. Bradys Tod hat ihn gebrochen. Er würde das alles nicht noch einmal durchstehen können.
»Sloane«, wiederholt der Betreuer und greift nach etwas, was an seinem Gürtel hängt.
Ich begreife plötzlich, dass er einen Taser haben muss. Und ich weiß, es ist vorbei. Dieses Leben, es ist vorbei. Ich schaue meiner Mutter in die Augen und zwinge mich zu einem bitteren Lächeln.
»Ich werde dir niemals vergeben«, sage ich leise.
Und dann, weil dies der allerletzte Augenblick ist, in dem ich eine echte Emotion empfinden werde, packe ich die Schere noch fester. Und schlitze mein Handgelenk auf.
Ich taumele rückwärts gegen die Wand, der Schmerz schießt wilder hoch, als ich gedacht habe. Ich schließe die Augen und spüre, dass Hände mich fest an den Oberarmen packen. Eine Nadel sticht durch meine Haut, und innerhalb von Sekunden überrollt mich eine Welle, bricht über meinem Kopf zusammen und ertränkt mich in Schlaf.
»Hallo?«
Ich höre eine Stimme, bin aber zu müde, um meine Augen ganz zu öffnen. Ich versuche es erneut, und wieder gelingt es mir nicht. Wem auch immer die Stimme gehört, er lacht.
»Ist irgendjemand da drin?«
Ich spüre eine Berührung, etwas Spitzes an meinem Arm, und dann rauscht Adrenalin durch meine Adern. Meine Augen fliegen auf, und ich hole unwillkürlich Luft. Meine Arme sind fest an meinen Körper gepresst, als seien sie gebunden.
»Ah, da bist du ja wieder«, sagt die Stimme. »Willkommen im ›Programm‹!«