8. Kapitel
Mein Bruder und ich waren nur elf Monate auseinander, und doch haben wir nie gestritten. Brady war mein bester Freund, einer meiner wenigen engen Freunde neben Lacey. Und obwohl er James hatte, hat er mich nie ausgeschlossen.
In den Wochen, bevor Brady starb, haben James und ich uns heimlich getroffen. Wenn James bei uns übernachtete, schlich er sich morgens gegen drei in mein Zimmer, küsste mich sanft, während die anderen schliefen. Er pflegte kleine Nachrichten unter meinem Kopfkissen zu verstecken, wenn ich nicht zu Hause war. Wir waren absolut verrückt nacheinander.
Wir haben Brady nie eingeweiht. Nicht, weil wir unser Geheimnis unbedingt für uns behalten wollten, sondern damit unser Verhältnis die Beziehung von uns dreien nicht belastete. Außerdem, wenn alle über James und mich Bescheid gewusst hätten, dann hätten wir uns sicher nicht mehr so unbeschwert treffen dürfen – kein Übernachten mehr, keine gemeinsamen Campingausflüge.
Brady war eine Zeitlang mit Dana zusammen, doch dann machten sie Schluss. Sie hat James erzählt, mein Bruder würde sich seltsam benehmen und wäre gefühlskalt. James wiegelte ab, doch er sprach Brady darauf an. Brady jedoch behauptete, dass es zwischen ihm und Dana nie allzu ernst gewesen sei. Und außerdem habe sie aus dem Mund gerochen.
Mein Bruder hatte es zu seiner speziellen Aufgabe erklärt, mir das Schwimmen beizubringen, und deshalb gingen wir immer zur selben Stelle am Fluss. Dort gab es so gut wie keine Strömung, das Wasser war ruhig wie in einem Pool. Doch an jenem Nachmittag nahm er James und mich an eine neue Stelle mit.
»Es ist wirklich schön dort«, erklärte er uns, während er am Steuer des Wagens saß. »Einfach perfekt.«
James, der hinten auf der Rückbank saß, schnaubte. »Ist mir egal, solange ich deine Schwester im Bikini zu sehen bekomme.«
Brady sah in den Rückspiegel, doch er sagte James nicht, dass er den Mund halten sollte. Lächelnd fuhr er weiter.
Ich drehte mich zu James um, doch der zuckte nur mit den Schultern. Ich erinnere mich daran, wie ich mich fragte, ob wir diesen Tag vielleicht nutzen sollten, um meinem Bruder von uns zu erzählen. Es war an der Zeit, dass er von James und mir erfuhr. Ich war mir nicht mal sicher, ob er nicht ohnehin bereits Bescheid wusste, aber James glaubte es nicht. Er war der Meinung, Brady sei einfach nur von den Abschlussprüfungen gestresst.
Wir bekamen keine Gelegenheit mehr, ihm alles zu erzählen.
Als ich meinen Badeanzug angezogen hatte, stand Brady schon oben am Steilufer und blickte hinunter auf das wild schäumende Wasser. Auf seinen Lippen lag ein sanftes Lächeln.
»Du kannst da drin nicht schwimmen!«, schrie James, der weiter hinten sein Handtuch auf dem Gras ausbreitete. »Wir hätten zu unserer üblichen Stelle fahren sollen!«
Brady sah zu ihm hin. Lichtreflexe tanzten in seinem dunklen Haar, die Sonne verlieh seiner hellen Haut einen fahlen Glanz.
»Ich wollte euch nichts verderben«, rief er zurück.
James zog die Augenbrauen zusammen, dann lachte er. »Was willst du mir nicht verderben?«
»Unseren Badeplatz. Ich dachte mir, dann könnt ihr wenigstens auch später noch dorthin. Vielleicht kannst ja du Sloane endlich das Schwimmen beibringen.« Sein Blick flog zu mir, und er lächelte wieder. »Auf dich hört sie vielleicht eher.«
Ich hielt inne, starrte ihn misstrauisch an. »Was willst du damit …?« Eiskalter Schmerz zerriss mein Herz, als ich plötzlich begriff, als mir klar wurde, was er vorhatte. Und im selben Moment sprang James von seinem Handtuch auf.
Mein Bruder balancierte am Rand eines sechs Meter hohen Steilhangs, neigte den Kopf in meine Richtung, sein Blick verschwamm. Die tiefen Ringe unter seinen Augen schimmerten dunkelblau.
»Passt aufeinander auf«, flüsterte Brady mir zu, als würde er mir ein Geheimnis mitteilen. Und dann breitete er die Arme aus und ließ sich rückwärts nach unten fallen.
Meine Schreie zerrissen die Stille, ich drehte mich nach James um, der immer noch viel zu weit entfernt war. Ich konnte nicht schwimmen, trotzdem sprang ich Brady hinterher. Als ich ins Wasser eintauchte, drang Wasser in meine Nase und erstickte mich fast. Wild schlug ich mit den Armen.
»Brady!«, versuchte ich zu rufen, doch Wasser schwappte mir in den Mund.
Ich hörte ein lautes Klatschen hinter mir und wusste, dass es James war. Ich glaube nicht, dass er mich bemerkt hatte, als er an mir vorbeizog. Er war ein ebenso guter Schwimmer wie Brady. Ein Baumstamm ragte vom Ufer ins Wasser, und ich zog mich daran hoch, beobachtete, was geschah. Die Strömung war so stark, dass sie meine Beine mitriss, obwohl ich über dem Baum hing.
Und dann entdeckte ich Brady. Er schwamm nicht, sondern trieb auf dem Wasser, mit dem Gesicht nach unten. Ich schrie wieder, deutete auf ihn, während ich zuschauen musste, wie sein Körper erst hart gegen einen und dann gegen einen zweiten Felsen prallte.
James zog die Arme mit wütender Kraft durchs Wasser, doch Brady war zu weit voraus.
Ich begann zu weinen, Schluchzer schüttelten meinen Körper, und ich krümmte mich um den Stamm.
Als Brady ein weiteres Mal gegen einen Felsen schlug, verfing er sich lange genug, dass James ihn erreichen konnte. James schrie irgendetwas und hieb gegen den Stein, dann zog er Brady zum Ufer und begann sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen.
Fieberhaft bemühte er sich, drückte mit beiden Händen Bradys Brustkorb, spendete ihm seinen eigenen Atem.
Doch selbst von dort, wo ich mich befand, konnte ich sehen, dass es auch dann nichts genützt hätte, wären Bradys Lungen nicht voller Wasser gewesen. Sein Hals war gebrochen. Sein Kopf saß in einem merkwürdigen Winkel zwischen den Schultern, seine Augen starrten blicklos ins Nichts.
Mein Bruder – mein bester Freund – war tot.
Tröstliche Taubheit breitete sich in meinem Körper aus. James weinte, schrie um Hilfe. Dann richtete er sich auf, beschattete seine Augen mit der Hand, während er nach mir Ausschau hielt. Und ich ließ einfach den Stamm los, ließ mich hinabgleiten und von dem eisigen Wasser forttragen.
Ich wollte ertrinken, und ganz ehrlich, es wäre gar nicht so schwer gewesen. Die starke Strömung drückte mich unter die Oberfläche. Ich hoffte, endlich bewusstlos zu werden, damit ich nicht länger meinen toten Bruder sehen musste. Ich konnte nicht weitermachen. Wie sollte ich meinen Eltern je wieder gegenübertreten?
Doch dann packte mich James im Rettungsgriff, zog mich ans Ufer und drehte mich auf den Rücken. Ich rang nach Luft, würgte, spuckte alles aus. Ich hörte nichts, hatte Wasser in den Ohren, doch ich sah James über mir, spürte, wie er mich gegen die Wangen schlug, damit ich wach blieb. Als es mir endlich gelang, meine Augen offen zu halten, lief er zu seinem Handtuch, auf dem sein Handy lag.
James hat mich gerettet. Brady jedoch vermochte er nicht zu retten. Keiner von uns beiden konnte es. Und schließlich taten wir genau das, was mein Bruder uns aufgetragen hatte: Wir passten aufeinander auf. Manchmal sind unsere Schuldgefühle, weil wir überlebt haben, stärker, als wir es ertragen können, ein Geheimnis zwischen uns, von dem wir uns nichts anmerken lassen. Aber wir sind alles, was uns noch geblieben ist.
Am Montagmorgen sitze ich in James’ Haus, schaue zu, wie er seinen bandagierten Arm in den Ärmel des Hemds schiebt, das ich ihm herausgesucht habe. Und denke dabei, dass bis jetzt immer er derjenige war, der alles im Griff hatte. James war der Fixpunkt in unserem Leben. Verlässlich. Doch nun ist dieser Teil von ihm zerbrochen, infiziert. Und genau wie an jenem Tag am Fluss würde ich am liebsten loslassen und mich forttreiben lassen.
»Ich habe Pop-Tarts mitgebracht«, erzähle ich ihm und streiche sein Haar zur Seite, während er sich hinsetzt.
James starrt aus dem Fenster. »Wann ist das Begräbnis?«, erkundigt er sich. So leise, dass ich ihn kaum verstehe.
Ich schlucke hart. Nachdem ich am Samstagabend das Haus von James’ Vater verlassen hatte, habe ich sämtliche Empfindungen tief in mir weggeschlossen und wurde zum Automaten, damit ich durchhalten und tun kann, was immer notwendig ist, um uns am Leben zu erhalten. Uns beide. Als ich nach Hause kam, erzählten mir meine Eltern, dass Millers Mom angerufen und mit ihnen gesprochen hatte.
»Es wird keines geben«, antworte ich. »Laut ›Programm‹ würde das zu weiteren Selbstmorden führen. Deshalb muss seine Mutter ihn allein beerdigen.«
Millers Gesicht schiebt sich plötzlich vor meine Augen, sein Lächeln, aber ich lösche das Bild schnell wieder. Ich habe keine Zeit zu trauern.
James presst die Lippen zusammen, während ihm Tränen in die Augen steigen. »Es war meine Schuld«, sagt er. »Genau wie bei Brady. Ich hätte ihn niemals allein lassen dürfen.«
Ich schlinge meine Arme um ihn. »Miller war krank, James. Es gab nichts, was wir hätten tun können.«
Er dreht mir den Rücken zu und sinkt in meine Arme.
»Und Brady? Bei ihm war ich dabei, und trotzdem habe ich ihn nicht retten können.«
Mein Herz tut so weh, aber ich darf die Erinnerungen an Brady nicht zulassen. Wir müssen zur Schule, und dort beobachtet man uns. »Ich doch auch nicht. Aber was passiert ist, ist passiert. Du musst dich zusammenreißen.«
James dreht sich zu mir um und legt mir eine Hand an die Wange, und ich schmiege mein Gesicht hinein. »Ich kann nicht«, flüstert er.
Ich schaue ihm in die blauen Augen. Panik steigt in mir auf. Doch dann lehne ich meine Stirn gegen seine. »Diesmal werde ich dich retten«, murmele ich. »Ich werde uns beide retten.«
James zieht mich an sich, vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Ich streichele seinen Rücken, versuche, ihn zu beruhigen. Ich habe mich nie für besonders stark gehalten, weil es doch so viele Dinge auf der Welt gibt, die außerhalb meiner Kontrolle liegen.
Doch nun muss ich stark sein. Weil ich alles bin, was uns geblieben ist.