KAPITEL 21
Das Ende
Der Wind blies fauchend durch den toten grauen Staub und wirbelte Fontänen auf, die Aden bis in die Lungen drangen. Slythe betrachtete ihn grüblerisch, ohne sich vom Fleck zu rühren. Aden ging furchtlos auf den Truck zu. Sein Hass auf den Meuchelmörder war erloschen.
Ein ferner Donner. Slythe warf einen Blick über die Schulter. »Du bist durch den Wall gegangen«, sagte er.
»Ja.«
»Noch erstaunlicher – du bist zurückgekommen. Was hast du drüben gesehen?«
»Warum willst du das wissen?«
»Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Ausgerechnet du?«
Slythe lächelte entschuldigend. Sein Gesichtsausdruck wirkte aufgesetzt und irgendwie unehrlich. »Als wir uns das letzte Mal trafen, sagtest du, ich sei nicht real. Ebenso wenig wie die Leute, die ich umbrachte. Bin ich denn jetzt real?«
»Du bist weniger real als je zuvor. Die Welt hier ist eine Story, mehr nicht.«
»Erzähl sie mir!«
Aden setzte sich neben ihn auf die Motorhaube. Der Meuchelmörder rückte ein Stück von ihm ab. »Angst?«, fragte Aden mit einem Lächeln.
»Bei unserer letzten Begegnung stieß ich dir ein Messer ins Herz. Du warst tot. Wie fühlte sich das an?«
Aden hatte ihm nicht zugehört. »Der Mechaniker«, sagte er. »Der Mann mit dem Buch. Ich weiß jetzt, was er mit ›Struktur‹ meinte. Er meinte den Aufbau der Story, die Handlungsfolge.« Er boxte Slythe kameradschaftlich in den Oberarm. Der Meuchelmörder wich blitzschnell aus und sprang von der Motorhaube. »Deine Angst ist berechtigt«, meinte Aden lachend. »Ich habe vorhin mit eurem Gott gesprochen.«
Slythe überlegte eine Weile. »Dann – bist du der Held dieser Geschichte?«
»Genau!« Wieder lachte Aden. »Aber nur, weil er nichts Besseres parat hatte. Und weißt du, was besonders komisch ist? Dass du zu den Figuren gehörst, die ich retten soll. Aber vergiss es. Es stimmt, was ich letztes Mal sagte. Diese Welt existiert überhaupt nicht. Ich kam nur nicht dahinter, warum sie zu existieren schien. Ich dachte, das alles sei ein Traum. Dabei ist es eine Story, die nie erzählt wurde. Sie kann die wahre Realität nicht berühren. Ich dachte, ich könnte den Alten retten, diese Krankheit vertreiben, die sein Gehirn zerfrisst. Aber das schaffe ich nicht. Selbst wenn ich es schaffen würde, diesen Wall zu zerstören …« Er deutete auf die Barriere. »… läge er immer noch krank in einem Pflegeheim und würde auf den Tod warten.«
Slythe ging mit geschmeidigen Bewegungen auf und ab. »Teile einer Story können außerhalb der Story nichts bewirken, stimmt’s?«
»Du hast es haarscharf erfasst.«
»Aber wenn man sie erzählt?«
Aden schaute ihn an.
»Aber wenn man die Geschichte erzählt?«, wiederholte Slythe. Er ließ ein Messer aus dem Ärmel gleiten und spielte damit herum, warf es hoch und fing es wieder auf. Eine nervöse Angewohnheit.
»Was willst du damit … hey, warte mal. Lass mich nachdenken. Tu das verdammte Messer weg, ja?«
Slythe schleuderte die Klinge in das Ortsschild des toten Dorfes. »Ich muss los«, sagte er. »Um das Schloss tobt ein Krieg, so sinnlos er auch sein mag. Die Kirche hat ihre Wachhunde von der Leine gelassen. Julius ist verschollen. Mira ebenfalls. Der Ratgeber des Herzogs lässt die Anlage mit Kriegsmaschinen belagern. Im Moment ist das Schloss in der Hand des Priesters. Also bleibt mir keine Wahl, als jeden außer mir selbst umzubringen. Auch Tom, wenn ich ihn erwische. Bei dir will ich eine Ausnahme machen. Wenn dir Gewalt und Blutvergießen so verhasst sind, dass du diese Welt unbedingt davon befreien willst – dann tu dir keinen Zwang an!«
Slythe rannte los, ein verschwommener Farbwischer auf der grauen Ebene, der verschwunden war, ehe Aden Luft für eine Antwort holen konnte. Aden ließ sich von der Motorhaube gleiten. »Tom!«, rief er. »Bist du hier?«
Der Wall schnellte mit einem Ruck zwanzig Meter vorwärts und kroch dann im Zeitlupentempo über den spröden, staubigen Boden näher. Ein Schauer lief Aden den Rücken hinunter. Er sprang auf den Fahrersitz des Trucks und fuhr mit beiden Händen über die seltsame Konstruktion des Armaturenbretts. »Ich kann dieses Ding nicht bedienen«, schrie er aus dem Fenster.
Der Mechaniker saß plötzlich neben ihm auf dem Beifahrerplatz. »Ich fahre«, sagte er. »Du hast dort drüben viel zu lange gebraucht.«
Der Truck rollte los, obwohl niemand die Schalter und Hebel berührte. Die Hände des Mechanikers zuckten nervös, während er im Rückspiegel die Barriere beobachtete. »Die sollte eigentlich stehen bleiben, als das Gemälde erwachte.«
»Die Barriere oder dieses Geschöpf des Grauens – ihr Typen habt beides vermasselt.«
»Aber es gibt eine Möglichkeit, sie zum Stillstand zu bringen. Ja? Nein? Vielleicht? Was hast du erfahren?«
Aden erzählte ihm während der Fahrt, was er erlebt hatte. Als er fertig war, sagte der Mechaniker. »Dann ist die Lösung einfach.«
»Kann es sein, dass ich irgendwo auf dem Schlauch stehe?«, erkundigte sich Aden. »Es gibt eine Möglichkeit, den Wall zum Stillstand zu bringen? Den Wall und das Monster?«
»Nein und noch mal nein«, entgegnete der Mechaniker. »Alles klar? Einfach.«
Die Dorfbewohner hatten entdeckt, was mit ihren verschwundenen Kindern geschehen war, als sie zur Kirche liefen, um sie vermisst zu melden, und die Leichen fanden.
Sie fanden auch die zerbrochene Glaskugel und erfuhren so, dass Sivanas wieder unter ihnen weilte: Sivanas, ein Hauptdarsteller, der sie aus ihrer Uhrwerkroutine gestoßen und ihren leeren Leben eine neue Richtung und neue Ziele gegeben hatte. Das war es, was Kevas Tag für Tag vor den leeren Kirchenbänken gepredigt hatte. Hätte er den Verstand besessen, seine eigene Botschaft in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen, hätte er diesen Tag als wundersam eingestuft (als widerwärtig vielleicht, aber doch als wundersam), noch während ihn der erboste Mob in Stücke riss. Sie rissen ihn in Stücke.
Dann rotteten sie sich zusammen und stürmten dem Schloss entgegen. Dort sahen sie, wie die Krieger der Kirche über die Mauern wuselten. Ein paar armselige einarmige Soldaten hatten vergeblich versucht, ihnen Einhalt zu gebieten. Ihre Überreste lagen verstreut umher.
Toraks Panzer waren bereits eingetroffen, zwanzig an der Zahl. Sie bildeten einen dichten Belagerungsring um das Schloss. Torak mochte nicht auf das Schloss feuern, konnte die Dragoner aber auch nicht einzeln unschädlich machen. Er hatte sich bis zu dem Zeitpunkt, da die Dorfbewohner auftauchten, hitzige Debatten mit seinem Schlangenstab geliefert.
Torak ging in einem Panzer auf Tauchstation und hörte sich den Grund für den Volkszorn an. Dann kam er aus seinem Versteck und begann Befehle zu brüllen. »Natürlich!«, schrie er. »Alles herhören! Mir ist diese Gräueltat auch zu Ohren gekommen! Menschenopfer? Tod durch Erdolchen? Unglaublich! Muss gerächt werden! Deshalb bin ich hier. Um eure Kinder zu rächen. Seht ihr die Panzer? Beweis für meine Absicht! Aufgepasst! Zieht diese Dragoner auf euch, und ich putze sie weg! Guter Plan? Dann seid ein braver Mob! Nichts wie los! An die Arbeit, Leute!«
Sie kamen seinem Befehl nach. Leider war der Berater des Herzogs kein besonders guter Schütze. Als ein Dragoner von der Zugbrücke rollte, tötete Toraks Feuerstoß zehn der Dorfbewohner, die ihm vertraut hatten. Darauf wandte sich der Mob gegen ihn und ließ ihm keine andere Wahl, als den Panzer im Kreis zu fahren, ein Manöver, bei dem dummerweise noch mehr Bürger unter die Ketten gerieten. Die übrigen Panzer, so konstruiert, dass sie automatisch Toraks Fahrzeug folgten, richteten ein wahres Blutbad an.
Dann erschienen Toms Drachen. Als Aden durch den Wall verschwand, hatte Tom einmal kräftig auf zwei Fingern gepfiffen. Sie waren aus großer Höhe niedergestoßen, die letzten fünf Drachen, die es noch gab, und während vier der Giganten über ihm ihre Kreise zogen, war der große Rote neben ihm gelandet und hatte ihm seinen Nacken als Sattel angeboten. Er war mit dem Trupp nach Eisennetz geflogen, zu den Schwachköpfen, die den Nerv besessen hatten, sein Schloss ins Verderben zu stürzen. Zuallererst hatte er sich Julius vornehmen wollen, dessen Triumphwagen an der Kirche geparkt war, aber die Suche nach ihm war vergeblich gewesen. Nun, am Schloss angelangt, erspähte er den Ratgeber des Herzogs in seinem Panzer. Die Drachen griffen an: Ihr Atem aus Feuer, Eis und giftigen Dämpfen strich über die Panzer und über den wütenden Mob.
Der Mob wurde noch wütender, aber auch Konfusion machte sich breit. Manche hatten in Torak ihren Verbündeten gesehen und versucht, ihre Genossen von ihm fernzuhalten, mit dem Argument, dass Torak unbeabsichtigt ein Fehler unterlaufen sei. Diese kühleren Köpfe sahen nun einen Feind in Tom, da er Torak attackiert hatte. Sie wandten sich gegen ihn. Während Tom seine Drachen zu beruhigen versuchte, die mit Mistgabeln und Fackeln drangsaliert wurden, konnte sich Torak unbemerkt aus seinem Panzer stehlen, in einer Verkleidung, die er rasch mit seinem Notfläschchen von Traumenergie gebastelt hatte.
Die Dragoner griffen inzwischen alles an, was sich in die Nähe des Schlosses wagte. Sivanas stand in Corberts Körper auf dem höchsten Turm der Anlage und predigte dem wogenden Meer von Kämpfern in der Tiefe. Niemand bemerkte ihn dort oben oder verstand auch nur ein Wort dessen, was er sagte.
»Das totale Chaos«, stellte Aden fest, als der Truck auf einer Kuppe anhielt und sie die Szene am Fuß des Hügels betrachteten.
»Notwendig«, sagte der Mechaniker. »Das Grauen wird kommen.«
»Himmel, sieh dir diese Drachen an!« Erst mit einiger Verzögerung begriff er die Worte des Mechanikers. »Die Bestie – du willst sie hier haben?«
»Sie muss das Schloss vernichten, bevor der Wall es tut. Wenn das geschieht, sorge ich dafür, dass es Nacht ist. Ein Traum wird kommen.«
»Ein Traum, der nicht vom Schloss eingefangen wird? Der kein Ziel mehr hat?«
»Genau.«
Aden kratzte sich am Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht ganz. Kannst du mir auf die Sprünge helfen?«
»Das Grauen kommt, vernichtet das Schloss. Der Wall zögert kurz, sodass dir genügend Zeit zum Handeln bleibt. Der Traum findet kein Schloss mehr vor. Er wird dorthin zurückkehren, wo er herkam. Und du mit ihm. Du hast eine Botschaft zu übermitteln. An deinen Großvater.«
»Und diese Botschaft lautet?«
»Berichte ihm einfach, was geschehen ist. Das ist alles. Du musst zu dem Bereich seines Verstandes vordringen, der es ihm erlaubt, seine Story zu erzählen. Verstehst du jetzt, worum es geht, Protagonist?«
»So gut wie.«
»Dann erkläre mir die Sache, damit ich weiß, dass alles richtig angekommen ist.«
Aden rieb sich die Schläfen. »Wenn diese Welt in seiner Fantasie existieren kann, dann kann sie auch in der Fantasie einer anderen Person existieren. In der Fantasie von hundert Personen. Sie müssen nur von ihr erfahren. Dann wird sie weiterleben. Hier können wir sie nicht retten, aber anderswo wird sie weiterleben.« Aden lachte. »Jetzt habe ich begriffen.«
»So weit, so gut. Fahr fort!«
»Okay. Die Träume sind seine echten Träume. Du stiehlst sie aus seinem Gehirn, sobald sie fertig geträumt sind. Richtig? Okay. Also befinden sich die Träume in dem Teil seines Verstandes, der noch intakt oder zumindest irgendwie mit der realen Welt verbunden ist. Sie stammen nicht aus dem Bereich, in dem seine Erinnerungen gespeichert sind. Das ist der Teil, den ich zu sehen bekam. Ich muss den Bereich aufsuchen, wo sein Geist in der Gegenwart lebt. Er muss die Story fertig schreiben. Und ich muss ihm berichten, was geschehen ist, damit er sie fertig schreiben kann. Dann muss jemand sie lesen. Und die Welt wird im Gehirn dieses Lesers weiterleben.«
»Gut.« Der Mechaniker wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen Blick auf seine Stoppuhr. »Hoffen wir, dass diese Bestie sich beeilt. Sonst müsste ich die Kämpfe da unten verschärfen.«
Aden schaute ihn an. »Du hast das alles eingefädelt? Und du kontrollierst den Ablauf?«
»Was denn sonst?«, fauchte der Mechaniker.
»Es ist nicht einfach … passiert? Hat sich nicht so entwickelt, wie du mir auf dem Weg hierher weismachen wolltest?«
Der Mechaniker schlug sein Buch auf. »Hör mal! Das hier ist eine Geschichte. Welcher Teil der Geschichte bin ich wohl?«
Aden zuckte mit den Schultern.
»Ich bin ihre Handlung, du Schwachkopf!« Der Mechaniker kritzelte ein paar Zeilen. Auf dem Schlachtfeld unten herrschte sofort Ruhe. »Siehst du?« Plötzlich umarmten die Dorfbewohner einander und begannen sich über alle möglichen Dinge zu unterhalten. Torak plauderte in aller Freundschaft mit Tom, dem Drachenmann, der einen Blick in ihre Richtung warf und den Daumen hob. Die Dorfbewohner strichen ehrfürchtig über die rauen Flanken der Drachen.
Aden lachte erstaunt. »Und du kannst mit einem Federstrich bewirken, dass sie wieder zu kämpfen anfangen?«
»Sicher. Begreifst du nun? Einzig und allein dich bekam ich nie in den Griff. Und die Bestie. Und die Barriere.«
»Was ist mit Tom und Muse?«
»Die erklärten sich bereit, das Spiel mitzumachen.«
»Dann war unser Gespräch in der Kirche … dann wusstest du von Anfang an, wie das alles ausgehen würde? Du wusstest, dass ich sterben und zurückkommen würde? Du hast die ganze Zeit über etwas vorgespielt?«
»Natürlich«, entgegnete der Mechaniker unwirsch. »Deine Aufgabe war und ist es, deinen Großvater zum Erzählen seiner Story zu bewegen. Damit wir anderswo überleben können. Etwas musste geschehen.«
Der Mechaniker kritzelte wieder ein paar Zeilen, und die Schlacht ging weiter. Aden lachte. »Komm, lass einen dieser Drachen einen Panzer fressen!«, rief er.
»Nein.«
Das Grauen kam über den Horizont, ein Koloss von der Größe eines Berges – Herbert Keenans Krankheit, die alles in seinem Gehirn verschlang. Die kleine Story, noch im Entstehen, nie erzählt, vage erinnert, war für die schwerfällige Bestie das Werk von Sekunden, die Bestie selbst nur ein winziger Teil des viel größeren Leidens, das Herberts Verstand zerfraß.
Der Mechaniker verstellte seine Stoppuhr. Die künstliche Zeit der Welt tat einen Sprung nach vorn. Nacht legte sich über das Land. Das Schloss wurde größer, ein gleißendes Leuchtfeuer. Die Bestie, höher als der höchste Punkt von Eisennetz und sich immer noch aufblähend, stieß ein Brüllen aus, das schrill und dumpf zugleich klang, und wankte vorwärts. Die Kämpfenden vor dem Schloss flohen nach allen Seiten. Tom lenkte seinen roten Drachen hoch in die Lüfte, umkreiste den Kopf der Bestie mit lautem Geschrei, immer knapp außer Reichweite der Riesenarme, die nach ihm schlugen. Die Bestie löschte das Gitter von Eisennetz aus. Spinnenförmige Dragoner krabbelten von den höheren Türmen wie Käfer, die aus einem zerstörten Nest flohen.
Tom brüllte das Grauen an, schoss ihm Lichtfackeln entgegen. Es torkelte hinter ihm her, als er es vom Schloss wegführte, aber es hatte seine Hauptarbeit getan. Die Menschen in der Umgebung des Schlosses starrten wie gebannt zum Himmel, wo die Bestie Toms Schlingerkurs folgte – bis die Dragoner in ihre Mitte stürzten. Schreie ertönten. Der Mob setzte sich hektisch in Bewegung.
»Los!« Der Mechaniker nickte Aden zu. Seine Stimme klang eindringlich. »Begib dich an die Stelle, wo der Traum zuerst erschien!«
»Fährst du mich hin?«
»Ja, verdammt noch mal!«
Der Mechaniker jagte den Truck den Hügel hinunter. Das Gefährt flog über die klaffenden Spalten und Risse hinweg, die das Grauen hinterlassen hatte. Ein Reiter, der vor den Kämpfen die Flucht ergriffen hatte, kam um eine Kurve geprescht und stürzte mit einem Aufschrei ins Nichts.
Der Traum erschien und erhellte den Himmel mit seinem grünen Licht. Aden begriff plötzlich, dass jemand im Pflegeheim dem alten Mann von seinem Selbstmord erzählt hatte. Sein Großvater hatte nach außen hin wohl keine Reaktion gezeigt, aber das Entsetzen und die Trauer waren tief in jede Schicht seines Gehirns eingedrungen, hatten seinen Lebenswillen ausgelöscht und den Wunsch getötet, sich an irgendetwas zu erinnern. Dieser Albtraum zeigte, was aus dem alten Mann geworden war. Aden wusste, dass er die Schuld an diesem Kummer und diesem Leid trug. Die Selbstverachtung überwältigte ihn fast. Er wollte aufgeben und sich in den Fluss stürzen, sich ertränken. Untersteh dich!, schien eine Stimme in seinem Innern zu sagen. Untersteh dich!
Als sie den Fluss erreichten, ganz in der Nähe der Stelle, wo er das grüne Leuchten zuerst gesehen hatte, senkte sich der Traum erneut herab. Der gleiche Traum: Herbert ertrank, wild um sich schlagend, in einem brodelnden, giftigen Meer. Seine Reaktion auf die Nachricht von Adens Tod. Auf die Nachricht vom egoistischen, gestohlenen Tod seines Enkels. Aden beobachtete, wie der Traum herabschwebte. Er hatte die Arme ausgestreckt, und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Es tut mir so leid«, wollte er sagen, aber es war, als erstickte er an den Worten. Zu spät jetzt, zu spät.
Ein Bär, eine Hyäne und ein Schakal tauchten aus dem Wald auf. Aden war gerade dabei, sich in das fahlgrüne Licht zu werfen. Der Bär schwenkte mit lautem Gebrüll die Pranken. Er kam Aden vertraut vor, aber ohne die Hyäne an seiner Seite hätte er ihn nicht erkannt. »Leben Sie wohl, Mister Gorr!«, rief Aden.
Der Bär brummte, versuchte etwas zu sagen. Endlich gelang es ihm, ein paar verständliche Worte zu formen. »Nimm … Jungen mit.«
Aden spürte einen Stich mitten ins Herz. »Ich nehme euch alle mit«, rief er. »Wenn auch ein wenig anders, als ihr euch das vorstellt. Lebt wohl!« Er trat im gleichen Moment in den Traum seines Großvaters, da die Überreste von Schloss Eisennetz ausgelöscht wurden.
Mister Gorr, der nicht verstand, was er meinte – wie sollte er auch? –, tobte vor Kummer und Zorn. Der Traum schwebte zum Himmel. Aden schwamm in dem grünen Leuchten wie in einem warmen Bad. Die Erscheinung seines Großvaters lächelte ihn an – verdrängte den Kummer für ein Lächeln, ein trauriges Lächeln, und streckte tröstend eine Hand nach ihm aus.
Über den Himmel driftete Aden mit dem Traum, ziellos, da Schloss Eisennetz ihn nicht mehr in seinen Bann zog. Er fühlte sich geborgen in der giftgrünen Wolke, warm und geborgen. Der Traum schwebte in großer Höhe.
Die Sterne ringsum funkelten nicht, sondern dämmerten matt vor sich hin wie große Lampen, die darauf warteten, eingeschaltet zu werden. Der Traum segelte mit der Geschwindigkeit windgetriebener Wolken in neue Sternhaufen, erfand neue Formen für ihre Heldendramen.
Wenngleich Großvater und Enkel immer noch gegen die Tränen ankämpften, betrachtete Aden strahlend die Wunder, die ihn umgaben. Hier konnte man wirklich nach den Sternen greifen! Und genau das tat er, als der Traum dicht an einem der Himmelskörper vorbeikam. Seine Knöchel stießen gegen die Oberfläche. Sie fühlte sich wie Glas an und gab doch nach, als er sie berührte. Dann beugte er sich weit vor, bis sein Kopf den grünen Nebel durchstieß, und beobachtete die Vernichtung in der Tiefe.
Von hier oben wirkten Land und Leute wie Miniaturen, die jemand auf einer großen Tischplatte angeordnet hatte. Der Glaswall rückte näher wie eine Meereswoge, die Meilen in Sekunden verschlang. Die Ödnis, die sie zurückließ, war wie das Dunkel hinter geschlossenen Augen, wenn auf der anderen Seite der Lider heller Tag den Schlaf unterbricht: flackernd und schmerzhaft rot. Dass der Wall auch das Grauen geschluckt hatte, spielte überhaupt keine Rolle.
Die Kämpfenden in der Umgebung des Schlosses waren immer noch in ihren wilden Tanz verstrickt. Diejenigen, die am weitesten außen standen, drehten sich um, als der Wall vor Schloss Eisennetz anhielt. Tom umkreiste auf seinem Drachen mit lautem Geschrei die Turmspitzen, die das Eisengitter getragen hatten.
Tom hatte von Anfang an begriffen, dass er keine Macht über all das besaß, er nicht und auch sonst niemand. Sein Drache jagte auf die Barriere zu und durchstieß sie. Einen Moment lang verharrte sie und schien zurückzuweichen, als sich in ihrer glatten Oberfläche spinnwebartige Risse ausbreiteten.
Dann rückte sie weiter vor wie geplant und verschlang alles. Nightfall war tot.
Da war ein helles Licht, ein hellgrünes Licht, dann weiß, dann …
Aden betrat das Zimmer eines Pflegeheims. Er erkannte den Raum wieder. Hier hatte er seinen Großvater besucht, kurz nachdem die Krankheit ausgebrochen war. Helles Sonnenlicht sickerte durch die weißen Vorhänge. Herbert Keenan saß in einem Rollstuhl. Er war alt, aber sein klarer Blick verriet, dass er seine Umgebung wahrnahm. »Du hast es geschafft«, sagte er ruhig.
Aden war mit ein paar schnellen Schritten bei ihm und umarmte ihn. »Du bist hier! Du lebst!«
»Ich bin hier. Ich war die ganze Zeit hier. Es ist zwar so, dass mir alles … entgleitet. Aber noch bin ich hier.«
»Das ist nicht das echte Krankenzimmer, Opa, oder? Wir sind noch in deinen Gedanken, nicht wahr?«
Herbert nickte.
»Und kannst du die Welt von hier aus erreichen, Opa? Kannst du dich verständlich machen?«
Herbert lächelte traurig. »Nein. Ich versuche es. Tag für Tag. Das Eis ist dick und kalt. Ich schlage mit den Fäusten dagegen. Manchmal hören sie das Klopfen. Aber das ist alles.«
Adens Blicke wanderten durch das Zimmer und entdeckten die Schreibmaschine in der Ecke. »Tippst du noch manchmal, Opa? Damals, als wir dich hier besuchten, hattest du eine Schreibmaschine. Du hast oft darauf getippt. Buchstaben.«
»Buchstaben, ja«, sagte Herbert, und seine Augen trübten sich. »Viele Buchstaben.«
»Hast du dort draußen deine Hände unter Kontrolle, Opa?«
»Hände. Ja. Zwei Hände.«
»Opa! Konzentrier dich! Das ist wichtig. Schreib eine Botschaft an dich selbst, draußen in der realen Welt. An dich selbst außerhalb der Eisschicht. Außerhalb der … der Barriere. Kannst du das? Besorg dir eine Schreibmaschine, Opa. Bitte.«