KAPITEL 7

Corbert und Mister Gorr

Weiter weg, in dem Dorf Days Past (dessen Bewohner noch nicht wussten, dass ein Großteil der restlichen Welt über Nacht verschwunden war), klopfte jemand an der Tür des Gorr-Anwesens. Wie an jedem Werktag erfolgte das Klopfen keine zehn Sekunden vor oder nach sechs Uhr morgens. Mister Gorr trottete den Flur entlang, die Wulstlippen unter dem dichten Bart gut gelaunt zu einem stummen Pfeifen gespitzt. Er polterte die Stiege hinunter. Die Dielenbretter dröhnten unter seinem Gewicht wie der Herzschlag des Hauses. Nach dem Frühstück im Bett klebten ihm Rühreireste am Kinn, und sein Atem roch nach Rührei. Die prügeldicken Arme mühten sich ab, die Schürzenbänder im Rücken zu einer Schleife zu binden. (Mrs. Gorr hatte die Schürze am Vorabend liebevoll von Blut gesäubert und neu gesäumt.) Auf dem Weg zum Haupteingang streiften seine Blicke das Esszimmer, das Chucky blitzblank geleckt hatte – keine leichte Aufgabe. »Guter Junge!«, brummte Mister Gorr und begann geräuschvoll die Riegel und Sperrketten der Haustür zu lösen. »Corbert!«, rief er.

An der Tür stand ein Wrack von einem Mann, praktisch haarlos und so von Narben übersät, dass es aussah, als wäre ein Vandale mit einer Purpurfeder über ihn hergefallen. Die Haut unter den gequälten, glasigen Augen zuckte unkontrolliert. Er trug einen billigen grauen Overall und hatte eine Hand tief in der Tasche vergraben, während er die andere schlaff zum Gruß hob. »Morgen, Alfred«, sagte Corbert langsam. »Alles Gute zum Hochzeitstag für dich und Putricia.«

Mister Gorr schlug ihm so kräftig auf den Rücken, dass er nach vorn stolperte. »Ha!«, rief er strahlend. »Errätst du nie, Mann, was ich für sie gemacht hab, ha! Ein Bild hab ich ihr gemalt, ehrlich! Ein Herzbild, ehrlich, Mann!«

Corbert nickte. Seine Stimme war leise und matt. »Da war sie sicher begeistert, Alfred. Überwältigt, was? Ist womöglich vor Freude in Ohnmacht gefallen? Du hast ihr das Bild gemalt, sagst du? Ich wusste gar nicht, dass du eine künstlerische Ader hast. Obwohl … so wie du mich zur Ader lässt und mir die Knochen verbiegst, hat das schon fast was Künstlerisches. Aber das ist eine völlig andere Geschichte.«

»So wie ich dir die Knochen verbiege!« Mister Gorr kreischte vor Vergnügen. »So wie ich dir die spröden Knochen verbiege, meinst du, hey! Das meinst du doch, Corbert, hey?«

»Genau«, bestätigte Corbert. Seine Mundwinkel zuckten und kamen wieder zur Ruhe.

»Ich zeig’s dir später, das Bild«, sagte Mister Gorr. Corbert nickte nur, denn es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Corbert schlurfte hinter Mister Gorr über den Rasen des Vorgartens und am Tor vorbei zum Schuppen im Hinterhof. Ihr Gespräch drehte sich um belanglose Dinge. »Ja, wieder der gleiche Traum«, berichtete Corbert. »Ich schaute durch ein Teleskop, das droben auf dem Speicher stand. Was das wohl bedeuten mag? Ich schätze mal, dass drüben am Netz die Köpfe rauchen. Es ist schon sehr … merkwürdig.«

Sie betraten den Hinterhofschuppen. Mister Gorr spuckte in die Hände, rieb die Handflächen zusammen und betrachtete mit einem Grinsen die Gerätschaften, die er für sein Tagwerk brauchte. Corbert nahm auf der Liege Platz und schob die Hände in die Lederschlaufen, die ihn während eines Großteils der nächsten sechs Stunden fixieren würden. Mister Gorr zog die Riemen stramm, nicht weil Corbert sich zu wehren pflegte, sondern um zu verhindern, dass er im Reflex um sich schlug. (Einmal hatte er Mister Gorr mit dem Finger unabsichtlich ins Auge gestochen.) »Mittwoch«, sagte Corbert mit einem Seufzer. »Du hast die Wahl, Alfred. Ich kann mir schon denken, wofür du dich entscheiden wirst.«

Mister Gorr rieb sich das stoppelige Kinn, während er die Blicke über sein Instrumentarium schweifen ließ. In einer Ecke des Schuppens stand ein schwerer Eisenstuhl, aus dem Tausende kleiner Stacheln ragten. Gegenüber befanden sich ein Satz Fußblöcke und ein zerlegtes »Rad der Schmerzen«, das seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, weil es Rost angesetzt hatte, und das sie nur behielten, weil es so gut zum Ambiente passte. Auf den Werkbänken lagen alle möglichen kleineren Folterutensilien wie ein Stachelgürtel, der gute, alte Brustreißer, ein paar Daumenschrauben, eine Ketzergabel und eine Ketzerzange. Sie stammten alle aus dem Mittelalter der Erde, auch wenn sie hier andere Bezeichnungen trugen. An Wandhaken und Nägeln hingen Hunderte von Sägen, Messern, Hämmern, Peitschen, Ketten, Rohrstöcken und Messingschlagringen in den grauenvollsten Ausführungen. Und es gab Elektroschockgeräte, zusammengerollte, an schwere Batterien angeschlossene Kabel. Auf eine dieser Batterien fielen Mister Gorrs Blicke, und er hievte sie stöhnend neben das Kopfende von Corberts Liege.

»Oh, du überraschst mich«, sagte Corbert. »Ich hätte gewettet, du nimmst heute die Ketten.«

»Später vielleicht«, entgegnete Mister Gorr und stellte einen großen, leeren Glaskrug unter die Liege, um Corberts in Schläuche geleitetes Blut aufzufangen.

»Der Namenlose fordert heute eine halbe Gallone mehr als sonst. Behauptet, dass er die Extraration für ein besonderes Ritual braucht, obwohl ich allmählich glaube, dass er mit dem Zeug seine Morgengrütze anrührt.«

»Eine halbe Gallone mehr!« Mister Gorr schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Hast du überhaupt noch so viel Saft in dir?«

»Oh doch«, bestätigte Corbert heiter. »Ich habe ausgiebig gefrühstückt. Der Namenlose zahlt natürlich mehr, und ich brauche das Geld dringend. Caul hat wieder mal fremdes Eigentum beschädigt. Es gilt ein paar Wachleute zu bestechen. Seine vierte Warnung, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Caul! Ein guter Junge.«

»Allem Anschein nach besitzt mein Sohn eine gewisse … Vitalität. Und, sagen wir mal, eine Menge Tatendrang.«

»Ein guter Junge«, wiederholte Mister Gorr. Er streifte Corberts Hemd nach oben und die Hose nach unten. Von Blasen und Narben übersäte Haut kam zum Vorschein. Nachdem er die Kabelklemmen an Corberts Unterlippe, Brustwarzen und Genitalien befestigt hatte, legte Mister Gorr den Batteriehebel um. Strom jagte durch die Drähte. Bläulich flackerndes Licht erhellte den Schuppen, Funken sprühten, und ein lautes Knistern übertönte Mister Gorrs fröhliches Summen. Corbert riss die Augen weit auf, die Schlagadern an Hals und Schläfen traten hervor, und aus seiner wunden Kehle löste sich ein so schriller und lang anhaltender Schrei, dass die Nachbarn sich wieder mal fragten, woher der arme Tropf nur all die Luft nahm. Und während sie die Fenster zuschlugen, wünschten sie sich und ihm, dass seine Lungen irgendwann den Dienst für immer verweigern würden.

Während ihrer Vormittagspause – Mrs. Gorr hatte ihnen Butterkekse und Limonade gebracht – erwähnte Mister Gorr beiläufig, dass in seinem Badezimmer ein Gemälde zum Leben erwacht war. Corbert, der sich mit Mythen und okkulten Dingen weit besser auskannte, als es der Kirche recht war, hob die zuckenden Augenbrauen und fragte: »Zum Leben erwacht?«

»Im Badezimmer.« Mister Gorrs Stimme klang immer noch ungläubig. »Wollte meinen Guckern kaum trauen. Steigt einfach aus dem Rahmen, dieser Junge! Sollte ein Geschenk für Putricia sein, verstehst du? Ein Bild von ihm, verstehst du? Daraus wurde natürlich nichts, nachdem er den Rahmen verlassen hatte. Malte ihr stattdessen ein Herz.«

Corbert hakte nach. »Das Gemälde war ursprünglich ein Werk dieser Frau namens Muse?«

Mister Gorr nickte. »Hab ich mitgehen lassen.« Er schnitt eine Grimasse. »Eigentlich nur ausgeborgt. Hörte, dass sie noch eine Menge anderer schöner Bilder gemalt hatte, verstehst du? Und du hattest mir geschildert, wo sie wohnt. Weißt du noch? Also dachte ich mir …«

»Ich verstehe.«

»Musste einen Vampir abwehren, drunten im Keller. Bewachte das Haus mit Fängen und Klauen. Und auch sonst raschelte so allerlei im Dunkel. Ich kriegte ’ne richtige Gänsehaut. Also packe ich das erstbeste Gemälde, damit er mich nicht noch einmal beißt, versetze ihm einen Mordsschubs und schleppe das Bild heim. Und da wird es lebendig! Wird lebendig!«

Corbert nahm einen Schluck Limonade. »Du hast doch hoffentlich Knoblauch gegessen, Alfred? Es war vielleicht kein echter Vampir, aber man kann nie vorsichtig genug sein.«

Mister Gorr nickte. »Jede Menge davon im Abendessen. Keine echten Fänge, he? Dann guck mal!« Er schob mit dem Daumen die Unterlippe vor, damit Corbert sie begutachten konnte.

»Scheint alles in Ordnung zu sein, auch wenn es dir nicht schaden könnte, mal Zahnseide zu benutzen. Und du verträgst das Tageslicht so gut wie immer. Also. Ich glaube, du bist da auf was ganz Gravierendes gestoßen, Alfred. Dieser Junge, der später zum Leben erwachte – war der auf dem Gemälde tot?«

»Fast. Arme mit Schnitten übersät, Pulsadern geöffnet. Sah in etwa so aus wie du vor zwei Wochen.«

»Sag, Alfred, wirkte er niedergeschlagen, als er mit dir sprach? Deprimiert?«

»Traurig, meinst du? Nee.«

»Fröhlich?«

»Das schon eher. Machte Witze. Ein Prachtbursche! Machte Witze über den alten Herrn. Den Weltenmacher. Sagte, das sei sein Opa!« Mister Gorr schlug sich aufs Knie und gluckste vor sich hin. Corbert dagegen wirkte geschockt, auch wenn das seine Züge kaum veränderte. »Netter Junge.« Mister Gorr, der sich einen Butterkeks in den Mund gestopft hatte, verteilte beim Sprechen Brösel über Corbert. »Jede Menge Herzensbildung. Half mir beim Malen, ob du’s glaubst oder nicht. Kluger Junge.«

»Dennoch. Ich fürchte, dass die Kirche nicht begeistert sein wird. Der Enkel des Weltenmachers, Alfred? Du lachst, und das mit Recht, aber der Klerus wird das als hochgradige Ketzerei betrachten. Ich erwähne dieses Detail besser nicht in meinen Bericht, sonst kriegt der Namenlose noch einen Anfall.« Corbert schob das leere Glas beiseite. »Höchst befremdlich. Aber du hast dich meines Wissens nach keines kirchlichen Vergehens schuldig gemacht, Alfred.«

Mister Gorr räusperte sich. »Ärr … der … äh …«

»Nein, selbst den kleinen Diebstahl wird man dir verzeihen, denn Muse ist eine Ketzerin, die in den Augen der Kirche den Tod verdient. Da wird man sich kaum darüber aufregen, dass du dir ein Bild … ›ausgeborgt‹ hast. Ich werde ihnen sagen, dass du ganz zufällig an ihrem Haus vorbeigekommen bist und es vermutlich nicht wieder finden würdest. Aber du warst nun mal Zeuge eines bedeutenden Omens, und so was kriegen sie immer raus.« Corbert erhob sich. »Ich muss dich leider bitten, mir den Rest des Tages freizugeben.« Mister Gorr sah ihn entsetzt an. »Wir können die verlorene Zeit morgen reinholen«, beruhigte Corbert ihn. »Aber unser Vorgesetzter muss sofort erfahren, was geschehen ist. Die Neuigkeit dürfte für ihn wichtiger sein als eine halbe Gallone extra. Ich muss außerdem jeden Zweifel zerstreuen, dass du der Urheber der – wie nenne ich das nur – der Erweckung warst. Du besitzt zwar viele Talente, aber die Zauberei gehört bestimmt nicht dazu. Bei Muse ist das natürlich etwas anderes.«

Corbert, der während des Gesprächs aus Höflichkeit nichts gegen die Keksbröselwolke aus Mister Gorrs Mund unternommen hatte, begann sich unauffällig zu säubern. »Alfred, ich habe vielleicht mehr Bücher über diese Phänomene gelesen, als die Kirche erlaubt. Keine Sorge, ich kenne die Gesetze. Aber wir müssen diesen Vorfall sofort melden und dann eisern darüber schweigen. Das Dumme ist, dass ich nicht genau weiß, was du gesehen hast. Es könnte so harmlos wie ein Geist sein oder … wärst du in der Lage, mir eine möglichst genaue Beschreibung dieser Person zu liefern?«

Mister Gorr tat ihm den Gefallen. Gestenreich unterstrich er seine Worte.

»Danke, Alfred. Bis morgen.« Corbert zog sein Hemd wieder an, schlurfte zur Tür und rannte dann Hals über Kopf los. Er zuckte nicht einmal zusammen, als er in seiner Hast mit dem Fuß gegen das Gartentor der Gorrs stieß und zwei Knochen mit einem deutlichen Krack zersplitterten.