KAPITEL 9
Nach dem Tod
Die Nacht brach herein, wieder eine lange Nacht, in der die Uhr von Schloss Eisennetz stillstand.
Julius und Raydon lagen dick mit Blut beschmiert auf dem Rücken, beide mit weit offenem Mund, der Philosoph laut schnarchend und völlig ahnungslos, was sich ereignet hatte, seit er neben der Kirche umgekippt war. Slythe saß mit überkreuzten Beinen auf dem Esstisch der angrenzenden Küche, neben sich zwei Apfelbutzen, die allmählich braun wurden. Blutige Schleifspuren im Haus zeugten davon, dass die Leichen von Vater und Sohn hinter das Haus geschleppt und dort begraben worden waren.
Der Meuchelmörder schlief selten und verzichtete auch jetzt darauf, da er den schlafenden Herzog vor der Bauersfrau und ihren am Leben gebliebenen Sprösslingen beschützte. Sie hatten sich ins obere Stockwerk zurückgezogen und bis jetzt keinen Versuch unternommen, ins Erdgeschoss zu kommen, aber er lauschte angespannt, und seinen Ohren entging nicht das leiseste Knarzen der Dielenbretter. Seit Stunden herrschte Ruhe, nur hin und wieder unterbrochen von einem leisen Schluchzen. Auf der Küchenbank lagen sechs Goldstücke und mehrere kostbare Edelsteine, deren schimmerndes Licht rote und grüne Muster an die Wand warf. Es war ein kleines Vermögen, mit dem die Frau und ihre Kinder auch ohne Ernährer bis ins hohe Alter durchkommen würden, wenn sie den Reichtum einigermaßen klug einteilten. Neben dem Schatz lag eine Notiz, die Slythe geschrieben hatte: »Für Euer Schweigen und Euer Leid. Ein Wort zu jemandem, und ich komme zurück. Euer Mann und Sohn wurden von Wölfen getötet.«
Die Geheimhaltung war notwendig. Obwohl auf das Konto des Herzogs weit schändlichere Nächte gingen, konnte sein Treiben für Gerede sorgen, und die Kirche musste nichts davon erfahren.
Slythe überlegte kurz, ob es barmherziger gewesen wäre, die Familie ganz auszulöschen und ihr so all den Kummer zu ersparen, und in der Regel hätte er das schon aus Bequemlichkeit getan. Aber etwas war in den Minuten nach Adens Tod geschehen, Dinge, die nun unbehagliche Gedanken in ihm weckten.
Da war zuerst einmal der Leichnam – oder besser, das Fehlen des Leichnams. Aden hatte sich praktisch sofort aufgelöst und nur eine dunkle Pfütze auf dem Rasen hinterlassen. Noch jetzt konnte man getrocknete Farbkleckse im Gras erkennen. Slythe hatte schon des Öfteren Muses Geschöpfe getötet; aber so etwas war noch nie geschehen.
Während die Farbe im Gras versickerte, zog ein Grollen über das Land hinweg, das wie ein Donnerschlag von den fernen Bergen widerhallte, den Untergrund und die Luft mit Gebrüll erfüllte und in mehreren Wellen, die aus allen Richtungen zu kommen schienen, zu dem Gehöft zurückkehrte. In dem gewaltigen Lärm schwang etwas Menschliches mit: ein Schluchzen oder Stöhnen. Es erschütterte den Boden. Ein Regenschauer folgte. Ein Regen, der nach Salz schmeckte. Wie Tränen.
Slythe war nicht besonders religiös. Er kannte natürlich die Lehren der Weltenmacher-Kirche und allerlei Mythen wie die Geschichte von der Schöpferhand, die sich vom Himmel herabgesenkt hatte, um Berge aufzutürmen und Flussbetten zu graben. Daran zweifelte er auch nicht. Ein Atheist in Nightfall leugnete keineswegs die Existenz des Weltenmachers, sondern glaubte, dass der Weltenmacher tot oder dem Wahnsinn verfallen war – oder dass er sein Werk längst vergessen hatte.
Das Stöhnen war mehr als nur ein Laut gewesen. Es hatte ein Gefühl der Trauer übermittelt, so stark, dass es für kurze Zeit auch Slythe erfasste und ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Dieses flüchtige Bedauern war nicht nur Scham über das, was er getan hatte, sondern etwas, das tiefer ging. Ein Bedauern, das nicht verurteilte. Ein Bedauern darüber, dass diese Welt Wesen wie ihn duldete. Es betrachtete ihn – sein Handeln und ihn selbst – als Symptome einer schlimmen Krankheit in der uralten Struktur des Daseins.
Slythe war vor dem Gefühl erschrocken, hatte es jedoch unmittelbar nach seinem Auftauchen verdrängt und versuchte, es nun tief in seinem Gedächtnis zu vergraben. Aber in jenem kurzen Moment war es scharf wie ein eisiger Wind gewesen, der ihm entgegenblies, sodass er erschauerte.
Dann waren die Dragoner aus ihren unterirdischen Höhlen nahe Days Past gekommen, die Krieger der Kirche. Geschöpfe mit Menschenköpfen, deren Rumpf in einen Panzer überging, aus dem acht dünne Arme und Beine ragten. Die Gliedmaßen dieser spinnenähnlichen Soldaten waren mit rasiermesserscharfen Stacheln bewehrt, die sich in einen Gegner bohrten und ihn wie in einem Schraubstock festhielten. Da sie keine zivilen Schutztruppen waren, kamen sie eigentlich nur aus ihren Löchern, um die Horden von Wilden zu töten, die manchmal die Dörfer überfielen. Eines dieser Wesen reichte, um eine ganze Angreiferschar aufzuhalten. Sie besaßen keine Intelligenz, nur den Instinkt von Insekten. In seiner Jugend, als Slythe das Todeshandwerk erlernte, hatte er einzelne Dragoner attackiert, um herauszufinden, wie man sie besiegte. Der Trick dabei war, die gepanzerten Augenschlitze ihrer Helme zu durchstoßen, Ziele, die so schmal waren, dass nur Slythe sie traf. Aber hier wuselten fünfzehn Dragoner durch den Hof des Anwesens, vermutlich die gesamte Population der Region. Dieser Kampf würde sein Können auf die Probe stellen. Slythe hatte noch nie so viele Kirchenkrieger an einem Ort versammelt gesehen. Er hatte auch noch nie von einem solchen Ereignis gehört. Offenbar waren sie von überall herbeigeströmt, angelockt durch das Stöhnen des Himmels.
Sie hatten einen Kreis um das Haus gebildet und stumm ausgeharrt, als warteten sie auf eine Erklärung. Und das, obwohl der Wagen von Julius am Straßenrand stand – ein Symbol für die Allgewalt von Schloss Eisennetz.
Slythe hatte die Haustür hinter sich geschlossen und seinen Blick ruhig auf den am nächsten stehenden Krieger gerichtet. »Was wollt ihr?«, hatte er mit ausdrucksloser Miene gefragt, die Daumen lässig in den Gürtel gehakt. Eine starke Erregung hatte ihn erfasst. Seine Muskeln waren wie Federn gespannt und jede Sekunde zum Losschnellen bereit. Blende vier von ihnen, bevor sie zu nahe kommen! Nutze den Wagen als Deckung – sie sind gute Kletterer, aber du bist schneller. Blende zwei weitere von dort aus, dann lauf los! Zwinge sie dazu, nacheinander die Verfolgung aufzunehmen, dann kannst du während der Flucht jeweils einen angreifen und blenden. Zu seiner Enttäuschung – er spürte nicht den Hauch einer Erleichterung – sah er, dass sie sich geschlossen abwandten und langsam den Weg zurückkrochen, den sie gekommen waren.
Slythe zündete eine Laterne an, als sich Julius im Nebenraum auf seinem Lager umherwälzte. Die Lockenfrisur des Herzogs hatte sich in ein Gewirr blutverklebter Strähnen verwandelt. Langsam schlug er die Augen auf. Er fasste sich an die Schläfen, fuhr mit den Fingern über den vom »Picken« steifen Nacken. Dann rollte er sich stöhnend auf die Seite. »Ahh! Slythe?«
»Hier bin ich, Julius.«
»Ahh! Slythe. Ich möchte dir eine Beobachtung mitteilen. Ich fühle mich ziemlich … ziemlich elend. Ich erinnere mich kaum noch an die letzte Woche.«
»Es waren zehn Stunden, Euer Gnaden. Ihr habt wieder eine zu hohe Dosis Medizin genommen.«
»Oh, dieses abscheuliche Zeug!« Julius setzte sich auf. »Slythe, meine Haut scheint mit einer komischen Kruste bedeckt zu sein. Fühlt sich fast wie Blut an.«
»Es ist Blut.«
Julius blinzelte. »Aber … warum? Bin ich verletzt, Slythe? Hat mir jemand im Übermut einen Schaden zugefügt?«
»Ich glaube, ein Hahn hat Euch angegriffen, Euer Gnaden.«
»Oh, und den armen Ray hat er auch erwischt. Armer, armer Ray! Überall Blutspritzer. Sieh dir das an! Es muss etwas Schreckliches passiert sein, Slythe, da bin ich mir ganz sicher. Wo sind wir? Ray! Wach auf, ich befehle es!« Julius hielt den Kopf schräg. »Ich höre etwas! Geflüster. Es kommt aus dem oberen Stockwerk.«
»Ich schlage vor, Ihr bleibt hier, Euer Gnaden.« Slythe packte den immer noch bewusstlosen Raydon an den Füßen und schleifte ihn die beiden Eingangsstufen hinab zum Wagen. Julius, der seiner Neugier nicht widerstehen konnte, humpelte inzwischen die Stiege hinauf. Slythe hörte ihn, dachte an die gespannte Armbrust, die den Herzog am Ende der Treppe vermutlich erwartete, und stürzte ihm nach.
In eine von getrocknetem Blut steife Toga gehüllt und immer noch von Kopf bis Fuß mit einer dunkelroten Kruste bedeckt, stand Julius betroffen vor einer Schlafkammer und blickte auf die Bauersfrau herunter, die ihre beiden jüngsten Söhne an sich drückte und ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah. Er wandte sich Slythe zu. »Ich kann es kaum glauben! Sie fleht mich an, sie am Leben zu lassen und nicht abzuschlachten wie ihren Mann und ihren Erstgeborenen. Sie hat mich einen Mörder genannt. Ein Ungeheuer. Eine Majestätsbeleidigung! Ist das nicht gegen das Gesetz?«
Der Meuchelmörder zuckte mit den Schultern. »Wir wollen ausnahmsweise Gnade walten lassen, Euer Gnaden.«
»Aber das gehört sich nicht.«
»Bitte … lasst … uns … in Frieden!«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang scharf und couragiert, obwohl man ihr anmerkte, wie erschöpft sie war. Julius zog die Augenbrauen hoch. »Slythe, ich bin verwirrt«, sagte er. »Sie scheint allen Ernstes zu glauben … und all das Blut … Slythe, als du davon sprachst, dass mich ein Hahn angegriffen habe … war das eine Metapher?«
»Ja, Euer Gnaden.«
Mit gerunzelter Stirn und das Kinn in eine Hand gestützt, marschierte Julius auf und ab. »Aber … wartet mal! Mir kommt da ein Gedanke! Oh, das ist ein sehr guter Gedanke.« Er wandte sich an die Frau und ihre Söhne. »Ich habe deinen Mann nicht einfach abgeschlachtet. Was verlor er denn so Kostbares? Das, was dir erhalten blieb! Das Leben! Durch seinen Tod hast du erst den Wert des Lebens begriffen. Das ist mein Verdienst. Du begreifst beispielsweise erst, was ein Ei wert ist, wenn du eines essen willst, und ein Unhold nimmt dir alle Eier weg. Aber dir sind noch – eins, zwei, drei in der Speisekammer geblieben, an denen du dich erfreuen kannst. Verstehst du? Wenn ich dir den Wert einer Sache bewusst mache, ist das genau das Gleiche, als würde ich dir diese Sache selbst schenken. Ich habe dir das Leben geschenkt, du einfältiges Weib. In gewisser Weise bin ich also deine Mutter.«
Julius reckte den Göttern eine Faust entgegen, aber bei der Bewegung durchzuckte ein stechender Schmerz seinen Nacken. »Nun?«, fauchte er.
Sie starrten ihn stumm an.
»Nun? Was habt ihr zu eurer Verteidigung vorzubringen?«
Eines der Kinder begann zu weinen. Die Frau erhob sich, und Slythe deutete ihre Miene richtig. Er schob sich zwischen sie und den Herzog. Julius klappte die Kinnlade nach unten. »Das ist doch die Höhe! Ich habe dir soeben ein ungemein kostbares Geschenk gemacht. Undankbare Schlampe! Du solltest vor mir niederknien! Du und deine verheulte Brut. KNIET NIEDER!«
Etwas später sahen Passanten, wie Slythe den blutverschmierten, humpelnden Julius mit sanfter Gewalt ins Freie und zum Wagen führte. »Keine Dankbarkeit!«, kreischte der Herzog. »Nicht die Spur von Dankbarkeit. Das gehört sich nicht, Slythe, das gehört sich einfach nicht. Bring mich zurück! Geben wir ihnen, was sie verdienen! Ich bin selten so brüskiert worden. Ich hätte gute Lust, einen Wutanfall zu kriegen, Slythe, aber ich habe solche Kopfschmerzen. Ein leises Schimpfen auf der Fahrt zurück zum Schloss muss genügen. O Ray, wach auf! Du versäumst garantiert eine beißende Bemerkung.«
Der Wagen rollte los und entfernte sich von dem Gehöft. Rotes Licht pulsierte durch seine Adern, als er langsam zum Schloss Eisennetz zurückfuhr. Der Herzog lag stöhnend auf den weichen Ledersitzen und hielt sich den Kopf.