KAPITEL 11

Lady Mira und Muse

Kaum jemand hatte Umgang mit Lady Mira, der Schwester des Herzogs. Slythe sah sie wohl öfter als die meisten anderen. Er hatte ihr noch nie Grund gegeben, ihn zu disziplinieren, und wusste daher weder, wie sie diese Aufgabe bewerkstelligen, noch, wie er eine Strafe hinnehmen würde. Er stand in ihren Diensten, weil sie ihn interessierte, weil Julius ihn amüsierte und weil er das prunkvolle Schloss einer Blockhütte in den Wäldern vorzog.

Als er an jenem Abend die Stufen zu ihrem Gemach hinaufstieg, hatte er zwar keine großen Bedenken, aber er war auf der Hut, denn Mira besaß magische Kräfte, über die ihm nichts Näheres bekannt war. Wie würde sie auf Adens Tod reagieren?

Er klopfte kurz an Miras Tür, drückte die Klinke herunter und sah sie am Fenster stehen, den Blick auf die Weite des Sternenhimmels gerichtet. Am fernen Horizont enthauptete eine Göttin gerade ihre Rivalin. Eine Blutfontäne, umgewandelt in ein Gefunkel heller Lichtpunkte, spritzte über das Firmament. Miras Gemach war größtenteils leer, bis auf eine Ecke, in der sie ihr Bett, ihren Standspiegel, einen venezianischen Nachttisch und einen Kleiderschrank aus Massivholz aufgestellt hatte, alles Möbel mit harten, klaren Linien. In dem Raum herrschte eine Kühle wie nirgendwo sonst in Schloss Eisennetz. Die Nacht strömte durch das Fenster herein, und die Sterne wirkten so nahe, dass man das Gefühl bekam, man müsste nur den Arm ausstrecken, um einen davon wie einen Diamanten vom Himmel zu holen.

In einem großen Glasgefäß zu Miras Füßen wallte schwarzer Nebel, die Ausscheidungen der Traumenergie, die sie schluckte. Fahlblaues Haar hing ihr offen auf die Schultern – offen, aber dennoch so sorgfältig frisiert, dass sich jede Strähne genau da befand, wo sie hingehörte. Das Kleid, das sie trug, betonte die Rundungen ihrer Hüften und Brüste. Ihre Absätze hallten laut auf dem Steinboden wider, als sie sich zu ihm herumdrehte. »Was ist geschehen?«, fragte sie. »Der Weltenmacher schrie vor Schmerz laut auf.«

»Ich habe Aden getötet«, entgegnete Slythe. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und schlug die Beine übereinander. Dann holte er ein Messer aus seinem Ärmel, spuckte auf die Klinge und begann es mit einem Lappen zu polieren. »Ihr wisst, von wem ich spreche, Mira?«

»Beantworte meine Frage – und zwar möglichst vollständig!«

Slythe zuckte mit den Schultern und berichtete ausführlich, was sich zugetragen hatte. »Sein Leichnam löste sich in Farbpfützen auf, die im Gras versickerten«, schloss er. »Dann kamen die Dragoner. Ich starrte sie so drohend an, dass sie nach einer Weile den Rückzug antraten.«

Mira hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Legt mein Bruder des Öfteren ein derartiges Verhalten an den Tag?«

»Allerdings. Sein Ausraster im Drogenrausch bereitete mir mehr Sorgen als diese toten Bauersleute. Er sagte etwas wie: ›Ferne Dörfer gehen zugrunde, obwohl so viel zu essen da ist!‹ Das war für mich mit ein triftiger Grund, den Farmer umzubringen.«

»Aber die Familie des Farmers hörte die Worte ebenfalls, und die hast du am Leben gelassen?«

»Ich glaube, in dem Durcheinander ist der Satz nicht weiter aufgefallen, Lady.«

Miras Züge verkrampften sich. Sie kniete neben dem großen Gefäß nieder und riss den Mund auf wie eine Schlange. Ein grauenhafter Laut drang aus ihrer Kehle, als sie einen dünnen Strom schwarzen Lichts erbrach, der sich aufblähte und dann wabernd in das Glas senkte. Starr wie ein Roboter sagte sie: »Slythe! Heute Nacht tötest du die übrigen Mitglieder dieser Familie!«

Wieder zuckte Slythe mit den Schultern. Er schob das Messer zurück in die Schlaufe seines Ärmels, holte ein anderes hervor und begann es ebenfalls zu polieren. »Lady, was befürchtet Ihr von den Leuten, wenn sie die Wahrheit kennen?«

Mira wischte sich einen dunklen Speichelfaden vom Mundwinkel. »Wir verloren letzte Nacht einen Großteil der Armee. Torak verschwieg mir das, doch ich fand es selbst heraus. Die Kirche hat in den Tiefen von Days Past einen ganzen Schwarm Dragoner stationiert. Selbst wenn du zehn von ihnen außer Gefecht setzen könntest, gäbe es mindestens fünfzig weitere in anderen Verstecken.«

»Was geschah mit der Armee?«

»Weißt du das nicht? Das Vergessen rückte näher. Unheimlich schnell. Unsere Welt hat bestenfalls noch die Größe einer Insel. Eine Frage der Zeit, bis das allgemein bekannt ist. Vielleicht hat es sich auch schon herumgesprochen. ›Ferne Dörfer gehen zugrunde‹, wie Julius sagte, weil sie ihres Lichtes beraubt wurden. Wir schnitten einige der unterirdischen Tunnel ab, die zu einem Ort namens Hammerfall führten. Die Realität dort zerbröckelte. Das Ganze ereignete sich zum Glück so weit weg, dass es niemandem auffiel. Warst du heute Abend im obersten Gemach?«

»Nein, Mira.«

»Ich schon. Weniger Land müsste mehr Traumlicht bedeuten. Aber der Traum lieferte weniger Licht. Weit weniger. Gerade genug, um den Rest der Welt zu versorgen. Ich hatte mit einem gewaltigen Überschuss gerechnet. Weißt du, was jetzt geschieht?«

»Nein.«

»Da wir kein Heer mehr besitzen, werden wir einen Großteil des ankommenden Lichts benötigen, um Waffen herzustellen, bevor die Kirche von unserer Schwäche erfährt. Nahe Dörfer wie Somerset können keine Energie mehr erhalten und werden zugrunde gehen. Das muss geheim bleiben, bis wir genug Waffen besitzen, um einen Aufstand niederzuschlagen.«

Slythe beobachtete sie mit neu erwachtem Interesse. Der Gedanke an einen Aufstand der Uhrwerk-Leute wäre ihm verrückt vorgekommen, hätte ihn nicht Mira ausgesprochen. Sie war alles andere als verrückt. »Der Junge«, sagte sie. »Was war er?«

»Eine von Muses Schöpfungen.«

»Du bist auch eine von Muses Schöpfungen. Auf welche Weise unterschied er sich von dir und den anderen?«

»Irgendwie hob er sich von allen Schauspielern ab, die ich kannte und kenne. Und doch war überhaupt nichts Auffallendes an ihm. Er hatte lediglich ein paar sonderbare Ansichten.«

Mira ging im Zimmer auf und ab. Das Hämmern ihrer Schritte klang irgendwie zu laut für eine so schlanke, zierliche Frau. »Heute Nacht erschien wieder der gleiche Traum«, sagte sie. »Torak erwähnt das mit keiner Silbe, als wäre es mir entgangen. Glaubt er denn, ich schaue nie aus dem Fenster? Seit vier Nächten der gleiche Traum. Wusstest du das?«

»Ich hatte keine Ahnung.«

»Dennoch scheinst du weder überrascht noch sonderlich entsetzt zu sein. Warum nicht?«

Slythe zuckte mit den Schultern. »Angst war mir von jeher fremd. Wenn die Welt dem Untergang geweiht ist, dann kann ich nichts tun, um das verhindern. Also rege ich mich nicht weiter auf.« Sie lachte spöttisch, und er fragte sich, was sie in diesem Moment bewegte. Er beobachtete sie eine Weile, ehe er weitersprach. »Ihr fürchtet keine Rebellion des Volks, Lady. Aber irgendetwas bedrückt Euch.«

Mira drehte sich um und musterte ihn scharf. Winzige Linien in ihrem glatten Gesicht verrieten ihm, dass sie beunruhigt, wenn nicht gar verärgert über seine Kühnheit war. Er hielt ihrem Blick stand.

»Was würden sie tun, Slythe, sie alle, wenn sie wüssten, was ich jetzt im Sinn habe? Dass ich beabsichtige, die Energie zu horten, die ihnen Substanz und Leben verleiht?«

Slythe schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nichts von diesen Dingen. Aber selbst wenn es anders wäre, würden sie nichts unternehmen. Beliebt Ihr zu scherzen, Mira? Sie sind allesamt Insekten.« Slythe warf das Messer spielerisch hoch, fast bis an die Decke, und fing es am Griff wieder auf. »Falls es dieser ›Aden‹ war, der Euch Furcht einflößte, so könnt Ihr beruhigt sein. Es gibt ihn nicht mehr. Außerdem glaube ich, die Natur Eurer Furcht zu kennen. Die Geschichte sollte endlich ans Licht kommen – das war es, wovor Ihr Angst hattet. Aber welche Geschichte kann schon erzählt werden, wenn unser Schöpfer den Verstand verloren hat? Keine, außer einem Bericht vom Untergang der Welt. Denn genau den erleben wir im Moment. Ihr wollt nur sicherstellen, dass Ihr die Letzte seid, die hier zerfällt und verrottet. Das geht in Ordnung. Falls Aden die Entwicklung aufhalten sollte, so kam er zu spät. Er hätte nichts geändert.«

»Das erfahren wir jetzt nicht mehr«, sagte sie.

»Richtig.«

Sie starrte ihn mit eisiger Miene an. »Was wäre, wenn er zurückkehrte?«

»Von den Toten?« Er lächelte. »Das wäre eine Großtat. Ich würde ihn wohl fragen, wie es im Jenseits aussieht.«

Wieder bildeten sich feine Fältchen auf ihrer Stirn und um den Mund. Offensichtlich fühlte sie sich von ihm verspottet und ärgerte sich darüber. Arme Mira, dachte Slythe. Du wurdest erschaffen, um in den Kampf zu ziehen und Siege zu erringen. Aber jetzt gibt es keine Ländereien mehr zu erobern, keine Feinde zu unterwerfen. Er stand auf und wandte sich zum Gehen. »Ich sollte diese Familie noch vor Anbruch des neuen Tages auslöschen«, sagte er.

»Slythe, was würdest du tun, wenn ich dir den Befehl erteilte, Muse zu töten?«

Slythe drehte sich nicht um. »Es ließe sich bewerkstelligen«, sagte er.

»Aber du würdest dich weigern?«

Eine Pause. »Ich weiß nicht.«

»Darf ich fragen, weshalb du zögerst, Slythe? Weil du nicht an einen Erfolg glaubst?«

»Fragen dürft Ihr natürlich.« Er glitt durch die Tür nach draußen.

Mira beugte sich wieder über das Gefäß und würgte stöhnend den nächsten Schwall schwarzen Nebels hervor. Dann ging sie zu ihrem Kleiderschrank und holte aus einer Schublade einen kleinen Glasflakon, gefüllt mit dem weißen Licht, das nun spärlicher denn je zuvor durch die Rohrleitungen des Schlosses tröpfelte. Sie entfernte den Korkstöpsel, setzte den Flakon an die Lippen und schluckte. Licht, Energie und Kraft durchströmten ihr Blut; Realität, die sie gestalten konnte, die sie war. »Keine Feinde zu unterwerfen«, murmelte sie spöttisch und schüttelte den Kopf. Slythe wusste nicht, dass sie die Gabe besaß, seine Gedanken aufzunehmen.

Früher einmal war es möglich gewesen, Feinde zu unterwerfen und Ländereien zu erobern. Aber sie war zu spät gekommen. Wie Aden. Die Welt war eine schwindende Erinnerung.

Eine Meile von Days Past entfernt befand sich ein zweistöckiges, graugrün gestrichenes Holzhaus, das nahezu perfekt mit dem Hang im Hintergrund verschmolz. Vom Erdgeschoss aus gelangte man in eine tiefe Kaverne, die Muse in ein Atelier verwandelt hatte. Zwischen Keilrahmen, Papierblöcken und Farbtuben lagen Pinsel, Lappen, gesprungene Paletten und Bleistiftskizzen verstreut. Es roch nach Terpentin und anderen schädlichen Chemikalien. Hier stand Muse vor einer weiteren leeren Leinwand, wie an jenem Tag, als die Welt zum ersten Mal Gestalt angenommen hatte, und fragte sich, was man wohl noch Neues mit den gleichen alten Farben, den gleichen Linien und Winkeln und Kniffen hervorbringen könne.

Manche der Gemälde, die an den Wänden hingen, dienten praktischen Zwecken, wie der Vampir, gegen den Mister Gorr gekämpft hatte, als er hier eingebrochen war, um Aden zu stehlen. Nun starrte er reglos aus seinem Rahmen, die Fänge verborgen und immer noch leicht verlegen, weil er als Hüter der Kaverne versagt hatte.

Außer dem Vampirgemälde gab es Bilder von Kontinenten, die der näher rückende Tod verschlungen hatte. Dann waren da alle möglichen Geschöpfen und Menschen – manche normal und manche seltsamer als seltsam –, die in ihren Rahmen vor sich hin dämmerten und nur gelegentlich erwachten, mit ihr plauderten und anschließend wieder Jahrzehnte und länger in einen tiefen Schlaf versanken. Gestern war der König mit der verrosteten Dornenkrone plötzlich aufgeschreckt, hatte gehustet, auf den Boden gespuckt, nach der Zeit gefragt und »Erst?« gemurmelt. Gleich darauf hatte er die Augen geschlossen, diesmal wahrscheinlich für immer. Der Gnom mit den scharfen Diamantzähnen neben ihm hatte sich noch nie gerührt. Jeder von ihnen hätte erwachen, aus seinem Rahmen treten und ein Leben in dieser Welt fordern können. Aber sie hatten es schlicht und einfach nicht getan – warum, das wusste sie nicht. Manche wollten erwachen, andere nicht. Das war alles.

Droben bot das Haus einiges an Bequemlichkeit, darunter viele Dinge, die sie Toms Erfindungsreichtum verdankte: die Liege, die sie umfing wie die Arme eines Liebhabers; die Hängematte, die jedem Schläfer Märchenträume schenkte; ein Bad, das den Benutzer eine Stunde lang in warmes Wasser verwandelte (das Nonplusultra an Entspannung, aber ein Problem, wenn jemand an der Tür klopfte); und eine Speisekammer, die sich von selbst mit Delikatessen füllte. (Auf diese Weise blieben Muse Einkaufsfahrten in die Stadt und Begegnungen mit abergläubischen Einheimischen erspart, die sie wie die Pest mieden.)

Sie verbrachte ihre Tage nahezu gedankenleer. Intuition lenkte ihre Schritte durch das Haus ebenso wie die Pinselstriche ihrer Hand. In diesem Zustand der Lossagung vom Fluch des Denkens hatte sie darauf gewartet, dass alles endete und das Vergessen einsetzte.

Dann hatte sie eine tiefe Melancholie und Trauer bemerkt, die aus der Weltmaterie selbst aufstieg, so deutlich spürbar wie Kälte oder Wärme, wie die stärkste Energie, die je auf sie eingewirkt hatte. Ihre Hände zitterten, als sie Aden formten. Irgendwie wurde sie plötzlich von dem Gefühl übermannt, dass trotz allem – trotz der verronnenen Zeit und der verlorenen Weltteile – mit dem Untergang der Dinge etwas begonnen hatte.

Etwas hatte begonnen oder sich zumindest verändert, und sie kam nicht dahinter, was es war. Ende, Anfang? Sie rechnete halb mit dem Unberechenbaren, und ein Besuch des Meuchelmörders gehörte ganz sicher in diese Kategorie. Die Gemälde an der Wand hatten nichts von seinem Eindringen bemerkt. Der Vampir schlief mit dem Kopf nach unten in seinem Rahmen, und sein Seidenkittel hob und senkte sich bei seinen tiefen Atemzügen. Ich sollte einen Wachhund malen, dachte sie.

Slythe hatte ein Fenster im Obergeschoss aufgedrückt und sich wie ein kalter Lufthauch durch das Haus geschlichen, so sacht, dass keine einzige Bodendiele unter seinen Sohlen knarrte. Nun hockte er hinter ihr auf dem Fenstersims und beobachtete, wie sie die leere Leinwand anstarrte. Sie spürte seinen Blick, als bohrte sich etwas in ihren Rücken. »Was soll ich malen?«, fragte sie. »Vielleicht Messer, die durch die Luft fliegen?«

»Inspiriere ich dich?«

Sie schluckte. »Du hättest deinen Auftrag im Ernstfall längst erledigt, nicht wahr, Slythe?«

»Ich bin nicht hier, um dich zu töten, obwohl dieses Ansinnen an mich gerichtet wurde. Du musst den Vampir nicht wecken. Ich will nur reden.«

»Einfach anzuklopfen, kam dir wohl nicht in den Sinn?«

»Nein.«

Muse seufzte. »Du willst also reden. Worüber?«

»Über dein jüngstes Werk.«

»Welches? Aden?«

»Ja. Gibt es noch weitere?«

Angst durchzuckte sie, als sie an die Gemälde dachte, die sie in der Lichtung aufgestellt hatte. Kannte er diese Bilder, und war er gekommen, um Antworten zu fordern, die sie nicht geben konnte? »Ich habe immer einiges im Entstehen. Aber bleiben wir bei Aden.«

»Was war er?«

Muse drehte sich langsam um und schaute ihm in die Augen. Sie erinnerte sich, dass sie ihre Farbe ausgewählt und mit dem Pinsel aufgetupft hatte, ein blasses Grün anstatt des Grautons, der ihr ursprünglich vorgeschwebt war. »Weshalb die Vergangenheit?«

Slythe zog die Augenbrauen hoch. »Ein Versprecher. Was kümmert dich das? Dir sind deine Werke doch gleichgültig, sobald du sie vollendet hast.«

Sie musterte ihn mit Abscheu. »Die meisten schon. Sag, Slythe, hast du ihn getötet?« Die Frage enthielt eine versteckte Drohung, zu seinem und zu Muses eigenem Erstaunen.

Er zuckte leicht mit den Schultern. Die Geste verriet nichts von der heftigen Verwirrung, die plötzlich in ihm aufstieg, obwohl Muse vage spürte, was in seinem Innern vorging. »Niemand befahl mir, ihn zu töten. Hätte ich es tun sollen?«

Muse wandte sich von ihm ab und stippte ihren Pinsel leicht in die Palette auf ihrem Arm. Mit einer schwungvollen Bewegung zog sie eine schnurgerade schwarze Diagonale über die Leinwand.

»Im Schloss wissen sie von Adens Existenz«, sagte Slythe. »Mira misst ihm einige Bedeutung bei. Weißt du, wofür Aden sich zu halten scheint?« Als sie keine Antwort gab, fuhr er fort: »Für den Enkel des Weltenmachers. Du weißt, wie die Kirche das aufnehmen wird. Wenn sie ihm glauben, müssen sie ihm eine hohe Machtposition zubilligen. Wenn nicht, dann hat er sich in ihren Augen einer beispiellosen Ketzerei schuldig gemacht. Genau wie du, falls er preisgibt, dass du ihn erschaffen hast. Sein Schicksal scheint vorgezeichnet, so oder so. Vielleicht hättest du ihn mit fest verschlossenen Lippen malen sollen.«

»Es ist mir verdammt egal, was die Obrigkeit von mir denkt, ob Pfaffen oder Schlossherren. Oder was du von mir denkst.«

Muse sah nicht den Blick, der über die Züge des Meuchelmörders huschte, das unbekannte Gift, das die scharfen Falten und Linien seines Gesichts noch härter erscheinen ließ. »Es ist dir verdammt egal, was aus ihm wird.«

»Und ich weiß, dass diese Tatsache Miras Interesse wecken wird. Vielleicht auch ihre Angst, wenn ich sie richtig einschätze.« Ihr Arm führte den Pinsel gewandt über die Leinwand. Wilde Grün- und Rot-Schwaden quollen aus der schwarzen Diagonale, wie aus einer Wunde, die farbiges Licht blutete. Sie sah sofort, dass sie nur ihre augenblickliche Gemütslage gemalt hatte. Verschwendete Leinwand, dachte sie. »Die Zerstörer sind also nervös«, sagte sie. »Schön. Ich habe eine Botschaft für sie: Aden unterscheidet sich von allen anderen Wesen, die ich erschaffen habe. Und er hat nichts Außergewöhnliches an sich. Eher einen gewissen Einfluss. Behalte ihn im Auge. Beobachte, wie die Menschen in seiner Nähe reagieren. Pass auf, ob sie ihrer Rolle treu bleiben oder ob sie sich verändern. Ob etwas Neues beginnt. Hast du einige Zeit mit ihm verbracht? Hast du einen Wandel bemerkt? Denk darüber nach. Willst du wissen, was ich glaube? Ich glaube, dass der alte Mann uns wieder beachtet.«

Muse malte noch eine Weile weiter. Sie versuchte ihr nutzloses Werk zu retten, indem sie es in ein exotisches Insekt verwandelte, eine Art Schmetterling. Ihr Arm fuhr rasch über die Leinwand, während das Ding Gestalt annahm, fast als gehörte er nicht zu ihr – als befreite sie mit ihren Pinselstrichen einen lange vergrabenen Gegenstand vom Staub der Zeit. Sie wartete gereizt auf die nächste Frage, aber die Frage kam nicht, und als sie sich umdrehte, war der Meuchelmörder verschwunden.

Stirnrunzelnd wandte sie sich ihrem Gemälde zu, sah es eine Weile an und zerriss es dann. Glaubte sie, was sie Slythe erzählt hatte? Ihre Gedanken wanderten wieder in die Lichtung, zu den letzten Werken, die sie dort hinterlassen hatte. Die Intuition sagte ihr, dass sich bald eines der Monster erheben würde. Sicherlich. Sie konnte den Tod der Welt nicht eigenmächtig aufhalten, aber sie konnte ihm eine Gestalt verleihen, ihm einen Körper und einen freien Willen geben, so wie sie es mit dem Wesen von Slythe getan hatte. Das würde ihn weder verwandeln noch besser machen. Aber vielleicht, ganz vielleicht, würde er wie Slythe dazu neigen, eine Weile sein Ziel aus den Augen zu verlieren.