KAPITEL 4
Schloss Eisennetz
Der Ratgeber des Herzogs eilte mit großen Schritten über das blaue Pflaster der Straße, vor sich hin murmelnd und seine Fingernägel kauend. Die Schlange beschwerte sich nicht über den Schweißgeruch, obwohl er sie wieder unter die Achsel geklemmt hatte. Der Traum war ein grünlicher Klecks jenseits des Flusses, der sich unscharf vor dem Sternenhimmel abhob und immer mehr verwischte, je schneller er dem Schloss entgegenschwebte.
Torak runzelte die Stirn. In den vergangenen drei Nächten waren die Träume stets gleich gewesen. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Nicht ein einziges Mal. Das bedeutete etwas Besonderes, aber er wusste nicht, was.
Natürlich war es nicht nötig, dass er die Träume an ihr Ziel geleitete. Entgegen seinen Behauptungen hatte der Prozess nichts mit ihm zu tun. Diese nächtlichen Spaziergänge boten ihm jedoch die Möglichkeit, das Schloss zu verlassen und wenigstens zeitweise den Launen und Klagen des Herzogs zu entfliehen.
Es war ein kurzer Ausflug. Das Dorf Days Past befand sich zu seiner Rechten, still, ohne ihn wahrzunehmen, im Schlaf darauf wartend, dass er die Nachtuhr neu aufzog. All die braven Uhrwerkmenschen lagen gehorsam in ihren Betten. Nur ein paar einsame Seelen würden wachen und merken, wie langsam die Nacht verging.
Der Traum war bereits in Schloss Eisennetz eingetroffen, das sich jetzt am leicht abfallenden Horizont erhob. Elektrische Entladungen zuckten wie grüne Blitze von seiner hohen Krone und jagten die Mauern entlang in die Tiefe. Ihr Licht erhellte das gigantische Eisengitter des Schlosses, das sich wie ein Spinnennetz über den großen Burghof und die tiefer gelegenen Vorhöfe spannte. An manchen Stellen war es grob gewebt, an anderen dünn wie ein Seidengespinst. Seine äußeren Metallfäden erfassten sämtliche Brüstungen und Türme des Schlosses. Wie stets um diese Nachtzeit wirkte das Eisengebilde wie eine Skulptur aus kostbarem schwarzem Glas, in der sich eindrucksvoll die Sterne spiegelten. Der Anblick flößte solche Ehrfurcht ein, dass für kurze Zeit sogar ein Kult zur Verehrung des Bauwerks entstanden war.
In der Morgendämmerung würde das Schloss all seinen Glanz verlieren und sich in eine Ansammlung schwarzer Metallteile verwandeln. Und am Tage glaubte kein Mensch, dass die Existenz der Welt vom Schloss abhing wie ein Körper von dem unscheinbaren roten Muskel in seiner Brust.
Früher war es nicht nötig gewesen, das Leben der Welt künstlich zu verlängern. Jetzt aber war der Weltenmacher verschwunden, dem Wahnsinn verfallen, dem Tod nahe oder bereits gestorben (niemand wusste es genau). Er hatte seine Schöpfung im Lauf der Jahrhunderte immer mehr verkümmern lassen, bis buchstäblich über Nacht das Schloss erschienen war. Und mit ihm die Träume. Das Schloss zog die Träume an, Nacht für Nacht.
Torak achtete kaum auf das grelle Spektakel in Grün, das lange Schatten hinter ihm auf die Straße warf. Er beschwor das Bild von Aden herauf, der, von der Strömung mitgerissen, hinter einer Biegung des Flusses verschwand. Er spuckte den letzten Fingernagel aus und murmelte: »Wasser. Tödlich! Dabei hatte ich ihn gewarnt. Aber sie hören ja nie, diese jungen Leute. Nie.«
»Du hast dein Bestes getan«, meinte die Schlange gähnend.
»Kam mir seltsam bekannt vor«, fuhr Torak fort und zerrte nervös an seinem Schnurrbart. »Und … der Enkel des Weltenmachers? Nein! Absurd. Vergessen wir das! Kein Wort darüber. Hörst du? Du wirst kein Wort darüber verlieren. Ich will nichts von diesem Thema hören. Absolut nichts.«
Die Schlange schwieg.
Torak blieb mitten auf der Straße stehen und setzte mehrmals zum Sprechen an. Ein Schauder durchlief ihn. »Also gut«, kreischte er und sah die Schlange wütend an. »Also gut, ich gestehe es. Dieser junge Mann. Er beunruhigt mich. So. Bist du jetzt zufrieden? Zufrieden? Na? Heraus mit der Sprache! Halte nichts zurück! Du liebst es doch, die Dinge zu bewerten. Tu dir keinen Zwang an!«
Die Schlange verdrehte den Hals und schaute zu ihm auf. »Beunruhigt?«, fragte sie träge.
»Beunruhigt. Besorgt. Angsterfüllt. Ja? Hm? Ja?«
»Ich verstehe.«
»Ich nehme an, du bist jetzt stolz auf dich? Weil du ihn zuerst erkannt hast? Aus den Träumen, sagtest du? Also, wie kommst du auf diesen Gedanken, verdammt noch mal? Was macht dich so sicher?«
»Das Muttermal an seinem Hals. Ein kleines, längliches Muttermal. Es fiel mir auf, als ich an ihm vorbeiglitt. Wenn der junge Mann abends in den Träumen erschien …«
»So sicher! So sicher bist du also!« Torak packte die Schlange mit beiden Händen, so fest er konnte. Sie wurde schlaff wie Gummi, redete aber weiter: »… wenn er abends in den Träumen erschien, war dieses Muttermal gut zu erkennen. Er tauchte als Kind auf, als Jugendlicher, als junger Mann, einmal sogar als Baby in den Armen des Weltenmachers. Damals sagte er, ich zitiere: ›Dada!‹, und griff nach der Brille des Alten. Das Muttermal war jedes Mal deutlich zu erkennen.«
»Gah!«
»Gah?«
»Ein Ausruf, verdammt noch mal! Ein Ausruf der Verzweiflung!«
»Er ist auch auf einigen der Kunstwerke zu sehen, die von der Kirche beschlagnahmt wurden. Sie befinden sich in den Kellergewölben des Schlosses, wenn du sie näher betrachten möchtest.«
»Ein höchst willkommener Tipp. Das war sarkastisch gemeint. Nun lass mich endlich in Ruhe mit dieser verdammten Ähnlichkeit … hör zu, kein Wort davon zu Julius! Kein Wort! Das Ganze ist ein Omen. Im Ernst. Deshalb kein Wort!« Das Schloss ragte düster vor ihnen auf. Alles war in das fahlgrüne Licht des Traums getaucht. Torak warf einen letzten Blick zu dem Eisennetz hinauf, als sie die Zugbrücke erreichten. Funken sprühten, die Energie knisterte und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Der Traum hatte sich natürlich noch nicht aufgelöst. Der alte Mann stand wie zuvor lautlos schreiend in einem brodelnden Meer, obwohl die Szene allmählich unscharf wurde. Bald würden sich alle Einzelheiten verwischen, wenn der Traum in den obersten Gemächern des Schlosses verarbeitet und das weiße Licht daraus gewonnen wurde, das Torak in einem kleinen Glasflakon mit sich führte, jene Leuchtflüssigkeit, die er nach Aden geworfen hatte. Sie war das Blut der Welt, das wie in das Wurzelgeflecht von Bäumen in ein weitverzweigtes unterirdisches Netz von Adern floss und auf diese Weise die Realität von Nightfall nährte und aufrechterhielt.
Die beiden Posten an der Zugbrücke schliefen. Er stand mit zuckenden Händen vor ihnen. Es gab keine Gefahren, vor denen sie die Brücke schützen mussten. Es gab genau genommen nicht die geringste Notwendigkeit für solche Posten, aber es war der Sinn einer Zugbrücke, bewacht zu werden. »Frechheit!«, schrie er. »Äh – doch wohl eher Faulheit! Ihr Schweine! Ihr schnarchenden Schweine!« Einer von ihnen rollte sich furzend auf den Bauch. Torak biss sich auf die Fingerknöchel, als er an ihnen vorbeiging.
Die Luft im Innern des Schlosses vibrierte so stark von der Lebensenergie der Welt, dass ihr Summen Toraks Schritte auf den weißen Steinböden übertönte. Wo das unheimlich grüne Leuchten durch die Fenster einfiel, huschten Schatten über die hohen Wände. Es war ein Labyrinth, das Schloss, ein Gewirr aus Gemächern, Gängen und Geheimkammern. Viele existierten nur des Nachts und verschwanden am Tage, wenn das Schloss mit gewaltigem Knirschen schrumpfte und die Räume wie bei einem Erdbeben erschütterte.
Er erklomm eine Stiege, die von Wandfackeln erhellt wurde, und kramte mit seinen knochigen Fingern alle Taschen nach einem Bund Messingschlüssel durch. Er öffnete die Tür mit der aufgemalten Uhr. (Dahinter befand sich einer der Räume, die am Tage verschwanden.) Eine weiße Marmorsäule, eingebettet in den nackten Steinboden, trug eine Uhr von der Größe eines Speisetellers. Die Obsidian-Zeiger standen still. Torak drehte gereizt an einem seitlich vorstehenden Griff. Ein schwaches melodisches Tick-tack-tick erklang, als sich das Räderwerk der Uhr wieder in Bewegung setzte: Die Zeiger rückten vor, die Nacht schritt voran wie gewohnt. Noch blieben viele Stunden. Die Schläfer würden weder den kurzen Stillstand noch das Weiterwandern der Zeit bemerken.
Nachdem der Ratgeber des Herzogs die Tür des Uhrenzimmers versperrt hatte, nahm er seinen Weg über Treppen und durch Korridore, vorbei an dem Stockwerk, in dem sabbernd und schnarchend der Herzog schlief. Mit einem höhnischen Grinsen und einem leisen Schauder schlich er an den Gemächern von Slythe vorbei – an Slythe, dem Meuchelmörder, der seine Räume selbst tagsüber verdunkelte, obwohl er niemals schlief. Noch höher hinauf stieg Torak, in das oberste Gemach, wo ein grelles Leuchten die Umrisse der Tür markierte, die niemand außer ihm öffnen durfte. Ein halbes Dutzend Schlüssel schepperten und klirrten, ehe die schwere Tür aufschwang.
Ein gigantischer Trichter aus unzerbrechlichem Glas ragte von der Decke in eine Kammer, die teils aus Metall und teils aus Glas bestand. Das Licht in dieser Kammer zuckte und wand sich wie ein Blitz, der sich in einem Netz verfangen hatte. Die Kammer dröhnte und wummerte im Rhythmus eines schlagenden Herzens. Hier wurde der Traum in seine Bestandteile zerlegt, verarbeitet, umgewandelt. Ein Strom flüssigen Lichts ergoss sich durch Rohre in Bottiche. Alles war in Ordnung.
Dann jedoch fiel ihm etwas ins Auge. Er sog die Luft scharf durch die Zähne ein. Ein Zettel mit einer Botschaft war an die Wand neben der Tür geheftet. An die Innenwand des Raumes, zu dem nur Torak Schlüssel besaß und den niemand außer ihm betreten konnte!
Er riss den Zettel ab und erkannte sofort die makellose Schrift des Meuchelmörders:
Wusstest du, dass ich auch diese Schlösser knacken könnte?
Toraks Hände wetteiferten darum, die Notiz zu zerfetzen. »Ja, Botschaft angekommen, Mörderherz!«, schrie er. »Und sehr wohl verstanden. Du gönnst mir mein blödes altes Gemach und meine Schlüsselgewalt darüber, solange ich nicht auf dumme Gedanken komme und meinen Status vergesse, was? Erinnerst mich wieder mal daran, dass ich sterblich und bisher nur kraft deiner Gunst und Gnade am Leben geblieben bin. Danke, Slythe! Sei versichert, dass du uns gebührend eingeschüchtert hast und wir von nun an ängstlich zusammenzucken werden, wenn sich irgendwo ein Schatten regt!«
»Wie hat er es bloß geschafft, die Tür wieder von außen zu versperren?«, fragte die Schlange. »Ich bin beeindruckt.«
Torak ließ seine Blicke flüchtig durch das Gemach wandern, um sich zu vergewissern, dass der Meuchelmörder nicht in irgendeinem Winkel lauerte. Das Fenster stand offen. Der Unhold hatte die senkrechte Außenmauer des Schlosses erklommen und war in das Gemach eingestiegen. Der Gedanke machte Torak schwindlig. »Still!«, fauchte er. »Ich habe genug von deiner Schadenfreude! Meine Verärgerung bereitet dir Genuss!«
»Ganz und gar nicht.«
»Du triefst geradezu vor Genuss und heimlicher Schadenfreude! Kein Wort mehr, Kretin! Kein einziges Wort!«
Er ging zu der Kammer aus Glas und Metall und drehte zwei Zapfhähne über den dünnen Schläuchen zu, die seitlich aus der Kammer ragten. In ein breites Holzschaff tröpfelte Toraks privater Vorrat an flüssigem Licht, den er für »Forschungszwecke« beanspruchte. Zwei Bottiche links und rechts davon waren randvoll mit seinem Anteil der vergangenen Nacht gefüllt und warteten auf ihre weitere Verwendung. Da das Licht in den großen Behältern schwerelos war, konnte er sie selbst befördern, und so blieb sein Tun überwiegend geheim. Momentan benötigte er eine ganze Tagesration, um seine Kreationen lebendig und real zu erhalten, Kreationen wie den Triumphwagen des Herzogs und die Schlange, mit der er unterwegs seine Gedanken austauschte und lange Gespräche führte. Torak entwarf in seiner Freizeit viele ehrgeizige Projekte, die meisten zu seinem Vergnügen, einige aber auch für praktische Zwecke. Er hatte vor, sie alle zum Leben zu erwecken, ein Schöpfer, der Licht anstatt Lehm formte.
Der Meuchelmörder hatte wahrscheinlich recht, wenn er ihm zu verstehen gab, dass seine Freiheit nicht grenzenlos war. Er hatte entdeckt, dass man – unter anderem – Lebewesen entwerfen konnte, aber dieser Prozess war ungeheuer kostspielig. Die Erschaffung eines einzigen künstlichen Menschen kostete so viel wie der Unterhalt von hundert natürlichen Menschen. Die Energie, die Torak nachts für seine privaten Zwecke abzweigte, war längst außer Kontrolle geraten. Wahrscheinlich hatte er zahlreiche unterirdische Energieadern abgeschnitten und auf diese Weise viele ferne Länder ausgehungert und ausgerottet. Sein kleines Geheimnis.
Torak wusste auch von dem Phänomen, das die Soldaten als »Wall« bezeichneten. Und er hegte den Verdacht, dass er selbst diese Bedrohung verursacht hatte, als er den fernen Ländern ihre Energie entzog. Er konnte nicht ahnen, dass Gelehrte und Philosophen bereits Bücher über diese Barriere verfasst hatten, als sie sich noch weit weg von Schloss Eisennetz befand. Dass sie den Wall lange vor Toraks Geburt vorhergesagt hatten, zu einer Zeit, da die Welt noch viel größer gewesen war.
Die Weltenmacher-Kirche hatte jene Bücher, in denen der Wall noch »das Vergessen« hieß, längst verboten und verbrannt.
Wie gewohnt wartete Torak ab, bis der letzte Tropfen weißen Lichts durch die Kammer geflossen war, ehe er sich dorthin zurückzog, wo er den Großteil seiner freien Zeit verbrachte, an den Ort, von dem er seit seiner Kindheit geträumt hatte, nach dem er sich gesehnt hatte, ohne zu ahnen, dass es ihm eines Tages gelingen würde, ihn zu verwirklichen.
Sein Refugium hatte die Größe eines geräumigen Gemachs. Schlichte Holzstühle waren entlang der Wände aufgereiht. Sie umrahmten eine üppige Liege in der Mitte des Zimmers, auf der Torak nun seine langen, hageren Glieder ausstreckte, die Augen geschlossen und die Hände über der Brust gefaltet, die schwarz-rote Robe lässig bis über die Knie hochgeschoben. Ringsum saßen seine geliebten Schöpfungen: einundsechzig Menschen von unterschiedlichstem Aussehen, Alter und Maß, die einen in Luxusgewänder, andere wiederum in Lumpen gehüllt. Morgen würde ein Diener seines Vertrauens einen der vollen Bottiche hierher bringen und einen Schöpflöffel Licht über jeden der Sitzenden gießen. Jeder von ihnen wandte sich mit ruhigen, respektvollen Worten an ihn, und ihre Stimmen überlagerten sich zu einem gedämpften Kanon: »Es tut mir leid, Torak.«
»Es tut mir ganz entsetzlich leid.«
»Ich schäme mich so sehr für mein Verhalten in dieser Angelegenheit.«
»So schrecklich, schrecklich …«
»Verzeiht mir. Ich bereue mein Tun aus tiefstem Herzen.«
»Eine Entschuldigung von meiner Seite ist längst überfällig. Ich bitte ergebenst …«
Leise, ernsthaft, wie sanfte Wellen, die ans Ufer rollen. Obwohl diese Geschöpfe lebten, kannten sie nur Worte der Unterwürfigkeit. Der Ratgeber des Herzogs schwelgte in ihrem Singsang wie ein Süchtiger, der nach einem langen, brutalen Entzug durch Zufall auf einen gewaltigen Vorrat seiner Lieblingsdroge gestoßen war.
»Bedaure. Bedaure unendlich, edler Ratgeber.«
»Nicht Eure Schuld, ganz und gar nicht. Ich flehe Euch um Vergebung an …«
Als Torak daher ein Klopfen vernahm, war sein Ärger beträchtlich. Die Entschuldigungen verstummten. Alle Köpfe wandten sich der Tür zu.
Torak erhob sich und strich seine Robe glatt. »Wer immer es wagt, mich hier zu stören, hat hoffentlich eine gute Rechtfertig…«
»Ein Bote. Von Einheit Neunundzwanzig B. Er wartet unten.« Der Diener hatte seine Stimme mit einem fremdländischen Akzent verstellt. Seine Schritte entfernten sich hastig, ehe Torak wutentbrannt die Tür aufreißen konnte. Er tat es und rannte in den Korridor hinaus, um den Übeltäter zu erwischen, doch dem war es bereits gelungen, im Schutz der Dunkelheit zu verschwinden. »Ich habe dich genau erkannt!«, bluffte Torak. »Dreißig Peitschenhiebe! Melde dich morgen aus freien Stücken, oder die Strafe fällt noch schlimmer aus!«
Nach dem langen Weg in die Tiefe traf er einen Boten jener Truppe an, die er auf einen sinnlosen und, wie er hoffte, todbringenden Marsch nach Südwesten geschickt hatte. (Es war die bei Weitem schlechteste Einheit des Heeres.) Der Rest der Armee war ebenfalls in allen Richtungen unterwegs, und zwar einzig und allein zu dem Zweck, das Vorrücken des Walls zu vermessen. Er kam langsam und gleichmäßig von allen Seiten näher, zwei Schritte pro Jahr, mit seltenen Abweichungen. Schloss Eisennetz befand sich genau in der Mitte des schrumpfenden Territoriums. Wenn der Wall seine derzeitige Geschwindigkeit beibehielte, würden sich Toraks Urururenkel (falls er je welche bekam, dachte er, und seine Wange zuckte nervös) um eine Lösung des Problems bemühen müssen. Falls es eine Lösung gab.
Er hatte nicht mit einer Botschaft der Armee gerechnet. Weder in dieser Nacht noch in näherer Zukunft. Eine Brieftaube alle tausend Meilen. So lautete seine Order. Er machte ein grimmiges Gesicht und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als er auf den Boten zuging. Der Soldat legte, wie es sich gehörte, eine gebührende Scheu an den Tag. (Aber zu seiner Verblüffung empfand Torak diesmal fast eine leise Trauer über die Reaktion des Mannes. Wäre ein freundliches »Hallo, wie geht’s?« nicht hin und wieder eine nette Abwechslung? Er notierte im Geiste, bald einmal ein Geschöpf zu erschaffen, das diese Lücke füllte.)
Der Bote (er war nicht wirklich scheu oder ängstlich; das bildete sich Torak nur ein) keuchte noch von seinem Lauf zum Schloss. Er hatte eine Hand auf das Stiegengeländer gelegt und hielt den Kopf gesenkt. »Folgende Nachricht, werter Ratgeber, Sir«, begann er. »Fluss ruft um Hilfe. Will, dass Äste an Land gezogen werden. Grund unbekannt. Ende.«
Torak schwieg eine ganze Weile, während er über den Sinn der Botschaft nachdachte. Der Soldat trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, kratzte sich am Kopf und fügte hinzu: »Der Sergeant meinte, es könnte sich um ein Omen Klasse Zwo handeln, Sir.«
»Hm. Wollen wir deine Worte mal extrapolieren, wenn du gestattest. Kann es sein, dass eine Person im Fluss um Hilfe rief? Dass diese Person sich eventuell an einem Ast festklammerte und darum bat, dass er – und damit die Person selbst – an Land gezogen werde? Dein Sergeant ist dafür bekannt, dass er vorschnell Boten losschickt, ehe er alle wichtigen Fakten erfasst hat. Ich entsinne mich, dass er einmal einen Angriff meldete, als er ein Donnergrollen über der Ebene mit Kanonenlärm verwechselte. Er entsandte einen Läufer ins Schloss – dich, habe ich recht? – und forderte Verstärkung an. Die ihm irgendein Esel hier tatsächlich schickte. Dabei hatten wir, Herrgott noch mal, einen wolkenverhangenen Tag, und Gewitter waren vorhergesagt!«
»Sir, ich überbringe nur meine Botschaft«, sagte der Soldat.
Torak, der bereits blass war, wurde noch eine Spur blasser. »Und außerdem – dir fehlt ein Arm! Was ist geschehen?«
Der Soldat berichtete, wie die Einheit auf die Barriere gestoßen war. Torak marschierte auf und ab und ballte die Hände zu Fäusten. Sein Wangenmuskel begann zu zucken. »Und befand sich der Wall in Bewegung?«
»Nein, Sir. Keine sichtbare Bewegung, Sir.«
Toraks Stimme klang jung und verängstigt. »Willst du damit sagen, dass er jetzt weniger als zwei Tagesmärsche von … hier entfernt ist?«
»Jawohl, Sir.«
»Willst du damit sagen …« Er begann an den Fingern abzuzählen. »Warte! Letzter Bericht vorgestern … heißt das, dass der Wall mehr als sechstausend Meilen gewandert ist? In zwei Tagen? Oder einem Tag? Oder über Nacht? Oder innerhalb weniger Sekunden? Oder … was denn nun? Was denn nun, du Wurm? Du Ratte! Folter für dich! Was denn nun?«
»Sir, ich überbringe nur meine Botschaft. Fluss ruft um Hilfe. Will, dass Äste an Land gezogen werden. Grund unbekannt.«
»Deine Botschaft, du kleines Arschloch, lautet, dass wir nur noch ein paar Tage zu leben haben? Eine Woche, wenn wir Glück haben? Oder eine Sekunde, wenn nicht? Die ganze Welt steht vor dem Untergang?«
»Sir, ich werde nicht fürs Denken bezahlt.«
»Er!«, kreischte Torak, als ihm plötzlich Aden in den Sinn kam. »Er!«