KAPITEL 2
Die Ratgeber des Herzogs
Er hätte schwören mögen, dass sich das riesige Sternen-Standfoto in dem kurzen Moment des Wegschauens kaum merklich verändert hatte. Er senkte den Blick, hob ihn – und in der Tat wanderten die Konstellationen wie in einem Stummfilm einen winzigen Ruck weiter. Sozusagen in Zeitlupe hob sich das Schwert der einen Königin und traf die Klinge der Gegnerin. Hinter den beiden Herrscherinnen rollten zwei Heere aufeinander zu, kriegerische Schwärme aus gleißenden Lichtpunkten.
Dann fiel Aden etwas ein, und er lachte. Die Sterne! Er wusste, wo er sich befand! Er kannte diesen Ort! Da tauchte er auf, in einer jener einzelnen Erinnerungen, die sich klar aus dem Nebel abhoben: Aden ist fünfzehn, vielleicht sechzehn. Sein Großvater, mittlerweile im Ruhestand, sitzt in seinem Arbeitszimmer. Aus einem kleinen Radiogerät dringt klassische Musik. In einem weißen Trikothemd beugt er sich über seinen Schreibtisch, kritzelt ein paar Zeilen, lehnt sich zurück und starrt nachdenklich aus dem Fenster, putzt die Brille mit dem Saum des Unterhemds.
Über einer Schreibmaschine sind Papierbögen an die Wände geheftet. Notizbücher und Skizzenblöcke liegen überall verstreut. Aden, jung und schlaksig, mit einem ersten Bartanflug, betritt den Raum und betrachtet die mit großer Sorgfalt und Genauigkeit gezeichnete Wandkarte: Wälder und Gebirge, mit Bleistift eingetragen, der Maßstab in Meilen am Seitenrand vermerkt. »Nightfall« steht unter der Karte. Kleine Dreiecke markieren die Hausdächer von Dörfern. Eines heißt Somerset, eines Hammerfall – und da ist Days Past.
Days Past. Die Worte, die er auf der Urkunde in Mister Gorrs Diele gesehen hatte.
Nein – genau genommen wusste er nicht, wo sich dieser Ort befand. Er wusste nur, dass es ein Ort war, über den sein Großvater zu schreiben begonnen hatte. Old Herbs Hobby im Ruhestand.
Die Sterne. Der alte Mann hatte Aden von ihnen erzählt. ›Sie verändern sich jedes Mal, wenn du zu ihnen aufschaust, die Sterne. Der Himmel bildet die Kulisse für ein Schauspiel, ein gewaltiges Heldendrama.‹ Herb winkt lächelnd ab, verlegen, und sagt ungefähr zum fünften Mal: ›Nur ein kleiner Scherz!‹
Adam lachte verwundert. Diesen Ort gab es wirklich! Wie hatte der alte Mann gewusst, dass es ihn wirklich gab? Hatte er von diesem Ort geträumt? Hatte er durch reinen Zufall das Richtige erraten? War er der Einzige auf der Welt gewesen, der von der Existenz dieses Ortes gewusst hatte?
Und wie erklärte dies das Porträt des alten Mannes, das Aden im Haus der Gorrs entdeckt hatte?
Plötzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass er jetzt noch weniger verstand als zuvor. Er benötigte Antworten auf seine Fragen, benötigte sie dringender als die Luft, die er atmete. Zumindest fühlte es sich so an. Wo konnte er sie finden?
Ringsum hoben sich geduckte Häuser gegen den sternenklaren Himmel ab. Auf den ersten Blick sahen sie wie normale Vorstadthäuser aus. Einige hatten Satellitenschüsseln auf den Dächern. Auf den Straßen parkten Personenautos und Lastwagen, allerdings samt und sonders ohne Markenbezeichnungen. Keine Toyotas, keine Fords.
Gab es Tausende erdachter Welten, in die man nach dem Tod gelangen konnte? Hatte man die Wahl? Hatte er gewählt? War das vergangene Leben ein Prüfstein für etwas Wichtigeres in diesem Leben? Er hatte Selbstmord begangen – hieß das, dass er versagt oder die große Prüfung bestanden hatte? Er ließ sich jedes Detail jener Schlüsselerinnerung durch den Kopf gehen, suchte nach weiteren Hinweisen aus dem Arbeitszimmer seines Großvaters. Aber er stieß nur auf immer neue Fragen: Welche Verbindung gab es zwischen dieser und der vorherigen Welt? Warum hatten manche Häuser Satellitenschüsseln auf den Dächern, während andere aus dem Mittelalter zu stammen schienen, schlichte Hütten aus Holz mit qualmenden Kaminen?
Rechts und links der Straße, die er jetzt entlangging, sah es zum Beispiel aus wie in einem Londoner Armenviertel des 19. Jahrhunderts, beengt, marode und verwahrlost. Fuhrwerke rumpelten über das Kopfsteinpflaster, es roch nach Heu und Pferdemist. Immer wieder stolperte er in Schlaglöcher. Keine Autos, keine Lastwagen. Die Häuser waren unbeleuchtet. Eine unheimliche Stille rings umher.
Der Bilderrahmen, dem er entstiegen war, und all die Andeutungen, die Mister Gorr gemacht hatte, kreisten in seinen Gedanken. Wer war die Frau namens Muse, die ihn gemalt hatte? Warum hatte sein Erscheinen Mister Gorr zunächst erschreckt? Selbst in dieser Welt war seine »Geburt« also unerwartet. Abnormal. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Sekunden nach seinem Erwachen.
Einen Moment lang konnte er sie festhalten, eine schwache Erinnerung wie der Nachhall eines Traums, das Echo eines Echos: Ein Ort der Farben, das Gefühl von Pinselstrichen, die wie eine warme Zunge über seinen Körper lecken, eine leise Frauenstimme. Unvermittelt Helligkeit. ›Augen offen?‹, murmelt sie. Etwas streicht ihm über die Augen, sanft und schmerzlos. Ihre Hand schließt seine Lider. Er schläft wieder, wartet …
Die Skizze seines Großvaters stieß mit jedem Schritt gegen seinen Oberschenkel. Nicht weit entfernt plätscherte Wasser. Er schwenkte ab und ging auf das Geräusch zu. Das Leuchten der Nachtgestirne reichte aus, um die Einmündungen von Seitengassen zu erhellen (obwohl Wolken heraufzogen und einige der Sternhaufen verdeckten). Ein schwacher Wind raschelte in den Baumkronen.
Die Erkenntnis traf ihn wie eine Keule: Diesen Ort gab es wirklich. Allein das genügte, um ihn erschauern zu lassen. Dies hier konnte keine völlige Illusion sein! Der Boden gab unter jedem Schritt seiner nackten Sohlen nach; das Knacken von Zweigen; das Wispern von flach getretenem Gras; der kalte Kuss von Tau. Sein Atem bildete weiße Dampfwölkchen. Er lachte, schwindlig vor Glück. Sämtliche Sinne schienen zu rufen: Du lebst! Warum oder wie – spielte das eine Rolle? Nicht für das Blut, das warm durch seinen Körper pulsierte.
Der unbefestigte Weg mündete in eine ebene, gepflasterte Straße, eine Wohltat für seine von spitzen Zweigen und Steinen wunden Füße. Die Spuren der Besiedlung blieben zurück. Bald lag das Dorf hinter ihm, und ein breiter Fluss neben der Straße wälzte sich unruhig in seinem Bett.
Er hielt an, um nachzudenken, legte sich auf die glatten Steine, in denen noch die Hitze des Tages gefangen war, und wärmte sich Rücken und Beine. Wieder fuhr er mit den Fingerspitzen über die Handgelenke. Das Sternenmelodram nahm unterdessen seinen Lauf: Eine der Königinnen hatte ihre Gegnerin enthauptet und die Krone der Besiegten auf ihre Schwertspitze gespießt. Sie sind real, dachte er, aber keine Sternbilder. Keine lodernden Gasansammlungen in unendlicher Ferne. Sie sind etwas anderes. Vielleicht nur so weit weg wie der Himmel. Du könntest da hinaufklettern und sie berühren, sie in die Tiefe ziehen.
Während er so dalag und das Sternenmelodram beobachtete, flammte eine grüne Leuchtkugel am Himmel auf. Sie wurde größer, als senkte sie sich langsam herab – tatsächlich, sie senkte sich herab und hinterließ eine grüne Lichtspur vor der Kulisse der Sterne.
Aden setzte sich auf und starrte angestrengt in die Ferne. Die Leuchterscheinung hatte Ähnlichkeit mit einer Wolke, aber er konnte Schatten erkennen, die sich in ihrem Innern bewegten, wenngleich die Schatten von hier aus verschwommen und ineinandergeschoben wirkten. Die grüne Lichtspur, die bis zu den Sternen zu reichen schien, verblasste rasch.
Er schätzte, dass die grüne Wolke etwa eine halbe Meile von ihm entfernt niedergegangen war. Aden erhob sich, fest entschlossen, die Stelle aufzusuchen, als er eine Stimme vernahm, die sich durch die Stille wand. Sie kam aus dem Dunkel der Straße hinter ihm, zusammen mit leise schlurfenden Schritten.
Aden hätte sich kaum die Mühe gemacht, in Deckung zu gehen, aber dann fiel ihm Chuckys Warnung ein. Er kauerte hinter einem breiten Baumstamm am Straßenrand nieder und wartete, während die Schritte immer näher kamen.
Bald zeigte sich ein Umriss, eine hochgewachsene, hagere Gestalt, die entweder eine Robe oder ein langes Gewand trug. Es war schwer auszumachen, ob die Stimme zu einem Mann oder zu einer Frau gehörte, aber es schien, als redete die Person mit sich selbst. Zumindest war sie allein unterwegs. Aber nein – Aden hörte deutlich zwei Stimmen, die in ein Gespräch vertieft waren.
Die Gestalt kam an seinem Versteck vorbei – ein Mann, wenn Aden sich nicht täuschte – und blieb ein paar Schritte weiter stehen. Der Fremde drehte sich einmal langsam um die eigene Achse und starrte dann in die Finsternis, aus der er eben aufgetaucht war. Aden presste sich gegen die Rinde des Stammes. Der Mann schaute eine Minute lang nach hinten, ehe er weiterging, hastiger jetzt, tapp, tapp über die Pflastersteine. Aden folgte ihm im Schutz der Bäume und spärlichen Sträucher, welche die Straße säumten; er war so nahe, dass er die Stimmen hören konnte. Die erste war unverkennbar nervös und eine Spur weinerlich. »Da hinten war jemand, das habe ich ganz deutlich gespürt – außer meine Nerven spielen mir schon wieder einen Streich.«
Die zweite Stimme klang lässig und gedehnt. »Vielleicht Kanonenfutter auf Abwegen?«
»Nein. Die Truppen wurden nach Norden geschickt. Und … äh … nenn sie bitte nicht so! Vor allem nicht jetzt, da wir möglicherweise belauscht werden. Du kennst die Regel: Behandle sie stets mit Respekt! Sie sind Soldaten, kein Kanonenfutter. Auf die Sichtweise kommt es an. All die Orden und Medaillen, die wir verteilen! Du liebe Güte! Nun denn, was wolltest du sagen?«
»Dass ich keine Ahnung habe, wer sonst noch unterwegs sein könnte. Die Dorfbewohner schlafen. Die lassen sich nachts nie im Freien blicken. Außerdem wird die Uhr angehalten. Was bewegt sich außerhalb der Zeit? Nur die Armee.«
»Verdammt!«, ereiferte sich die erste Stimme. »Lass es endlich gut sein! Alles ist unter Kontrolle. Was wolltest du sagen?«
Eine Pause, erfüllt vom Tapp-Schlurf der Schritte. Die zweite Stimme klang jetzt sanft. »Ich wollte sagen, dass deine Tat – analytisch betrachtet, wohlgemerkt – Mord war.«
»Unerhört!« Die erste Stimme klang beleidigt. »Ich kann es nicht glauben – von allen hastigen Urteilen – hör mal, warum zum Henker habe ich dich erschaffen?«
»Du hast das Thema aufgebracht. Du hast die Frage nach einer rechtlichen Bewertung der Tat gestellt.«
Die verschwommene Gestalt fuchtelte mit einem Arm heftig vor dem Hintergrund der Sterne herum. »Ja! Aber deine Sprache! Brutal! Zeichnet ein völlig falsches Bild! Ständig sterben Menschen! Völlig normal das. Meine ›Tat‹. ›Mord.‹ Beschwört die Vorstellung von einem, der mit gezücktem Dolch durch Hecken schleicht, um einen ahnungslosen Unschuldigen beim Picknick abzustechen. So war das nicht, ganz und gar nicht.«
»Oh?«
»Keine Hecken, so viel steht fest. Keine Picknicks. Der Erdolchte in diesem Fall mehr als unansehnlich. Höchst asymmetrisches Gesicht. Schlupflider. Missgestaltet, fürchterlich missgestaltet. Ein Monster. Und aus deinem Mund klingt es so … hör zu. Unüberlegt? Ganz und gar nicht! Gedankenlos? Keineswegs. Vielmehr in allen Tiefen ausgelotet. In allen geistigen Tiefen.« Der Mann ging schneller, als wäre er verärgert. Aden hatte alle Mühe, ihm geräuschlos zu folgen.
»Aber kommen wir noch einmal zur Unschuld des Opfers«, sagte die zweite, gedehnte Stimme mit einem leichten Zungenschlag. »Der Junge war Waise, nicht wahr? Hatte er ein Verbrechen begangen?«
Aden konnte immer noch nicht erkennen, woher die zweite Stimme kam. Die weit ausholenden Gesten und der immer wieder erhobene Zeigefinger ähnelten immer mehr einem Diktator, der eine Rede schwang. »Aha! Jetzt habe ich dich erwischt! Wie kannst du behaupten, das Leben eines Waisen besitze einen höheren Wert als sonst ein Leben? Du versiehst es sozusagen mit einem Preisschild und schreibst damit die Hälfte der Bevölkerung ab! Erklärst sie für wertlos! Das ist Massenmord. Genozid. Ha! Erwischt! War mein Leben nicht ebenso viel wert wie das seine?«
»Darum geht es nicht. Die Frage ist, ob sein Leben geringer einzuschätzen war als der Zweck, den du mit seinem Tod …«
»Ah, jetzt mach aber mal einen Punkt! Opfer, Angreifer, wie bei einem ordinären Überfall in einem mondbeschienenen Hinterhof. Es gab kein Mondlicht. Keinen Hinterhof. Und ja, ich muss gestehen, dass ich es morbid finde, wie du seine Herkunft oder, mehr noch, seine Elternlosigkeit unterstreichst. Mit anderen Worten, es zeigt sich deutlich, auf welcher Seite du in dieser Debatte stehst.«
»Wenn dir das lieber ist, stimme ich dir in allem zu, was du sagst. Ich dachte allerdings, ich sei erschaffen worden, um dir auf deinen einsamen nächtlichen Wanderungen die Zeit durch Streitgespräche zu verkürzen. Gib mir einfach Bescheid, wenn sich dein Sinn gewandelt hat.« Es entstand eine längere Pause, nur von schlurfenden, mitunter zögernden Schritten unterbrochen. »Du musst wissen, das Ganze geht auf meinen Vater zurück. Der Mann konnte so brutal sein. Grausam, aber mit einer gewissen Unentschlossenheit. Ich kann sie nicht genug betonen, diese Unentschlossenheit. Die Grausamkeit war eher passiver Natur, das sollte nicht verschwiegen werden. Es gab selten Prügel, das nicht. Aber Prügel sind ja kaum das Maß aller Grausamkeit.«
»Letzte Nacht wurdest du bei einer Geschichte über Haferbrei unterbrochen.«
»Ja! Genau! Du hast keine Ahnung … also, Mutter war bettlägerig. Also übernimmt er es, das Frühstück herzurichten, diesen schrecklichen Haferbrei. Ich meine, du hast keine Ahnung. Dick wie Beton. Kalt, bis ich was davon bekam, das sollte nicht unerwähnt bleiben. Versalzen. Nicht mal Honig konnte die Pampe retten. Ich weigerte mich, den Brei zu essen. Und natürlich ist der Mann verunsichert. Läuft stundenlang niedergeschlagen durchs Haus.«
»Ich verstehe.«
»Diese Leichenbittermiene! Macht mich fertig. Da bin ich, ein neunjähriger Junge, wissbegierig, auf der Suche nach Vorbildern. Nach seinem Platz in der Welt. Und schon damals fragte ich mich: Das soll Stärke sein? Das soll Rückgrat sein? Weiß dieser Mann nicht, dass ich das alles aufnehme? Machtlos, vor einer Schüssel Haferbrei.«
»Erschütternd.«
»Untröstlich war ich. ?Wer stillt meinen Wissensdurst??, fragte ich mich. Ist es das, was die Zukunft für mich bereithält? Werde ich eines Tages genau so? Später dann, als Teenager, hielt ich den Mann auf Abstand. Emotional jedenfalls. Versuchte eine Respektsperson aus ihm zu machen, verstehst du? Wenn er sich mir näherte, betont fröhlich, gab ich mich mürrisch, trotzig, abweisend. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Der Mann wollte geliebt werden. Dann wieder wickelte ich ihn ein, mit einem warmen Lächeln, Vater, schau mal, was ich da Tolles mache. Gab mir Mühe, ihm zu gefallen. Mein Königreich für ein verdrießliches Nicken! Für einen Klaps mit dem Handrücken, ein ›Lass mich in Ruhe, ich habe zu tun!‹. Aber nein. Diese armselige Dankbarkeit, wenn ich ihn in meine Nähe ließ! Es zerriss mir das Herz.«
»Um nicht vom Thema abzuschweifen …«
»Oh, bitte. Ich entblöße nur mein Inneres. Es gibt wichtigere Dinge. Das Wetter. Diskutieren wir über das Wetter!«
»Es fällt mir nur schwer, die Verbindung zwischen deinen Ausführungen und …«
»Nur heraus damit, verdammt noch mal!«
»… dem Mord an diesem Waisenjungen herzustellen.«
»Wie kannst du es wagen!«
Die zweite Stimme, gedehnt mit einem leichten Zungenschlag, stieß einen Seufzer aus. »Ich wollte dich nicht verärgern. Einen Mord begangen zu haben, macht dich nicht notwendigerweise zum Mörder.«
»Ich – also gut, sprich weiter!«
»Ein Mörder ist jemand, der mordet. Präsens. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Mann, der früher Obstpflücker war, jetzt aber als Schuhputzer arbeitet, ist kein Obstpflücker mehr. Ich hoffe, dass dir meine Erklärungen helfen. Da ist schon wieder dein Gesichtszucken.«
»Undankbarer Hundsfott! Glaubst du, es ist leicht, ein Kind zu ermorden? Es erfordert moralische Festigkeit. Haben dir diese Leben nichts bedeutet? Schüttelst du das einfach ab, als wäre nichts gewesen? Metzger! Unhold! Leichenschänder! Es war ein Akt, der Entschlossenheit erforderte. Ich tat das nicht zu meinem Vergnügen. Mir war in jenem Moment klar: ›Es muss geschehen, durch bewusstes Handeln. Das ist der einzige Weg. Jemand muss dafür sorgen, dass der Tod eintritt. Es hat keinen Sinn, auf das Wirken des faulen Schicksals zu warten. Nein, das wäre zu bequem und feige.‹ Ich musste mich zwingen. Musste tief durchatmen, vorher und nachher. Und diese Schweinerei, igitt! Nichts für zarte Gemüter. Glaub mir, mein Vater hätte sich dagegen gesperrt. Du und deine rechtliche Bewertung! Hör mal, ich habe gute Lust, dich in den Fluss zu werfen. Mein Tic verstärkt sich. Meine ganze Wange zuckt! Mein Augenlid flattert!«
»Dann will ich lieber das Thema wechseln. Ist dir bewusst, dass wir verfolgt werden?«
Die Schritte hielten inne. Aden erstarrte und warf sich gleich darauf hinter eine Hecke am Straßenrand. Der Aufprall seines Körpers verursachte einen Höllenlärm. Er spähte durch das Blattwerk nach oben. Der Fremde hatte sich umgedreht, und zum ersten Mal sah Aden ihn deutlicher – in eine dunkle Robe gehüllt, kahlköpfig, hochgewachsen und hager. Eine Hand umklammerte ein Ding von etwa einem Meter Länge, das sich krümmte und wand wie eine lebende Schlange. Dieses Wesen war es, das mit dem Mann redete. »Ein Blätterrascheln«, sagte der Mann. »Ganz deutlich. Ist da hinten wer? Jemand, der uns nachschleicht?«
»Daran besteht kaum ein Zweifel. Ich hörte mehrmals leise Schritte. Und eine Brise trug den Geruch von Schweiß bis zu mir.«
»Du besitzt einen Geruchssinn? Das ist mir neu. Dabei habe ich dich so oft unter meine Achsel geklemmt … womit ich, wohlgemerkt, kein Bedauern zum Ausdruck bringen will. Hat der Fremde meine Gefühlswallungen vernommen? Weiß er von dem … äh …«
»Da müsstest du ihn oder sie schon fragen«, sagte die Schlange.
»Was sucht er hier?«
»Auch darüber vermag ich keine Auskunft zu geben.«
»Ist da wer?«, rief der Mann. »Er antwortet nicht. Eine Frechheit ist das … hallo?« Der Mann holte unter seiner Robe einen Gegenstand hervor, der einen hellen Schein verbreitete, offenbar einen kleinen, mit einer Leuchtflüssigkeit gefüllten Glasflakon. Als er ihn hochhielt, wichen die Schatten von ihm zurück. Sein Schädel war kahl wie ein Ei. Dafür trug er einen kohlschwarzen Schnauzer, der unter dem Kinn in einen Spitzbart überging. Der Mann schraubte den Flakon auf. »Ist das Zeug nicht kostbar?«, fragte die Schlange in seiner Hand. Sie schien, wie das Licht enthüllte, aus einem biegsamen Stück Holz geformt zu sein, mit einem starren Körper und einem Mund, der beim Sprechen auf- und zuklappte wie ein mechanisches Spielzeug.
»Sogar überaus kostbar«, erklärte der Mann. »Aber ich muss Klarheit haben!« Damit warf er den kleinen Flakon in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein Sprühnebel aus flüssigem Licht verteilte sich in der Luft. Ein paar Tropfen spritzten neben Adens Füßen zu Boden.
»Zehen!«, rief der Mann. »Ich sehe Zehen. Einen Knöchel. Und ein Schienbein. Ein klarer Verstoß dieser Körperteile gegen die Ausgangssperre.«
»Dieses Zeug ist kostbar«, mahnte die Schlange. »Und du spritzt es durch die Gegend wie Wasser.«
»Wir sammeln es wieder auf, bevor es im Boden versickert. Keine Sorge. Ich kümmere mich darum. Ich bin bewaffnet.« Wo das Licht den Boden gestreift hatte, bildete es gleißende Flecken. Die Holzschlange glitt aus der Hand des Mannes, wand sich über die gepflasterte Straße und leckte die schimmernden Pfützen auf.
»Du da, erhebe dich!« Die Stimme des Mannes klang plötzlich gebieterisch, ehe sie wieder in ein nervöses Stammeln überging. »Ich will meinen Zorn bezähmen und Gnade vor Recht ergehen lassen, obwohl ein Verstoß gegen die Ausgangssperre eigentlich harte Strafen nach sich zieht. Kein Mensch will einsehen, wie wichtig dieses Gesetz ist, vor allem nicht die jungen Leute, zu denen sicherlich auch du gehörst. Liegt weit zurück, die Zeit, so weit, dass sie fast schon wieder neu ist. Urteile! Strafen! Ich vermisse sie. Los, zeig dich, du da! Verlagere dein Gewicht auf diesen nichtsnutzigen Fuß und steh auf!«
Aden trat auf die Straße hinaus und klopfte sich den Staub von Mister Gorrs Hose. »Jung!«, rief der Mann. »Habe ich es nicht gesagt! Ich habe euch gründlich satt, ihr Burschen! Was treibst du hier?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Aden. »Ich bin tot. Oder war es zumindest eine Zeit lang.«
Seit ihm die Schlange entglitten war, rang der Mann unentwegt die Hände, verschränkte und verflocht sie, als wollte er seine eigenen Worte erdrosseln. Erst als er Adens Antwort lauschte, erstarrten seine Finger. »Tot? Nun, nicht ganz. Der liebe Pa ist nicht halb so lebendig, nicht halb so lebendig. Zum Glück, wenn ich ehrlich bin. Ach, wenn du wüsstest! Gleichwohl. Dein Name?«
»Mein Name tut nichts zur Sache.«
»Wie … äh … mysteriös. Ich nehme an, das soll ein Scherz sein. Nicht viele wagen das in meiner Gegenwart. Scherze reißen, meine ich. Das verhindert mein Ruf, sorgsam gepflegt durch diverse … Taten. Nun komm, dein geschätzter Name!«
»Aden.«
Das hagere Gesicht des Mannes begann rechts zu zucken. »Kein ›Sir‹. Kein ›werter Herr‹. Ich bin perplex. Du scheinst wirklich nicht zu wissen, wen du vor dir hast.« Aden trat zur Seite, als sich die hölzerne Schlange an seinen Füßen vorbeischlängelte. Sie schaute zu ihm auf, schien die Stirn zu runzeln und züngelte dann nach einer Lichtpfütze.
Der Mann kam Hände ringend einen Schritt näher. »Die meisten Jungen in deinem Alter ducken sich, wenn sie mich erspähen, und wechseln rasch die Straßenseite. Ja, ich kenne die Gerüchte, ich kenne sie gut. Die meisten stimmen. Du scheinst ruhig zu bleiben. Faszinierend.«
»Ihr Name – ja, ich glaube, ich kenne ihn …« Aden versetzte sich noch einmal zurück in Herbert Keenans Arbeitszimmer: Ein Skizzenbuch, in dem diverse Rollenspiel-Charaktere festgehalten sind. Aden blättert darin, als Herb den Raum ein paar Minuten verlässt. Manche der Zeichnungen belustigen ihn, obwohl er alle Figuren ein wenig lahm findet. Da gibt es einen ›Herzog‹. Eine Gestalt mit dem Untertitel ›Mörder – noch namenlos‹. Und eine in einer Robe, mit einem Schlangenstab.
»Der Ratgeber des Herzogs!«, sagte Aden. Die unterstrichene Bleistiftnotiz am oberen Rand der Seite. »Torak. Der Ratgeber des Herzogs. Jawohl! Ich kenne Sie. Hey, darf ich Sie mal was fragen?«
»Äh-hem. Ähm.«
»Die Sterne, die hier bei euch am Himmel stehen. Die sind nicht echt, oder? Keine echten Sterne wie – nun ja, wie in der echten Welt eben? Keine heißen, zu Kugeln zusammengeballten Gase. Oder doch?«
»Ähm. Ah-hem.«
»Sie wissen es nicht? Na schön.« Aden bückte sich und nahm eine Handvoll Erde auf. »Und das hier? Woraus besteht dieses Zeug? Aus Atomen oder etwas anderem? Habt ihr hier Atome oder wisst ihr wenigstens, was das ist? Ich nehme mal an, dass ihr welche habt. Atome? Protonen, Elektronen, Quarks? Zellen, Partikel?«
Die Hände des Mannes verkrampften sich ineinander. »Fremder Dialekt, wie mir scheint, die Worte vielleicht in aller Hast erfunden, für eine Art … ÄHEM … Jux auf meine Kosten. Ich soll mich wohl fragen, was ich von deiner fortgesetzten Existenz als fühlendes Wesen halte, als Verfechter deines eigenen freien Willens, einer Existenz, der ich nach rascher Schlussfolgerung nicht trauen kann und die ich möglicherweise auslöschen werde, sobald sich meine Faszination zu unumwundenem Zorn gewandelt hat – was nicht mehr lange dauern kann. Sie beißt, diese Schlange. Wenn ich es ihr befehle. Betrachten wir das als Ausgangspunkt für weitere Debatten.«
»Wenn Sie mich umbringen wollen – bitte sehr. Ich war schon einmal tot. Wenn Sie mich umbringen, kehre ich wahrscheinlich wieder ins Leben zurück. An einem anderen, vielleicht noch unheimlicheren Ort.«
»Du behauptest, dass du tot bist?«
»Ich behaupte es nicht nur. Es stimmt. Klingt irgendwie bizarr, ich weiß. Alles, was ich von der realen Welt in Erinnerung habe, ist so allgemeines Zeug. Bruchstücke. Orte und Geschichtsereignisse. Der Zweite Weltkrieg. Präsident Kennedy. Solche Sachen. Aber ich weiß nicht viel über mich.« Torak starrte ihn völlig perplex an. Um die Stille, die seinen Worten folgte, zu füllen, setzte Aden hinzu: »Ich glaube, ich bin aus einem Bilderrahmen erwacht.«
»Aus einem Bilderrahmen?« Torak zupfte an seinem Bart. »Einer Art Gemälde?«
»Ja.«
»Hm. Hm. Hm. Rätsel über Rätsel.« Unvermittelt brüllte er die Schlange an: »Bist du noch nicht fertig?«
»Gleich«, entgegnete sie gelassen und leckte die letzte Lichtpfütze auf.
»Ein Bilderrahmen«, sagte der Mann zu Aden. »Nun mal ganz ehrlich! Kennst du zufällig eine Frau namens Muse?«
»Nein. Ich kenne sie nicht. Ich kenne nur ihren Namen.«
»Hm. Gut. Spricht sehr zu deinen Gunsten.«
»Ich versuche sie zu finden.«
Torak musterte ihn erneut mit scharfem Blick. »Gut! Ein junger Mann braucht Ziele. Aber noch steht deine fortgesetzte Existenz auf der Kippe. Deshalb zunächst folgende Frage: Hast du viel von dem Gespräch zwischen mir und der Schlange mitbekommen?«
»Über den Waisenjungen? Den Haferbrei? Ja.«
»Und deine Meinung dazu, junger Mann?«
»Ich erlaube mir kein Urteil.«
»Guter Junge«, sagte der Mann. Dann runzelte er die Stirn. »Warum nicht?«
Aden überlegte. »Weil sich nichts davon wirklich ereignet haben kann. Ich meine, wenn Sie ein Unrecht begingen, dann nicht in der realen Welt. Es ist wie … wie ein Gedanke, der nicht in die Tat umgesetzt wurde. Sie könnten mich in diesem Moment töten, wenn Sie wollten. Es wäre nicht falsch. Oder richtig. Es würde einfach keine Rolle spielen. Jedenfalls glaube ich, dass es sich so verhält. Aber ich versuche, mir Gewissheit zu verschaffen.«
»Ich glaube, du hast recht.« Der Mann presste die langen, knochigen Finger zusammen. Die hölzerne Schlange hatte das verschüttete Licht bis auf den letzten Tropfen aufgeleckt und glitt nun zurück zu dem Mann. Sie kroch an einem Bein hoch und wand sich den Arm entlang, bis sie seine Hand erreichte und mit einem trockenen Knarren erstarrte. »Du erkennst ihn nicht?«, fragte die Schlange.
»Erkennen?«, wiederholte der Ratgeber des Herzogs. »Absurd! Sollte ich?«
»Aden, wie er sich nennt, erschien dem Weltenmacher in seinen Träumen«, erklärte die Schlange.
Der Mann sah Aden prüfend an. »Die Träume! Du liebe Güte, das wäre etwas. Aber sofern ich nicht große Teile meines Gehirns verlegt habe … nein! Absolut nein. Das würde ihn in der Tat zu einem höchst bedrohlichen Omen machen.« Der Mann kniff die Augen zusammen und trat ganz dicht vor Aden hin. »Nun warte mal, eine kleine Sekunde nur! Ich glaube, du bist da auf etwas gestoßen. Ja, ohne jeden Zweifel, das Gesicht ist mir vertraut.«
»Wissen Sie, dass Sie nur eine Figur sind?«, meinte Aden. »Wissen Sie das?«
»Will er mich beleidigen?«, fragte Torak die Schlange.
»Da bin ich mir nicht ganz sicher«, erwiderte sie.
»Könnten Sie mir einen Riesengefallen erweisen?«, fuhr Aden fort.
»Kommt ganz darauf ein, du sonderbar vertraute Gestalt.«
»Könnten Sie mir sagen, wo ich bin? Bitte? Ich glaube es zu wissen, aber ich muss wissen, ob Sie es wissen.«
»Du stehst auf der Straße, wie es scheint.« Torak wiederholte langsam: »Auf – der – Straße. Auch wenn es dich zu verblüffen scheint, bist du nicht der Erste, der das tut, Obwohl sich nach der Sperrstunde kaum noch jemand hierher wagt, nicht seit der letzten Runde öffentlicher Hinrichtungen durch den Henker, mit all den wehklagenden Müttern und Unmengen von neugierigen Gaffern, diesen blutrünstigen Schätzchen. Um es zu präzisieren: Die Straße gehört zum Dorf, das Dorf heißt Days Past, Days Past gehört zu Nightfall, und wozu das gehört, kann sich jeder selbst zusammenreimen. Und du bist gefährlich nahe daran, eine Ernte der Nacht zu werden, genauer gesagt, ein Traum.«
»Traum. Traum. Wovon reden Sie eigentlich, verdammt noch mal? Ist das hier alles ein Traum? Soll das der tiefere Sinn Ihrer Worte sein? Dass ich tot bin und träume?«
In diesem Moment bewegte sich ein grelles Objekt hinter der Schulter des Mannes vorbei. Grünes Licht flammte auf, zweifellos das gleiche fahlgrüne Licht – und in der Tat wohl das gleiche Objekt –, das sich vom Himmel gesenkt hatte, als Aden auf der Straße lag. Nun wanderte das schimmernde Ding seitwärts und ergoss sein fahles Grün in das Sternenlicht. Es schwebte einige Fuß über dem Boden wie eine schleichende Fata Morgana und erhellte den Grashang zum Fluss hin. Gestalten drehten und krümmten sich im Innern der Leuchterscheinung. Aden erspähte ein vertrautes Gesicht. Ein alter Mann versank in einem brodelnden Meer.
Der Anblick seines Großvaters traf Aden wie ein elektrischer Schlag. Da war er! Herbert Keenan schrie lautlos und ruderte heftig mit den Armen, um nicht unterzugehen. Die Regenwolken über ihm bestanden aus Menschenteilen: Unzählige Handgelenke und Arme, zu einem dichtmaschigen Netz verflochten, schleuderten ihr farbloses Nass in die Tiefe. Die Wolkenhände öffneten und schlossen sich.
Aden stand wie erstarrt da. Ihm entging, dass sich der Ratgeber des Herzogs hinter ihn schlich und ein langes, dünnes Messer zog. Seine Gesichtszüge waren mit einem Mal schlaff und ausdruckslos. Das Messer näherte sich langsam Adens Ohr. »Opa?«, schrie Aden.
Mit sichtlicher Anstrengung senkte Torak das Messer und trat einen Schritt zurück. Er schüttelte sich, als müsste er sich aus den Fängen des Schlafs befreien. »Wie bitte?«, fragte er.
Aden rannte auf das brodelnde grüne Chaos zu. Sein Großvater schwebte in der Luft, gefangen in einer Gaswolke. »So helfen Sie ihm doch!«, rief er.
»Helfen …?«, fragte der Mann in der langen Robe. »Hast du noch nie einen Traum gesehen? Bist du erst heute Abend geboren, mein verwirrter junger Freund?«
Aden drehte sich um und starrte den Mann ungläubig an. »Warum stehen Sie einfach tatenlos da? Er ertrinkt! So sieht es zumindest aus. Und was hat dieses grüne Leuchten zu bedeuten?«
Torak verbarg das Messer im Ärmel und beugte sich zu der Schlange hinunter, die ihm etwas ins Ohr flüsterte. »Um deine vorherige Frage zu beantworten«, sagte Torak. »Das ist der Traum der Nacht. Eine geballte Ladung nicht geernteter Energie auf ihrem Weg zurück zum Schloss. Natürlich von mir gelenkt. Meine Aufgabe, verstehst du – eine meiner Aufgaben. Sieh dich an, wie du aus meiner Reichweite wankst! Ausgesprochen ungehorsam ist so etwas. Ich bin verwirrt. Torak, mein Name. Ratgeber des Herzogs. Du hast meinen Namen gehört, sagst du? Natürlich hast du ihn gehört. Mütter jagen ihren Kindern mit Geschichten über mich Angst ein. Drohen, dass ich sie holen werde, wenn sie ungezogen waren. Manchmal tue ich es.«
»Ist das ein Trugbild?« Aden war in den Fluss gewatet und stand nun knietief im Wasser. »Ich kenne den Mann, der da ertrinkt.«
»Das ist ein Traum«, erklärte Torak langsam und eindringlich.
»Aden«, mischte sich die Schlange ein, »sagtest du eben, dass der Mann dort dein Großvater ist?«
Der Traum schwebte über den Fluss hinweg. Sein fahlgrünes Licht spiegelte sich in der glasigen Oberfläche. »Opa!«, rief Aden immer wieder, bis ihm die Stimme versagte. Der alte Mann im Traum drehte sich nicht um, schien ihn nicht zu hören.
»Raus aus dem Fluss, bitte«, sagte Torak. Aden, dem das Wasser inzwischen bis an die Hüften reichte, versuchte die Ränder des grünen Lichts zu fassen. »Raus jetzt! Die Oberfläche sieht glatt aus, aber die Strömung ist stark. Furchtbar, dieses Wasser, tödliches Zeug. Nur gut zum Trinken. Raus, befehle ich! Ich lasse dir einen Finger für dein Vergehen abhacken. Später kannst du ihn zurückbekommen. Und natürlich werde ich dich im Schloss einem Verhör unterziehen, denn einige der Dinge, die du sagtest, waren höchst merkwürdig. Keine Folter, ich verspreche es. Extraktion der Wahrheit, so nennen wir das. Kurzer Prozess, im Nu vorbei. Komm! Andernfalls setze ich die Häscher auf dich an, und das in einer stark geschrumpften Welt, die kaum noch Verstecke bietet.«
Der schlammige Grund sackte unter Adens Sohlen weg. Die Leuchterscheinung war seinen ausgestreckten Armen entschwebt. Sein Großvater sprach kein Wort und drehte sich kein einziges Mal nach ihm um. Droben an der Straße hielt Torak sein Messer hoch. Grünes Licht wurde von der Schneide zurückgeworfen. »Sei vernünftig!«, rief er, als die Strömung Aden erfasste und mit sich riss. Er rang nach Luft, geschockt von der Kälte, die sich wie ein Panzer um Brust und Bauch legte.
Ein Gefühl der Loslösung machte sich breit, als sein Verstand sich weigerte, all das zu begreifen, was er eben gesehen hatte. Unbeteiligt beobachtete er sich, wie er gegen die Atemnot und um sein Leben kämpfte. Sein Körper funktionierte Seine Hände suchten einen Halt, griffen nach den weit überhängenden Ästen. Aden sah jetzt fast genauso aus wie sein Großvater, als er sich dagegen zur Wehr gesetzt hatte, in den Tiefen des »Traumes« zu versinken.