KAPITEL 14
Kirche und Staat
Der Ratgeber des Herzogs lächelte, wich jedoch seinem Blick aus und starrte stattdessen die Buntglasfenster des Predigtsaals an. »Der … äh … Burgfrieden zwischen Schloss Eisennetz und der Kirche … nun, sagen wir es mal so: In früheren Zeiten war der Burgfrieden die äußere Fassade, während die … ÄHM … wirklich wichtigen Dinge im Geheimen ausgehandelt wurden. Vernünftige Priester damals. Offene Konflikte oder gar eine Militäraktion hätten wir uns nicht leisten können, oder? Eure Wachhunde, diese Dragoner, würden trotz der … äh … Verhaltensregeln in solchen Angelegenheiten angreifen. Trotz der Möglichkeit – Wahrscheinlichkeit? –, den Kampf zu verlieren.«
Torak fummelte nervös am Schlangenstab herum. »Meinungsverschiedenheiten könnten stattdessen zu … ähm … Unfällen führen? Einzelnen Priestern, die Schwierigkeiten machen, könnten schreckliche Missgeschicke zustoßen. Schlangenbisse. Ein Sturz von hoch oben, hoppala. Allem Anschein nach Probleme mit dem … ähm … Herz. Offenbar gibt es ein paar ehrgeizige Jungpriester, die Euch Euren Posten neiden, ja? Drüben im Seminar, wie ich höre. Ihr versteht doch sinngemäß, was ich meine?«
Der Namenlose war so geschockt, dass er nicht antworten konnte.
Torak räusperte sich. »Wie du mir, so ich dir. Altes Sprichwort aus den Tagen, da man noch sehr genau auf das Gleichgewicht der Kräfte achtete. Aber das ist lange her. Genug geredet, finde ich. Vielleicht könntet Ihr mir den Gefangenen zeigen? Vorausgesetzt, es gibt ihn, und er ist keine – wie soll ich es ausdrücken? – Täuschung Eurer Erinnerung? Etwas, das Ihr zu sehen gehofft hattet, anstatt es tatsächlich zu sehen? Anschließend vielleicht ein kurzer Gedankenaustausch zwischen uns beiden? Ein offener, ehrlicher Dialog, in dem jeder sein Wissen preisgibt, erst Ihr, dann ich, falls uns noch genügend Zeit bleibt, was möglicherweise nicht mehr der Fall sein wird?« Torak gab dem Priester einen aufmunternden Schulterklaps, zog aber gleich darauf die Hand zurück und wischte sie ab.
Kevas ging die Kellerstufen hinunter. Der Ratgeber des Herzogs folgte ihm so dicht wie ein Schatten. Zumindest weiß ich nun Bescheid, dachte er. »Unfälle«, dass ich nicht lache! Slythe ist käuflich, so viel steht fest. Im Moment gebe ich den Ketzer auf gar keinen Fall heraus. Torak hält mich für verrückt. Lassen wir ihn in dem Glauben!
Kevas stockte keine Sekunde, als sie am Grünen Zimmer vorbeigingen. Stattdessen stieß er die Tür zu einer der alten Kerkerzellen auf und starrte mit offenem Mund die leeren Fußfesseln an. »Er war hier«, flüsterte er und streckte beschwörend die Hände aus. »Glaubt mir, er war hier …«
Torak sah ihn forschend an, und sein Wangenmuskel begann zu zucken. Er setzte mehrfach zum Sprechen an, schien aber so wütend, dass er kein Wort herausbrachte. Kevas betete stumm, dass Aden nicht um Hilfe rufen oder gegen die Tür trommeln würde, als Torak am Grünen Zimmer vorbeirannte.
Später wanderte Kevas nervös auf und ab und kaute an seinem Oberlippenbart. Er war erschöpft, aber eine Sache musste noch erledigt werden, ehe er sich zur Ruhe begab. Er suchte die Bibliothek der Großen Geister auf, wohl wissend, dass er noch viel länger wach bleiben würde, wenn er dort tatsächlich einen Rat erhielte. Er ging zwischen den Marmorsäulen umher und schaute zu den Glaskugeln auf, die um diese Zeit nur ganz schwach leuchteten. »Wacht auf!«, schrie er sie an. »Los, wacht sofort auf! Das gilt für euch alle.«
Ein wildes Farbengewirr zuckte über die Wände. Lichter tanzten und verlagerten sich. In jeder Kugel verdichtete sich der Schein zu einem grellen Punkt, der sich auf ihn richtete wie ein Auge in seiner Höhle. Er spürte nichts von dem nahezu einhelligen Hass, der ihm entgegenschlug (ihm und jedem anderen, der die Macht hatte, die Geister freizusetzen, und sich weigerte, dies zu tun.)
»Ich brauche euren Rat für ein Ereignis von ungeheuer Bedeutung«, erklärte Kevas. »Jeder, der mir zur Erleuchtung verhilft, soll seine ewige Ruhe erhalten, so er dies wünscht.« Es war eine Lüge, die er für Notfälle bereithielt. Er humpelte die Säulen entlang, und die bunten Lichtpunkte folgten ihm, während er mehr als eine Stunde in allen Einzelheiten berichtete, was geschehen war. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte er tagelang geredet.
Als er endlich fertig war, legte er seine Hände auf eine tiefblau leuchtende Kugel. In ihrem Innern befand sich Tremlarvin, der Begründer der Weltenmacher-Kirche, der Entdecker dieser Art von Unsterblichkeit, der Erste, der seinen großen Geist freiwillig konservieren ließ, und der Erste, dem diese Gefangenschaft zur entsetzlichen Last wurde. Tremlarvin ließ sich auch diesmal nicht von seinem nun bereits fünfhundert Jahre währenden stummen Protest abbringen.
Als Nächstes versuchte es Kevas mit der mattgrünen Kugel, in der Zanzi Kuso, der größte Naturgelehrte, den die Welt je hervorgebracht hatte, eingeschlossen war. Als er seine Hände auf das Glas legte, begann das Licht im Innern heftig zu wallen und zu pulsieren. Zanzis ruhige Stimme durchdrang seine Gedanken. Ich brauche zwanzig Minuten, um über diese Sache nachzudenken. Bring den jungen Mann hierher und gestatte mir, einige Fragen an ihn zu richten, ehe du ihn abschlachtest. Ich warnte die Welt noch zu meinen Lebzeiten vor deinesgleichen. Niemand schenkte mir Gehör. Nun hältst du mich hier gefangen, unbeachtet in alle Ewigkeit. Töte mich! Du willst doch nur, dass ich deinen Verdacht bestätige. Das werde ich nicht tun. Aber du kannst auf meine Objektivität zählen, denn mir ist es gleich, ob diese Welt mit dir zusammen verkümmert und stirbt, Kevas Rem, oder ob sie blüht und gedeiht. Bring mir deinen »Ketzer«, dessen einziges Verbrechen vermutlich seine Ehrlichkeit war. Ich werde bald eine Antwort haben. Falls du dein Versprechen von der ewigen Ruhe nicht einhältst – und ich erkenne eine Lüge am Klang der Worte –, dann werde ich Rache nehmen. Ich besitze vielleicht keine Hände, aber ich bin nicht völlig hilflos. Oder glaubst du, ich tue hier nichts anderes, als Tag für Tag auf einem imaginären Brett Tic Tac Toe zu spielen? Ich habe lange und gründlich über Rache nachgedacht. Ich habe Pläne ausgetüftelt. Mir die ewige Ruhe zu gewähren, wäre für alle Beteiligten am sichersten. Ich weiß, dass du dich danach sehnst, in unsere Reihen aufgenommen zu werden, wenn du stirbst. Deshalb verrate ich dir dies: Es gibt bei uns bestimmte Formen des Kämpfens – Möglichkeiten, die anderen Gefangenen zu quälen. Und ich beherrsche sie alle meisterlich. Frag Sivanas! Ich werde dir jeden Moment zur Hölle …
Kevas löste die Hände von der Kugel und verdrängte sorgsam alles, was er gehört hatte. Von fünf der übrigen Geister, die er beschwor, erhielt er ähnliche Reaktionen. Der Rest blieb stumm. Er begab sich in den abgelegensten Winkel der Bibliothek und hielt vor einer Kugel an, deren weißes Licht wie durch Nebel verhüllt erschien. Sie hielt Sivanas, den Propheten des Blutvergießens, gefangen.
Kevas presste die Handflächen gegen das Glas und gestattete Sivanas, sich seines Geistes zu bemächtigen. Hinter seinen geschlossenen Augen sah er eine weiße, mit kostbaren Ringen geschmückte Hand, die sanft Gedanken wendete wie die Seiten eines Bilderbuchs, bestimmte Szenen aufnahm, sie genauer betrachtete, zerlegte und wieder zusammensetzte. Endlich sagte eine seidenweiche Stimme: Danke, dass du meinen Rat suchst. Das war klug von dir, Namenloser, sehr klug. Deine Sorge ist berechtigt. Hast du die Essays meines Vorgängers gelesen? Sie handeln von der Ankunft eines Weltenmacher-Gegenspielers, der ihm dem Vernehmen nach in einer Vision erschien. Wenn die Welt ihrem Untergang entgegensteuert, so lautet seine Prophezeiung, wird ein Fremder kommen und große Kluften des Nichts in unser Dasein reißen. Albträume sind seine Nahrung, und er kann nicht sterben. Torak sagte dir, dass der junge Mann von den Toten auferstand – er hat vermutlich recht. Sprich mit seinem Killer und hör genau zu, was er zu berichten hat.
»Was plant er?«, fragte Kevas mit heiserer Stimme.
Er hat die Absicht, den Weltenmacher zu erschlagen. Indem er diese Welt Stück für Stück vernichtet, will er ihren Schöpfer persönlich hierher locken und ihn zum Kampf zwingen. Und er wird den Sieg davontragen, wenn wir nicht handeln. Ich bin bereit, dir zu helfen und der Kirche zu dienen. In der Vergangenheit habe ich für die Kirche getötet, obwohl dadurch mein Name in den Schmutz gezogen wurde. Ist dir klar, dass man mich nur in diese Kugel einschloss, um mich zu foltern? Sie hielten Flammen an das Glas und fügten mir Brandwunden zu. Ich ertrug es. Ich vergab ihnen. Nur die Hoffnung, der Kirche wieder dienen zu können, hielt mich aufrecht. Gib mir meine Chance! Ich als Einziger unter diesen »Weisen« akzeptiere meine ewige Pflicht und nehme sie freudig auf mich.
»Bin ich heute Nacht sicher mit diesem … diesem Ding unter meinem Dach?«
Das lässt sich schwer sagen. Schick sofort nach dem Meuchelmörder, dann richte dir ein Schlaflager in diesem Raum ein und verriegle die Tür! Der Ketzer benötigt Zeit, um seine Pläne in die Tat umzusetzen, und seine erste Aufgabe besteht darin, dich zu überzeugen, dass er keine Gefahr darstellt. Er ahnt sicher nicht, dass du die Worte eines Sehers vernommen hast, der sechs Jahrhunderte vor dir lebte. Es war klug von dir, mich aufzusuchen. Wir sind uns in vielen Dingen ähnlich.
»Und Eisennetz?«
Ich teile deine Ängste. Die weltliche Macht wird ebenfalls zuschlagen. Im Moment ist es besser, ihr zu gehorchen. Wir beobachten sie und warten ab. Wenn der Zeitpunkt des Handelns gekommen ist, werde ich dir helfen. Vielleicht musst du mich dann aus diesem Gefängnis befreien. Vielleicht werde ich einen Körper brauchen. Das ist nicht einfach zu bewerkstelligen, aber es lässt sich machen. Halte mich auf dem Laufenden. Schick sofort nach dem Meuchelmörder! Und erzähle keiner Menschenseele von unserem Gespräch. Du weißt, dass die Heiden meinen Motiven misstrauen würden.
Aden fand auf schmerzhafte Weise heraus, dass seine Schulter nicht kräftig genug war, die Tür aufzubrechen, und seine Schulter warf ihm den Selbstversuch bei jeder Bewegung vor, die er machte. Also saß er möglichst reglos da, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, horchte auf Schritte im Korridor und fühlte sich rundherum elend.
Ihm fehlte plötzlich sein Zuhause. Ihm fehlte das Leben, das richtige Leben. Hier und da war seine Vergangenheit aufgeflackert, in immer neuen Spielarten: der Drogenabhängige, der von Zwängen Geplagte, mit allen Symptomen wie Fingertrommeln, Händewaschen und diversen anderen Eigenheiten … und immer wieder die Version, dass er seinen Eltern Geld gestohlen und verzockt hatte, dass er feige aus dem Leben geschieden war, anstatt die Schande auf sich zu nehmen. Er war außerdem aus Liebeskummer gestorben, und weil er jemanden im Suff überrollt und Fahrerflucht begangen hatte oder weil er während der Fahrt eine CD gewechselt und dabei zwei Leute übersehen hatte, die gerade die Straße überquerten. Eine wenig schmeichelhafte Variante zeigte ihn als Sexfetischist, der dabei erwischt wurde, wie er in die Wohnung einer guten Bekannten einbrach und die Schublade mit ihrer Unterwäsche durchwühlte. (Man hatte ihn verhaftet, sein Foto in der Lokalzeitung veröffentlicht und ihn mit diversen Vergewaltigungen in der Nachbarschaft in Verbindung gebracht, worauf sein Leben verdientermaßen ruiniert war.) So verrückt es anmutete, endeten all diese Szenarios, auch jene im Gefängnis, mit Selbstmord im Badezimmer seiner Eltern. Und sein Vater war, direkt oder indirekt, stets die Ursache allen Übels.
Die Alltagsdinge waren es, die ihm fehlten. Vertraute Dinge wie ein Kinobesuch, die Sportschau im Fernsehen, ein Joint mit Freunden, ein wenig Musik machen. Computerspiele. Bücher. Mit den Hunden im Park spazieren gehen und Fußball spielen. Alles vorbei. Und nicht die geringste Möglichkeit, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Zum Klang von »There’s no place like home« die Hacken zusammenzuschlagen. Es verblüffte ihn, dass er damals nicht begriffen hatte, was er da wegwarf, ein Wunder, ein Geschenk, unwiederbringlich und über die Maßen kostbar, selbst in Zeiten, da es ihm total schlecht ging.
Und nun befand er sich in einem neuen Rollenspiel, war umgeben von Freaks und Zauberern, von Männern, die mit Drachen kämpften. Er quälte sich, dass er es versäumt hatte, jene Familie zu retten, obwohl ihm das möglich gewesen wäre, dass er ein paar Sekunden zu lange gewartet und wie betäubt den Meuchelmörder bei seinem Tun beobachtet hatte. Jetzt kam es ihm so vor, als hätte der Killer ihn getestet, als hätte er herauszufinden versucht, welche besonderen Kräfte in ihm, Aden, steckten. Slythe hatte behauptet, die Menschen seien nicht echt. Getrieberädchen. Austauschbar. Ein Teil in seinem Innern fand einen schwachen Trost in dieser Vorstellung, als enthielte sie einen wahren Kern.
Er konnte nichts tun, als den erdigen Geruch des Grünen Zimmers und das sonderbar chemische Aroma der Pflanzen einzuatmen. Stunden vergingen. Wie viele es waren, ließ sich im Halbdunkel nur schwer abschätzen. Hin und wieder flüsterten die Pflanzen, obwohl im Raum kein Luftzug herrschte. Manchmal versetzten sie einander einen leichten Klaps, wie unglückliche Zellengenossen. Er baute mit Liegestützen Energie ab, bis er einschlafen konnte. Als er aufwachte, entdeckte er zu seiner Überraschung, dass er nicht allein war.
Ihm gegenüber saß der seltsame Mann, den er zum ersten Mal an jenem Morgen gesehen hatte, als die Zeit stillstand. Der Mechaniker. Sein Buch lag aufgeschlagen auf einem Knie, und der Blick, mit dem er Aden bedachte, wirkte irgendwie verdrießlich.
»Du!« Aden lachte.
»Ich«, pflichtete ihm der Mechaniker bei. Er fingerte an irgendeinem klickenden Gegenstand in seiner Tasche herum. »Zufrieden? Eingesperrt. Weshalb das Gelächter?«
»Erleichterung. Lässt du mich hier raus? Der Priester hält mich für eine Art Dämon. Vielleicht hat er sogar recht. Er ist schließlich der Vertreter der Kirche. Aber das kann mir im Grunde egal sein. Du bist hier irgendwie reingekommen, also kennst du auch den Weg nach draußen. Nimm mich mit! Wir machen einen drauf, gehen kegeln oder so was.«
»Mir ist klar, was passiert ist. Unnötig, mich auf den neuesten Stand zu bringen. Ich weiß Bescheid.«
»Was ist los mit dir? Du wirkst so niedergeschlagen. Willst du mit mir tauschen?«
»Du bist am Leben.«
»Tja. Pech gehabt.«
»Warum bist du am Leben?«
»Die Frage stelle ich mir nicht zum ersten Mal. Du bist ein Gott, stimmt’s? Einer von diesen Typen, die Slythe ›Teil des Weltenmachers‹ nannte? Du kannst die Zeit anhalten, Dinge aus dem Nichts herbeizaubern? Du hast die Sachen, die ich jetzt trage, aus dem Nichts gezaubert. Warum gibst du dir die Antwort nicht selbst?«
»Die ganze Struktur. Am Wanken. Am Rand des Zusammenbruchs. Du passt nicht in den Plan.«
Aden stand auf und streckte sich. »Ja, so ein Mist! Wie sah denn der Plan aus? Und an welcher Stelle lief die Sache schief?«
»Eigentlich solltest du tot sein. Tot, verstehst du? Großvater sollte herabsteigen. Und dann …« Er deutete auf sein Buch.
»Sollte herabsteigen? Und dann … und dann was?« Aden wanderte mit gesenktem Kopf auf und ab. »Warte mal! Habe ich das bis hierher richtig verstanden? Mein Opa, dein Gott, erscheint nach meinem Tod. Stocksauer, nehme ich an, oder zumindest traurig?«
Der Mechaniker nickte und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er fortfahren solle.
»Dann … dein Buch, deine Zauberkräfte. Sobald er hier auftaucht, scheuchst du ihn durch die Gegend? Bringst ihn dazu, nach deiner Pfeife zu tanzen? Die Welt hier wieder in Ordnung zu bringen? Oder gar zu verbessern, wenn er schon mal am Werk ist?«
Der Mechaniker nickte wieder. »Die Welt. Steht auf der Kippe. Wusstest du das? Könnte jeden Moment tot sein. Und wir alle mit ihr. Jeden Moment. Die Barriere, der Wall, das Vergessen. Hat sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Rückt immer näher. Wusstest du das? Nicht mehr viel übrig von der Welt. Hat jetzt das Ausmaß einer kleinen Insel. Bevor du kamst, war sie so groß wie ein Reich. Und davor noch größer! Ein Universum. Universen, viele davon. Aber bald … bald wird sie auf die Fläche eines Kornfelds geschrumpft sein. Dann auf die Fläche eines Hinterhofs. Ist dir alles bekannt, ja?«
»Ich hatte mir nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht. War wohl zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Aber ja. Jetzt wird mir einiges klar. Die Soldaten. Die einarmigen Soldaten.«
»Richtig.«
»Also … ah, ich verstehe. Die Welt steht auf der Kippe. Er steigt vom Himmel herab, der sogenannte Weltenmacher, um mich zu retten, der ihm mehr am Herzen liegt als alle anderen hier. Dann bringst du ihn dazu, das alles hier ins Lot zu bringen.«
»Wiederum richtig. Aber du lebst.«
»In gewisser Weise ja. Ich wäre vielleicht bereit, wieder auszusteigen, wenn euch das echt hilft, eure alberne Welt mitsamt ihren Freaks zu retten. Das wäre zumindest sinnvoller als alles, was ich in meinem letzten Leben auf die Beine gestellt habe. Also los, hetz mir Tiger auf den Hals! Aber lass mich vorher eine Stunde mit einer netten Ausgabe dieses Mädels allein. Charm heißt sie. Das wäre ein Deal, oder?«
»Kann ich nicht. Leute erschaffen. Dafür ist Muse zuständig. Das mit den Tigern müsste gehen. Könnte einen Brand auslösen. Ein Gebäude einstürzen lassen. Irgendwas, damit sie deinen Weg kreuzen. Aber das ist alles sinnlos.«
»Nein. Probier es ruhig. Slythe hat es zwar auch schon versucht, und ich kam zurück. Doch das muss nichts heißen.«
»Du kannst nicht sterben.«
»Ich hatte auf dieser Welt erst einen Fehlversuch. Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal.«
»Slythe hat dich sechsundneunzigmal getötet.«
»Wie bitte …?«
»Sechsundneunzigmal.« Der Mechaniker holte die Stoppuhr aus seiner Tasche. »Muss ich das erklären?«
»Kommt drauf an, ob ich verstehen muss, wovon du redest.«
Der Mechaniker sprach langsamer. »Die Zeit oder besser das Geschehen wurde einhundertzwölfmal neu gestartet. Immer genau an dem Punkt, als du den Wagen des Herzogs bestiegst. Slythe hat dich sechsundneunzigmal getötet. Neunmal gelang dir die Flucht. Zweimal konntest du ihn davon abhalten, die Bauernfamilie umzubringen. Einmal bist du total durchgedreht und hast dich an dem Gemetzel beteiligt.«
»Soll das ein Witz sein? Ich habe mich an dem Gemetzel beteiligt?«
»Nur ein einziges Mal. Völlig untypischer Ausgang. In den meisten Fällen warst du das Opfer. Zweiundzwanzigmal vor Erreichen der Kirche. Der Meuchelmörder musste die anderen schützen.« Er sah Adens Blick und erläuterte: »Vor dir schützen. Du hast Julius mehrfach angegriffen. Weil er dich beleidigte. Meist aber lief die Sache so ab, wie du sie in Erinnerung hast. Kleine Differenzen, dies oder das.«
»Ich glaube, dass ich verstehe, was du meinst. Und … wie nahm Opa mein Sterben auf?«
»Bei jedem Tod ein Schmerzensschrei. Und bei jedem Tod rückten die Dragoner der Kirche an. Aber Slythe bezwang sie mit seinen Blicken. Nie kam es zum Kampf. Ein Tag verging. Du erwachtest wieder in Alfred Gorrs Badewanne. An diesem Punkt zog ich die Uhr zum nächsten Versuch auf. So war es bis zu diesem Mal. Dieses Mal ließ ich den Ereignissen ihren Lauf. Keine Ideen mehr. Keine Zeit mehr.«
»Wow! Dein großer Plan bestand die ganze Zeit über darin, mich umzubringen.«
»Erst bliebst du mal eine Weile am Leben, bis der Weltenmacher dich überhaupt bemerkte. Dein Erwachen bei früheren Gelegenheiten, deine Begegnung mit Charm, das alles sollte seine Blicke auf dich lenken. Hat funktioniert. Er bemerkte dich. Deine Wirkung auf die Welt? Sie mit Leben zu erfüllen. Mit neuen Menschen. Mit Ereignissen. Er hat dich beobachtet. Beobachtet dich vielleicht immer noch. Greift aber nicht ein. Entweder sind ihm die Hände gebunden, oder er weigert sich schlicht, etwas zu unternehmen. Egal. Mein Plan? Dich zu töten, während er zusieht. Rechnete mir aus, dass es reichen würde, dich in Gesellschaft des Meuchelmörders zu lassen. Die Chancen, dass er dich umbringen würde, standen gut – solange er wusste, dass du eines von Muses Geschöpfen warst wie er. Er hasst den Gedanken, dass es andere Freaks wie ihn gibt. Hat in der Vergangenheit Dutzende von ihnen getötet. Keine Ahnung, warum er das macht. Will er mir nicht verraten.«
Aden lachte trocken. »Los, zieh die Uhr noch einmal auf! Mach einfach weiter, bis die Sache klappt. Tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Ich werde mir in Zukunft mehr Mühe geben.«
»Das geht leider nicht. Die Echtzeit läuft weiter, während ich unsere Zeit anhalte. Verstehst du, was ich damit sagen will? Unsere Zeit, das sind Ereignisse. Mehr nicht. Mit dem Vergessen, das die Welt bedroht, habe ich nichts zu tun. Da bin ich machtlos. Die Barriere rückt näher. Im Moment wieder mal ganz langsam, aber immerhin – sie bewegt sich. Hat sich die ganze Zeit bewegt, während ich die Uhr neu aufzog, um diese Ereignisse wieder in Gang zu setzen.«
»Die Barriere. Was ist das? Weißt du überhaupt, was das ist?«
»Das Vergessen? Was das ist? Nein. Nur, was es bewirkt. Aber ich habe so meine Theorien.«
»Und – darf man die auch erfahren?«
Der Mechaniker wand sich und bedachte ihn mit einem angewiderten Blick. »Könnte ein Teil von der Energie sein, die der Alte benötigt, um die Welt zu erhalten. Mentale Energie. Ja? Einverstanden?«
»Ich glaub’s dir mal.«
»Dein Tod auf jener anderen Welt, wo du ihn offenbar als ganz ›normalen Mann‹ kanntest. Als senilen, dem Tod geweihten Mann, der in einem Pflegeheim auf sein Ende wartete. So zumindest hast du es Kevas Rem erzählt. Und dass sich alle über seinen raschen Verfall wunderten. Ich stelle mir das so vor: Er erweckt dich von deinem ›echten‹ Tod. Bringt dich auf diese Welt. Als Fantasiegebilde. Kostet sicher unheimlich viel Energie, dich genau so hinzukriegen, wie du früher warst. Überleg mal! Wie er sich abmüht, dich im Gedächtnis zu behalten. Deine Vergangenheit. Wer du warst und wie du warst. Das Ausfüllen der Lücken. Erfordert jede Menge Konzentration, Gehirnenergie. Der Wall, die Grenze seiner Erinnerung an uns, seiner Vorstellung von uns … bewegt sich. Nach innen. Die Welt schrumpft, gerät in Vergessenheit, verschwindet. Verstehst du?«
»Ich geb mir alle Mühe, ehrlich.«
Der Mechaniker winkte ärgerlich ab. »Pass auf«, murmelte er und kritzelte eine Zeile in sein Buch.
Ein Mann aus Feuer erschien an der Tür. Sie konnten die Hitze fühlen, die er ausstrahlte. Rauch strömte aus seinen Augenhöhlen. Er winkte ihnen zu. Unter seinen Füßen verkokelte der Boden zu einem schwarzen Kreis.
»Jetzt verschwindet er«, sagte der Mechaniker und strich wütend eine Zeile in seinem Buch an. Der Mann aus Feuer war fort. Da, wo er gestanden hatte, stiegen weiße Rauchfahnen auf. »Siehst du? Ich kann fast alles bewirken. Fast alles beeinflussen. Nur dich nicht. Kann die Dinge in deiner Umgebung ändern, aber nicht erreichen, dass du stirbst. Kann dich mit anderen Figuren zusammenbringen. Aber du bist real.«
Aden nahm ihm gegenüber im Schneidersitz Platz. »Und was willst du von mir? Weshalb erzählst du mir das alles? Brauchst du meinen Rat? Bist du deshalb hergekommen?«
Der Mechaniker druckste herum. »Ja«, sagte er schließlich.
»Dann muss ich nachdenken. Und essen. Zuerst etwas essen. Durst habe ich auch.«
Mürrisch beschwor der Mechaniker Brathuhn mit Soße, Erbsen und knusprigen Kartoffeln sowie ein großes Glas Quellwasser. »Gesegnet seist du, Opa, der du in einem Pflegeheim sitzt und eine Schwester in den Hintern zwickst. Und gesegnet seien die Gaben, die mir dein seniler Geist beschert. Amen.« Aden trank das Wasser. »Noch lieber hätte ich Bier«, sagte er um einen Mundvoll Kartoffeln, die noch eine Spur zu heiß waren. »Ein schönes kühles Bier!« Eine weitere Zeile im Buch des Mechanikers, und neben dem Teller erschien ein Krug mit schäumendem Bier. Er nahm einen Schluck und schwenkte die Flüssigkeit mit Kennermiene im Glas. »Nicht schlecht. Würzig, stark, mit einer schönen Blume. Eine Spur zu viel Hopfen.«
»Zeitverschwendung«, sagte der Mechaniker, während Aden den Teller blank putzte.
»Tut mir leid«, seufzte Aden, trank schlürfend sein Bier leer und leckte sich die Lippen. »Und die Überraschung kommt noch. Ich weiß nämlich echt nicht, was ich dir raten soll.«
Der Mechaniker fletschte die Zähne und funkelte ihn wütend an. »Du stößt uns alle in das Nichts.«
»Ich habe keine Ahnung, wie sich das verhindern lässt. Obwohl ich mir das Hirn zermartere. Großes Ehrenwort. Ich weiß einfach zu wenig über die ganze Angelegenheit. Komm morgen um die Frühstückszeit wieder. Bis dahin ist mir sicher etwas eingefallen.«
»Die Welt stirbt. Und du erpresst mich für eine Mahlzeit?«
»Du hast doch dafür gesorgt, dass ich hier bin, du Wichser!«
»Nein. Das war Muse.«
»In dieser Kirche, meine ich. Die Gefangenschaft war sicher dein Einfall. Du hast das alles arrangiert, oder? Das Mindeste, was du für mich tun kannst, ist ein ordentliches Essen. Wollte mich der Priester verhungern lassen, oder was?«
»Der hält dich für einen Teufel. Und Teufel brauchen keine Nahrung.«
»Vielleicht könntest du ihm das ausreden.«
»Vielleicht hat er ja recht.« Der Mechaniker klappte das Buch zu und erhob sich. »Ich höre mich mal um, ob andere eine Lösung parat haben. Vielleicht komme ich wieder, vielleicht auch nicht.«
»Wie lange gedenkt ihr, mich hier festzuhalten?«
»Das muss ich mit Tom besprechen. Hier bist du am ehesten in Sicherheit. Die Leute vom Schloss halten nach dir Ausschau. Sie haben die Absicht, dich zu foltern. Aber sie werden dich nicht entdecken. Nicht, wenn Julius die Suchaktion leitet. Sobald ich weiß, wie es weitergeht, wirst du gerettet.« Der Mechaniker verschwand ebenso unvermittelt wie zuvor der Mann aus Feuer.