KAPITEL 1
Abendessen bei den Gorrs
Von sich selbst wusste er anfangs nur, dass er tot war und auf etwas Hartem, Kaltem lag. Dann fiel ihm sein Name wieder ein, Aden Keenan, zusammen mit vereinzelten Erinnerungen, die keinen Sinn ergaben, eigentlich nur Schemen, die verschwommen aus einer nebelweißen Dämmerlandschaft tauchten. Da sie keinen Sinn ergaben, die einzelnen Erinnerungen, machte er sich nicht die Mühe, sie näher zu betrachten. Stattdessen schob er sie beiseite, für später, wenn sich der weiße Nebel (hoffentlich) lichten und den Blick auf das Leben dahinter freigeben würde … auf den, der er jetzt war, auf den, der er früher, vor seinem Tod, gewesen war.
Ganz in der Nähe tropfte ein Wasserhahn, das vertrauteste Geräusch auf der Welt. Er schlug die Augen auf und blinzelte. Er lag in einer Badewanne. Kaltes Porzellan im Nacken und an den Beinen. Nackt. Mondbleicher Körper, über und über mit Gänsehaut bedeckt. Eine Mischbatterie klemmte hinter seinem Ohr und drückte ihm den Kopf nach vorn. Tropfen aus dem Wasserhahn sammelten sich in der Grube seines Schlüsselbeins, sickerten nach unten. Ein dünner Mondstrahl fiel durch eine Oberlichte direkt auf ihn herunter. Wo er sein Knie berührte, kribbelte die Haut. Seine erste Bewegung bestand darin, an dem Fleck zu reiben. Dann rutschte er zur Seite, um dem Lichtspeer auszuweichen.
Er erhob sich, mager und nackt, mit wirrem, kurzem schwarzem Haar, ein junger Mann von zweiundzwanzig, dreiundzwanzig (wie alt genau er war, entzog sich seiner Erinnerung). Seine Finger umklammerten die Handgelenke, ertasteten die Längsschnitte an den Pulsadern, die er sich – das war keine Erinnerung, sondern Wissen – selbst zugefügt hatte. Warum er das getan hatte, war ein weiteres Rätsel, aber das Bild jener Tat hatte einen festen Platz in seinem Gehirn: zitternde Finger, zur Faust geballt, während sich die Messerspitze einen Zoll tief in den Arm grub und einen roten Schlitz zum Ellbogen hin zog.
Er schloss die Augen und verdrängte das Bild. Es verursachte ihm Übelkeit.
Diese vereinzelten Erinnerungen, diese Schemen im Nebel, waren alles, was er von seinem Leben besaß. Er nahm sich eine davon vor und sah – einen Sechsjährigen, der im Schneidersitz auf dem groben braunen Teppich im Wohnzimmer seines Großvaters kauert und sich von Zeit zu Zeit an den Schienbeinen kratzt, weil das raue Gewebe so juckt. Der Junge klatscht vergnügt in die Hände, während ihm der alte Mann eine Geschichte aus dem Märchenbuch vorliest, das aufgeschlagen auf seinem Schoß liegt. In einem leisen Singsang spricht der Junge die Stellen mit, die sich reimen und wiederholen. Dann, später, ist der Kleine dem Weinen nahe, weil ihm etwas in dem Märchen Angst einflößt, doch der alte Mann liest einfach weiter und ahmt mit grollender Stimme einen bösen Geist oder Menschenfresser nach. Die Furcht, der Geschichte entsprungen, hämmert dem Jungen ein paar Lehren ein: Nimm dich vor Fremden in Acht, weiche nicht von deinem Weg ab, sei nicht habgierig! Das Kind rutscht hin und her und beginnt zu weinen. Die Stimme des alten Mannes faucht, knurrt, keift.
Diese Erinnerung hob sich so klar und scharf gegen das Nichts ringsum heraus, als spielte sich die Szene direkt vor seinen Augen ab. Es war fast ein Schock, in das Badezimmer zurückzukehren, in die Wanne mit der Mischbatterie, die sich hart in seinen Nacken schob, in den Körper eines jungen Mannes, eines Toten.
Blinzelnd starrte er in einen Wandspiegel, sah, wie sich sein magerer Körper aufrichtete, und bedeckte mit beiden Händen sein Geschlecht. Zahnpastaspritzer, getrocknete Seifenflecken und ein Netz von winzigen Sprüngen trübten das Glas. Er hob die Finger an die Wange, drückte sie in die Haut. Dann tastete er mit einer Hand die Brust ab, als müsste er sich vergewissern, dass sein Körper aus Fleisch und Blut bestand. Da war das vertraute kleine Muttermal an seinem Hals. Er spähte in die dunkelbraunen Augen seines Spiegelbilds, versuchte in die Seele des Fremden einzudringen, den er vor sich sah. »Hallo, du da!«, sagte er.
Ein altmodisches Rasiermesser lag auf dem Beckenrand, bedeckt von Rost und getrockneten Blutflecken. Bei dem Anblick zuckte er zusammen, als schwach erinnerter Schmerz über seine Handgelenke wanderte, ganz kurz nur.
Aden kletterte aus der Wanne, spürte kalte Fliesen unter seinen Sohlen. Das Frösteln kroch von seinen Füßen nach oben.
In der Wanne lag jetzt ein großer Bilderrahmen. Wie war das Ding an die Stelle gelangt, von der er sich gerade entfernt hatte? Die Leinwand selbst war leer, mit einem blutroten Rand, der den Eindruck erweckte, die Farbe ergösse sich über den Rahmen. Er beugte sich herab, strich mit den Fingerspitzen sanft über die glatte, leere Fläche. So glatt war sie, dass er den sonderbaren Drang verspürte, sich darauf auszustrecken. Er zerrte den Rahmen aus dem Bereich des tropfenden Wasserhahns. Ein Berg schmutziger Wäsche in der Ecke neben der offenen Tür verströmte einen starken Schweißgestank. Draußen im Gang kündeten Schritte und laut knarrende Dielenbretter von einer Welt jenseits des kleinen kalten Badezimmers.
Im Spiegel huschte der Umriss einer hochgewachsenen Frau vorbei, die im trüben Licht des Korridors krumm und irgendwie missgestaltet wirkte. Aber das konnte täuschen, da er sie nur flüchtig erspäht hatte. Sie summte eine fröhliche Melodie, als sie vorbeiging, ohne einen Blick durch die einen Fußbreit geöffnete Badtür zu werfen. Weitere Geräusche. Von unten das ferne Dröhnen einer Stimme, die an einen Bären erinnerte und lautstark Fragen durch die Gegend brüllte.
»Gleich komme ich, gleich«, vernahm er die heisere Antwort der Frau, die einen neckischen Ton angeschlagen hatte. Sie schien glücklich und zufrieden zu sein. Ihre Schritte wurden leiser und entfernten sich über eine Stiege nach unten. Knarr, knarr, knarr. Aus der Tiefe drang erneut das Dröhnen. Vom Badezimmer aus ließ sich unmöglich erkennen, ob die Stimme fröhlich oder wütend klang.
»Wer bist du?«, fragte Aden den Spiegel. Der blieb stumm.
Wieder kam das Dröhnen von unten, laut wie Schmerzgebrüll. Vielleicht bin ich ja Goldlöckchen, dachte er und führte zum Spaß einen seltsamen Tanz auf. Er genoss die lächerlich eckigen Bewegungen seines spillerigen, bleichen Körpers, der nur aus Ellbogen, Knien, Rippen und einem wild schlackernden Schwanz zu bestehen schien. Als er in den schmuddeligen Klamotten herumwühlte, fühlte er sich plötzlich ausgelassen und unbekümmert. Er fand eine lange Hose, in deren Bundschlaufen noch ein Gürtel baumelte. Er zog sie an, obwohl sie bestialisch stank, und schnallte den Gürtel so eng wie möglich. Dann spähte er in den Korridor hinaus. Die Stimme, die wie Donnergrollen zu ihm heraufklang, hob und senkte sich im Gespräch. Hin und wieder klirrte Besteck, oder ein Krug wurde laut scheppernd auf einem Tisch abgestellt.
Die Dielenbretter knarzten, als er auf Zehenspitzen den Flur betrat, mit einer Hand die rutschende Hose festhaltend, sorglos gegenüber jeglicher Gefahr. Was konnte einem Toten schon Schlimmes begegnen? Was er zunächst für einen Teppich unter den Füßen gehalten hatte, entpuppte sich als eine dicke Schicht loser Borsten, manche rötlich, manche dunkelbraun. Er kniete nieder und hob etwas von dem verfilzten Zeug auf, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Flöhe krochen darin herum.
Die verblichenen, mit gelben Blümchen gemusterten Tapeten im Korridor wiesen an vielen Stellen lange, parallele Risse auf, die von scharfen Krallen zu stammen schienen. Jemand hatte die schlimmsten Schäden mit gelber Farbe überpinselt.
Aden blieb vor einem großen Foto stehen. Es zeigte einen Hünen mit grimmig blitzenden Augen, der einen Arm um einen zweiten Mann gelegt hatte, Letzterer eindeutig ein Irrer, der schlaff in die Kamera winkte, leicht schielend, mit einer wilden Haarmähne und einem starren Grinsen. Der zweite Mann schien nackt zu sein. Beide Männer waren vom Hals abwärts mit Blutspritzern übersät. Die Aufnahme verriet nicht, von wem das Blut stammte (wenn es überhaupt von einem der beiden stammte).
Außerdem schmückten Gegenstände die Wände, die Aden beunruhigt hätten, wenn er nicht tot gewesen wäre: brutale Hieb- und Stichwaffen mit schartigen, auf Hochglanz polierten Schneiden, die wie Zierrat oder Trophäen an Lederriemen aufgehängt waren. Neben einer antik wirkenden Uhr, deren Pendel sich nicht mehr rührte, hing eine gerahmte Urkunde mit folgendem Wortlaut:
Gewidmet
ALFRED GORR
für zehn Jahre treue Dienste
für Days Past und die Weltenmacher-Kirche
Aden erreichte eine Holztreppe, die noch lauter knarzte als die Dielenbretter und deren Stufen sich bei jedem Schritt durchbogen. Am unteren Ende befand sich der Haupteingang des Hauses. Die Türfüllungen wiesen die gleichen tiefen Rillen auf wie die Tapeten droben im Flur. Das Werk scharfer Klauen, wenn er sich nicht täuschte. Die Schlösser und Sperrketten, die an der Innenseite angebracht waren, hätten ausgereicht, eine ganze Armee am Eindringen zu hindern: mattes Messing, glänzender Stahl, primitive Ketten, mehrfach um den Türknauf gewunden.
Die dröhnende Stimme war jetzt sehr nahe, in ein Gespräch mit einer Person verwickelt, die immer wieder keuchend lachte. Aden presste beide Hände gegen die Wand und spähte vorsichtig um die Ecke.
Der Mann, den er auf dem Foto im Flur gesehen hatte, saß am oberen Ende eines ausladenden dunklen Holztisches. Er trug das dichte schwarze Haar in der Mitte gescheitelt und eng an den mächtigen runden Schädel geklatscht, durchzogen von dünnen weißen Linien, die der Kamm hinterlassen hatte. Ein struppiger Schnauzer reichte bis zu seinen dicken Backen und ging dort in einen Stoppelbart über. Eng zusammenstehende Schweinsäuglein blinzelten zwischen Speckwülsten hervor. Aus dem weit aufgerissenen Mund kam schallendes Gelächter, das wie Steine auf die Tischplatte zu poltern schien und sie zum Erzittern brachte. Der Mann – vermutlich Alfred Gorr, wie es auf der Urkunde droben im Flur stand – trug ein Trikothemd, dessen schmale Träger sich über muskelbepackten, mit schwarzen Haarkringeln bedeckten Schultern spannten. Auf einem Platzset vor ihm stand ein leerer Teller, groß wie ein Tablett. Sein Bauch hüpfte beim Lachen, und seine vor Bosheit und hinterhältigem Vergnügen funkelnden Äuglein waren starr auf das Geschöpf neben ihm gerichtet.
Die beiden Männer waren offensichtlich verwandt. Sie hatten das gleiche drahtige Haar und die gleichen grobschlächtigen Gesichtszüge. Der Jüngere wirkte etwas schlanker. Seine Hand sauste einem Richterhammer gleich auf den Tisch nieder. Leere Schüsseln und Teller klirrten und klapperten, und die Gabel in seiner Faust knallte wie ein Pistolenschuss, als sie gegen die Tischplatte schlug.
»Innerei!«, brüllte Mister Gorr und setzte den Krug so heftig ab, dass das Bier in alle Richtungen schwappte. Er lachte über den Klang des hervorgestoßenen Wortes, als kostete er die Macht der Sprache zum ersten Mal richtig aus. »Innerei!«, wiederholte er. »Teller, Gabel und … verdammt noch mal, das reimt sich nicht! Konversation an der Tafel wird nur geduldet, wenn sie sich reimt, mein Junge! So gehört sich das! Tischmanieren! Mal überlegen … Teller, Gabel, Innerei… Flei…sch! Aha. FLEISCH! Rote Soße und Fleisch. Wo bleibt die Soße? Wo das Fleisch?« Die Augen des jüngeren Gorr blieben an der Gabel hängen und leuchteten. Der ältere Gorr sah das. Seine Augen begannen ebenfalls zu leuchten. Ohne Vorwarnung schnellte seine Riesenpranke vor und stieß die Gabel tief in die Wange des Jüngeren. Beide ließen sich in ihre Stühle zurücksinken, warfen die Köpfe zurück und brachen in wildes Gelächter aus. Die Gabel, die immer noch aus der Wange des Halbwüchsigen ragte, bebte und fiel mit lautem Klirren auf die Tischplatte. Ein dünner Blutstrahl lief dem Jungen in den spärlich sprießenden Bart und tropfte von da auf sein Platzset und die Tischdecke.
Das Gejohle des Älteren endete abrupt. Er beugte sich vor und ohrfeigte den Jungen, bis auch der verstummte und sich erwartungsvoll zurücklehnte. »Das is mein Sohn, jawoll, das is mein Sohn!«, knurrte er und senkte dann vertraulich die Stimme: »Hättste mal hören sollen, wie der alte Corbert heute vor Schmerzen schrie. Quiekte wie – na, wie wohl, mein Sohn? Ich geb dir ’n Tipp. Oink, oink, oink, wie ’ne Sau! Na los, is nich schwer zu erraten!«
»Quiekte wie ’ne Sau?«, fragte der Junge und klatschte in die Hände.
»OINK OINK!«, brüllte Mister Gorr. Wieder brachen die beiden in wildes Gelächter aus, der Junge rau und keuchend, der Alte, als feuerte er eine Kanone nach der anderen ab. Sie beruhigten sich erst wieder, als sie keine Luft mehr bekamen. »Hab ihm eine mit dem Elektroschocker gezündet«, berichtete der Vater gedämpft, fast ehrfürchtig. »Hab ihm eine gezündet wie … oink, oink. Zack auf die Fresse, dann ausgepeitscht und Salz in die Striemen, bis er aus allen Rohren blutet und fast hinüber ist. Richtet sich auf, sackt zusammen, Nasenstüber, aber immer feste, mein Junge. Nochmals Elektroschocker, Volltreffer, dass die Zähne wackeln!« Mister Gorr blinzelte, schüttelte sich und schien sich aus seinen Meditationen zu lösen. »PUFF!«, sagte er.
»Puff!«, meinte sein Sohn zustimmend. Blut sickerte langsam aus den Einstichstellen der Gabelzinken.
»Tausend … Vooolt!«, johlte Mister Gorr.
Der Jüngere nahm seine Gabel in die Hand und rammte sie tief in die andere Wange. Sein Vater beobachtete ihn verblüfft, ehe er sich so heftig gegen die Stuhllehne stemmte, dass sie vernehmlich knirschte, den Kopf in den Nacken warf und begeistert loswieherte. Lachkrämpfe erschütterten seinen massigen Körper. Seine Stimme erreichte das Schrillen einer Kreissäge. Er rang nach Luft. Tränen hemmungsloser Heiterkeit rollten ihm über die Wangen.
Die Frau, die Aden im Flur erspäht hatte, betrat nun den Raum, eine etwas schmalere Ausgabe der beiden Männer und offensichtlich die Gebieterin dieses Haushalts. Sie trug ein gelbes Kleid mit frischen roten Flecken, und ihre schweren Hängebrüste pendelten bei jedem Schritt hin und her. Dazu kamen schiefe Zähne und ein boshafter Glanz in den Augen. Dennoch war sie von der Aura einer tüchtigen Hausfrau umgeben. Sie schleppte einen riesigen schwarzen Kessel herein, aus dem dichte Dampfschwaden und der eklige Geruch von zu lange abgehangenem Fleisch aufstiegen.
Der Hausherr schmatzte vor Vergnügen und rief: »Mmm!«, als sie den Kessel vor ihm abstellte. Die Dame betrachtete ihn mit der Zufriedenheit einer Matrone, die aufopfernd für ihre Lieben sorgt. Dann musterte sie zärtlich und missbilligend zugleich die blutverschmierten Wangen ihres Sohnes. Ihre Miene besagte, dass sich solche Kindereien zur Essenszeit nicht gehörten und sie gute Lust habe, die beiden zu bestrafen, dass sie jedoch noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen wolle.
Vater und Sohn schien der Kessel in eine Art Hypnose zu versetzen. Stille senkte sich über den Raum. Mister Gorr atmete röchelnd durch die Nase. Seine Augen weiteten sich langsam wie bei einem sprungbereiten Tier; die Nasenflügel blähten sich; die Hände bebten so heftig, dass Messer und Gabeln auf dem Tisch umherschlitterten. So ging das eine halbe Minute oder noch länger. Dann ließ die Anspannung unvermittelt nach. Er riss den Kessel mit beiden Armen hoch, kippte ihn und hielt ihn sich an die Lippen. Dampf hüllte seinen Kopf ein, als er sich den Inhalt ins Gesicht schüttete. Eine heiße Sturzflut aus Fleischklumpen und roter Soße schwappte ihm über Kinn und Brust. Schnaufend und prustend setzte er den Topf ab, um Luft zu holen; dann tauchte er den Schöpflöffel so tief ein, als wollte er sich kopfüber hineinstürzen, und begann hastig, halb rohe Batzen von irgendwelchen Schlachttieren auf seinen Teller zu häufen, Gesicht und Hals soßenverschmiert. Der Sohn stöhnte hungrig und schob seinen Teller vor, um wenigstens einen Teil der Soße aufzufangen. Die Herrin des Hauses hielt geziert einen Strohhalm zwischen Daumen und Zeigefinger und stupste ihn von Zeit zu Zeit in eine winzige rote Pfütze auf ihrem Teller, den kleinen Finger abgespreizt wie eine sittsame Edeldame, während ringsum eine Orgie aus Schmatzen, Rülpsen und wohligem Stöhnen tobte. Vater und Sohn waren so mit Soße bespritzt, dass man sie für halb verhungerte Tiere halten konnte, die im aufgerissenen Kadaver eines frisch erlegten Zebras wühlten.
Die Fressorgie ging weiter. Nichts konnte sie bremsen oder aufhalten. Soße tropfte ihnen über die Hemden in den Schoß. Sobald der Kessel leer war, trippelte Mrs. Gorr anmutig und mit wiegenden Hüften in die Küche, um einen zweiten und dann einen dritten Kessel zu holen und ihn genau in dem Moment vor Mister Gorr abzustellen, da er die letzten roten Tropfen schlürfte (und den leeren Riesentopf achtlos über die Schulter nach hinten warf, wo er mit lautem Scheppern auf dem Steinboden landete). Heißer Dampf stieg ihm in die Nase, er atmete tief durch, flüsterte: »Innerei!«, und heftete die Blicke starr auf den nächsten Kessel. Gabel und Schöpflöffel hatten längst ausgedient. Er wühlte mit bloßen Händen in den brühheißen Innereien und schob sich ganze Fäuste voll in den Mund, ohne darauf zu achten, dass er sich Wangen und Kinn verkleisterte. Der jüngere Gorr klaubte sich das Zeug vom Hemd seines Vaters, vergrub dann das Gesicht in seiner Schüssel und kam nur hoch, um Luft zu holen oder verzückt zu stöhnen. Mittlerweile spritzte die rote Soße bis unter das Dach.
Mister Gorr attackierte die Essensberge, als stellten sie eine Bedrohung dar. Mehrmals verschluckte er sich, und sein Knurren ging in ein schleimiges Husten über. Hin und wieder gelang es seinem Sohn, ihm den Kessel zu entwinden. Einmal währte der Kampf eine gute Weile, der Sohn zerrte unter lautem Protestgeheul, der Vater mit zornig blitzenden Augen und gefletschten Zähnen. Die Mutter entschied das Gerangel, indem sie dem Jungen einen Schlag auf den Arm versetzte und ihn krächzend wie eine Krähe ermahnte, dass Pa schließlich schwer arbeite und deshalb »ordentlich futtern« müsse. Der Sohn flennte erbärmlich. Mister Gorr schaufelte die »Innerei« in sich hinein.
Die Dame sog geziert an ihrem Strohhalm und hielt von Zeit zu Zeit eine Hand vor die gespitzten Lippen, wohl zur Erinnerung, dass Essensgeräusche nicht vornehm waren – auch wenn man sie in dem Geschmatze ringsum kaum gehört hätte. Soße bedeckte ihr Kleid und ihre Haare. Mit einem zufriedenen, schmallippigen Lächeln sah sie ihren Lieben beim Essen zu. Sie schien auf etwas zu warten.
Von Mister Gorr kam ein Rülpser in einer bestimmten Tonlage – vielleicht das Signal Ich bin satt, denn als sie es vernahm, erhob sie sich, blickte auf ihren Gemahl herunter, schob einen Finger unter die Schulterspange ihres Gewands und streifte den Träger ab. Eine pendelnde Brust kam zum Vorschein, sie allein frei von roter Soße und deshalb obszön weiß.
Mister Gorrs Fresserei endete mit einem Schlag. Seine Hände begannen zu zittern. Er stellte den riesigen schwarzen Kessel ab, atmete einige Male tief durch und brummte. Seine Augen weiteten sich. Mrs. Gorrs Teller segelte vom Tisch. Sein Brusthaar sträubte sich, die Muskeln schwollen an, und in einem Sprühregen aus roter Soße warf er sich in die Arme seiner Gemahlin. Ein kurzer Ringkampf, dann rollten sie von der Tischplatte und landeten auf dem Boden; der Tisch begann heftig hin und her zu schlingern. Teller und Bestecke flogen klirrend in alle Richtungen.
Ihren Sohn schien das alles nicht weiter zu kümmern. Er begriff nur, dass der halb volle Kessel im Moment unbewacht war. Also packte er ihn, hob ihn an die Lippen und schlang den Inhalt in sich hinein, vor Begeisterung stöhnend wie seine Eltern unter dem schlingernden Tisch.
Aden hatte mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass die Geräusche und Gerüche dieses – Traums? – deutlich in eine Richtung wiesen. Ein lebendiger Mensch wäre erschüttert gewesen. So viel stand fest. Aber ein Toter würde auf keinen Fall diese schleichende Angst spüren, die ihm die Eingeweide zusammenzog, oder sich Gedanken über die Herkunft der Fleischbrocken in diesem verdammten Stew machen. Diese Leute, diese sonderbaren Wesen – war er etwa in einem Cartoon gefangen? Das hier konnte nicht das Jenseits sein. Nie und nimmer. Bitte, dachte er. Lass es nicht das Jenseits sein!
Immer noch schlingerte und rumpelte der Tisch. Mister Gorrs Keuchen steigerte sich zu einem seltsam schrillen, wütenden Hecheln. Mrs. Gorr gab ihm hin und wieder raue Anweisungen, aber die meiste Zeit stöhnte sie nur. Aden schüttelte sich und versuchte die Geräuschkulisse auszublenden.
Wie sollte er vorgehen? Konnte er noch Schmerz empfinden? Das war eine Schlüsselfrage. Seine Knie- und Knöchelgelenke hatten geknackt, als er die Treppe hinunterstieg, aber die Nerven waren noch nicht auf den Prüfstand gestellt worden. Mit einem Achselzucken rammte er den bloßen Fuß hart gegen den Wandsockel. Die Antwort kam umgehend: Schmerz einer völlig normalen, ganz und gar irdischen Sorte. Was die Angelegenheit natürlich erschwerte. Jedenfalls hatte er noch keine ideale Lösung, als der Schmerz zu einem dumpfen Pochen verebbt war. Also betrat er den Speisesaal, räusperte sich und sagte: »Hallo!«
Der Tisch hörte unvermittelt zu schlingern auf. Kurz darauf verstummte das Klappern und Klirren des Geschirrs. Über den Raum senkte sich die Stille eines Schlachtfelds unmittelbar vor dem ersten Schuss.
Der junge Sire Gorr starrte ihn mit weit offenem Mund an. Halb zerkaute Fleischbrocken klatschten zurück in die Schüssel. Aden räusperte sich erneut und sagte, diesmal lauter: »Hallo! Äh … Grüße von der Erde. Hi.«
Unter dem Tisch kam es zu einer Explosion, als Mister Gorr seine stürmischen Zärtlichkeiten vollendete. Er röhrte wie ein Drache. Der Tisch hob sich, kippte nach vorn und schlitterte durch den Raum. Die Schüssel des Sohnes flog an die gegenüberliegende Wand und zerschellte.
Mister Gorr zog hastig seine Hose hoch, erhob sich und warf einen Blick auf Aden. Seine Augen weiteten sich vor Staunen und – Furcht. Aden traute seinem Urteil nicht. Weshalb sollte dieser Hüne ihn fürchten?
Mrs. Gorr lag mit weit gespreizten Beinen am Boden. Ihr Kleid war bis über die Taille hochgerutscht. Mister Gorrs Spucke glänzte auf ihrem Kinn und Hals, wo er die letzten Tropfen Soße weggeschleckt hatte. Sie runzelte die Stirn und musterte Aden völlig konsterniert.
Mister Gorr blinzelte, schluckte Luft, klappte den Mund auf und wieder zu, rieb sich die Augen. »Bei Cug«, raunte er. »Bei Cug, dem alten Geist der Meere! Das Ding ist zum Leben erwacht.«
»Alfred?«, erkundigte sich Mrs. Gorr. »Hast du Gäste eingeladen?«
»Nich doch, Schätzchen!«, murmelte Mister Gorr. »Das sollte ’ne Überraschung zum Hochz…« Er unterbrach sich und ballte die Hände hilflos zu Fäusten.
»Wie kam er dann hier rein, Alfie?«, fragte Mrs. Gorr. »Das Tor ist seit fünf zugesperrt.«
Mister Gorr klappte stumm den Mund auf und zu.
»Hallo«, sagte Aden und räusperte sich. »Ich habe nicht die verdammte Spur einer Ahnung, wer ich bin, aber ich will mich trotzdem mal vorstellen. Ich bin eigentlich tot, scheine jedoch irgendwie ins Leben zurückgekehrt zu sein. Ich kenne euch nicht, Leute, aber … nun ja, ihr widert mich echt in jeder nur erdenklichen Hinsicht an. Tut mir leid, wenn ich das so direkt sage. Und ich will nicht leugnen, dass der Koloss da mir ganz schön Angst einjagt.«
Die Gorrs starrten ihn an.
Aden zuckte die Achseln. »Ma’am, was Sie da zusammengekocht haben, erinnert mich an alles, was ich je ausgekotzt habe, aber zumindest scheint es reichlich Proteine zu enthalten. Darf ich noch hinzufügen, dass Ihr Sohn Ihnen beiden ganz verblüffend ähnelt – was Sie möglicherweise als Kompliment auffassen, da Sie ganz sicher andere Schönheitsideale als ich haben. Hey, alle mal herhören! Wie wär’s, wenn ihr mich wieder plattmacht? Damit ich in Frieden ruhen kann, oder was immer. Ich weiß ehrlich nicht, wie es weitergehen soll. Soll ich mit hoch erhobenen Armen umherwandeln und ›Hirn her!‹ schreien? Weiß nich so recht, Leute. Das Tor aufsperren? Ist nur so eine Idee. Auf diese Weise hättet ihr mich am schnellsten wieder los. Vielleicht kann ich ja durch die Gegend geistern, auf der Suche nach Abenteuern oder was es sonst so bei euch gibt. Jedenfalls danke ich euch fürs Zuhören.«
Die Mitglieder der Familie Gorr gafften ihn unverwandt, reglos und mit weit aufgerissenen Mäulern an.
Aden räusperte sich wieder. »Also, im Grunde … bin ich als Gespenst relativ unerfahren. Aber legt mir meine Offenheit bitte nicht als übertriebenes Selbstvertrauen und folglich gewaltigen Heldenmut im Kampf aus! Mit anderen Worten, lasst euch nicht zu dem irrigen Schluss verleiten, ihr müsstet mich mit besonderer Härte anfassen. Ich bin ziemlich sicher, dass mich Mister Gorr ohne viel Federlesens in meine Bestandteile zerlegen könnte, wenn er es darauf anlegte.«
Sie gafften ihn an.
»Ich schätze, jetzt seid ihr mal am Ball«, meinte Aden. »Ich habe genug geredet.«
Mister Gorr bemühte sich, der Aufforderung Folge zu leisten. »’stagsgeschenk«, murmelte er schließlich.
»Bringt mich nicht viel weiter«, sagte Aden.
»Hochzeitstagsgeschenk«, wiederholte Mister Gorr mit Nachdruck.
»Unser Hochzeitstag ist doch erst morgen, mein Lieber«, warf Mrs. Gorr ein.
Mister Gorr raunzte etwas vor sich hin. Sein Arm zitterte, als er auf Aden deutete. »Da!«, brüllte er los. »Das isses! Der da! DER ISSES!«
»Aha!«, sagte Aden und wich ein paar Schritte zurück.
Mister Gorr kam ihm nach und flüsterte: »Welche Teufelei …?« Er wandte sich seiner Gemahlin zu und scheuchte sie mit einer Handbewegung in die Küche. Sie stand auf, strich ihr Kleid glatt, nahm ihren Sohn an der Hand und führte ihn weg.
Mit schweren Schritten trat Mister Gorr näher, die Augen weit aufgerissen. Die Dielenbretter bogen sich unter dem Gewicht des Hünen durch. Dann war er nur noch eine Armlänge von dem jungen Mann entfernt, der ihm mit dem Kopf kaum bis an die Brust reichte. Aden schwang die Faust nach oben. Sein Hieb landete mit einem teigigen Klatschen unter Mister Gorrs Auge.
Mister Gorr schien den Angriff nicht einmal zu bemerken. Er tastete Adens Gesicht mit seinen dicken Wurstfingern ab und murmelte: »Cor! Die gleichen Ohren wie der Alte, wenn es nicht … Mannomann!« Er strich Aden über die Arme und Schultern und zog dann rasch die Hand weg. »Wann?«, knurrte er. »Eh? Wann?«
»Gute Frage«, entgegnete Aden.
»Wann bist du aufgewacht? Wann?«
»Ach so. Heute Abend. Vor zwanzig Minuten vielleicht. Ich habe keine Ahnung, wie oder warum.«
»Keine Farbe, eh? Nicht aus Farbe gemacht?«
»Nein, Sir. Eher aus den üblichen Zutaten, glaube ich.« Der Bilderrahmen. »Aaah! Aber … also, allmählich dämmert mir, worauf Sie hinauswollen, auch wenn das Ganze nicht viel Sinn ergibt.«
Mister Gorr nahm Adens Handgelenk, drehte die Innenseite nach oben und starrte sie an. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen. »Geht’s wieder besser?«, erkundigte er sich.
»Yeah. Jawohl, Sir. Ich glaube schon.«
Mister Gorr warf einen besorgten Blick durch die offene Küchentür, zu seinem Sohn und seiner Gemahlin, die dem Gespräch ängstlich lauschten. Er gab Aden durch einen Wink zu verstehen, ihm zu folgen, und ging mit plumpen, weit ausholenden Schritten auf die Treppe zu.
Am unteren Ende der Stufen blieb Aden stehen, weil ihm etwas ins Auge fiel, das er auf dem Weg ins Erdgeschoss übersehen hatte. Es war ein weiteres Bild, diesmal eine sehr naturgetreue Zeichnung in einem kleinen Glaskasten. Die Skizze stellte seinen Großvater dar. Herbert Keenan. Er betrachtete sie aus der Nähe, um ganz sicherzugehen, ehe er sie von der Wand nahm und in einer der Riesentaschen seiner Hose versteckte.
Im Bad angekommen, unterzog Mister Gorr die gerahmte Leinwand in der Wanne einer sehr gründlichen Prüfung. Er fuhr mit dem Daumen über den leeren, blutrot gesäumten Fleck. Seine Blicke wanderten immer wieder zwischen Aden und der Leinwand hin und her. Langsam und schwerfällig verglich er Adens Größe mit der Leinwandhöhe und runzelte die Stirn angesichts des Unterschieds. Aden war größer als der Rahmen. Dabei ging er sehr sorgsam mit Aden um, als befürchtete er, etwas ungemein Kostbares zu beschädigen. Hin und wieder murmelte er erstaunt: »Ganz der Bart des Alten«, oder: »Ganz die Augen des Alten.«
Irgendwann packte Mister Gorr Aden an den Schultern, schob ihn zu dem leeren Bild, das er an die Wand gelehnt hatte, und presste ihn gegen den Rahmen, bis sich die harte Oberkante in seinen Bauch grub. Aden stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Sachte, Großer«, sagte er. »Das wird nicht klappen, wenn ich Ihre Absicht recht verstehe. Mann, nun kriegen Sie sich wieder ein!«
»Hrm«, knurrte Mister Gorr und schob noch etwas kräftiger. Er drückte Adens Kopf nach unten, als versuchte er, ihn auf das richtige Maß zu verkleinern. Aden ließ sich das gefallen, bis seine Halswirbel knirschten. »Hey!«, fauchte er. »Lass das, du Arschloch!« Er fiel gegen die Wand und stieß den Rahmen mit den Knien zur Seite, als er sich aus Mister Gorrs Pranken losriss.
Mister Gorr betrachtete ihn mit nachdenklich gerunzelter Stirn. Eine Minute lang herrschte Stille. Dann beugte sich der Koloss zu Adens Verblüffung über den Wannenrand, schlug beide Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Gewaltige Schluchzer erschütterten seinen massigen Körper. Aden dachte an einen Anfall, bis er die Tränen durch Mister Gorrs Finger laufen sah. »Beileid«, sagte Aden. »Aber wofür eigentlich?«
»’stagsgeschenk«, klagte Mister Gorr und stieß mit dem Finger in Richtung Leinwand.
»Geburtstag?«
Mister Gorr riss die Augen weit auf, als hätte Aden seiner tiefen Seelennot Ausdruck verliehen. »Für Putricia. Hochzeitstag. Morgen. Wollte ihr das Bild schenken. Gemälde von dir.«
»Oh!« Aden kratzte sich am Kopf, weil er nicht recht wusste, was er sagen sollte. »Teuer?«
Mister Gorr schüttelte den Kopf. Ein Funke Humor blitzte in seinen feuchten Augen auf. »Geklaut«, gestand er. »Erst letzte Nacht. Von … du weißt schon … von dieser Frau, die Bilder malt. Wie heißt sie gleich? Muse. Corbert sagte, dass sie ihre Gemälde im Keller aufbewahrt. Also trat ich die Tür ein. Hält sich einen Vampir da unten, ehrlich, ich schwör’s. Hat mich gebissen, der kleine Mistkerl.« Er wies mit dem Daumen auf eine kleine Wunde an der Schulter, die gut eine Biss-Spur sein konnte. »Aber dem haben wir’s gegeben!« Mister Gorr demonstrierte einen rechten Aufwärtshaken und deutete ein Rückwärtstaumeln an. Aus der Tiefe seines Bauches drang rumpelndes Gelächter. Er seufzte. Wieder zogen ein paar Tränen Furchen durch die getrocknete Soße auf Wangen und Hals.
Aden fuhr mit einer Hand über die Leinwand, die bis auf die Blutspuren an den Rändern leer war. »Also, ich hätte da eine Idee.«
»Ähm?«
»Schon mal dran gedacht, dass Sie was malen könnten? Auf die weiße Fläche? Müsste irgendwie mit Blut zu tun haben, damit es zu dem Geklecker da außen passt. Auch wenn Blut erst mal nicht besonders romantisch klingt. Aber ich meine, Ihre Frau …« Er unterbrach sich, bevor ihm die Kränkung entschlüpfte. »Das Herz zum Beispiel. Besteht hauptsächlich aus Blut und ist doch das Symbol der Liebe. Yeah, malen Sie einfach was! Es muss gar nichts Besonderes sein, aber es wäre ein ganz persönliches Geschenk, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Mister Gorr rieb sich nachdenklich das Kinn. Die Stoppeln kratzten über seine fette Pranke wie Schmirgelpapier über Holz. »Ha!«, polterte er. »Kennt sich aus in Herzensdingen, der junge …«
»Aden, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Eden. Hmm, Eden. Guter Name. Aber mit was malen?«
»Tusche? Kreide? Blut?«
Mister Gorrs Miene umwölkte sich, während er überlegte. »Tusche, Kreide … Innerei-Soße!« Er sprang auf, stürmte zur Tür hinaus und stampfte durch den Flur, dass die Wände wackelten. In der Ferne schepperten Küchengeräte. Mrs. Gorr begann zu schelten.
Aden holte die Zeichnung aus seiner Tasche und betrachtete sie aus der Nähe. Kein Zweifel, sie stellte seinen Großvater dar. Herbert Keenan war aus irgendeinem Grund die einzige Person aus seinem früheren Leben, an die sich Aden deutlich erinnerte. Auf der Skizze mochte er um die sechzig sein, ein durch und durch unauffälliger Mann: große Nase, große Ohren, breite, gelichtete Stirn, Schnauzer, Brille. Er lächelte nicht. Sein Blick war ins Leere gerichtet und wirkte irgendwie abwesend. Ein Tagträumer.
Mister Gorr kam mit Gepolter zurück. Aden verstaute die Skizze wieder in der Tasche.
Der Koloss schleppte einen der großen schwarzen Kessel an, stellte ihn vor Adens Füßen ab und schaute ihn erwartungsvoll an, als wartete er auf weitere Anweisungen. Auf dem Grund des Topfes schwappte ein klumpiger Soßenrest. Mehr davon klebte an den Seiten. »Ein Pinsel?«, schlug Aden vor. »So ’n Ding zum Wändestreichen?«
Mister Gorr dachte angestrengt nach. »Pinsel, Pinsel … Malerpinsel. Hatte mal einen, aber wo der inzwischen sein mag … Hmm.« Wieder stampfte er durch das Haus und kehrte diesmal mit einer Frisierbürste zurück, in der ganze Nester von Mrs. Gorrs langen braunen Haaren hingen. In der anderen Hand schwenkte er ein Glas mit roter Flüssigkeit.
»Das mit dem Blut war doch nicht ernst gemeint«, sagte Aden.
»Corberts Blut«, erklärte Mister Gorr mit einem Grinsen. »Extrafarbe. Rote Farbe. Für den Übergang, hmm? Fangen wir an, mein Junge! Eden, stimmt’s?« Mister Gorr lachte heiser wie ein Seeräuber, tauchte die Haarbürste in den Kessel und schmierte einen langen Soßenstrich über die leere Leinwand.
Das Gemälde hatte als Porträt von Mrs. Gorr begonnen, zu Mister Gorrs Leidwesen aber bald jede Ähnlichkeit mit ihr verloren. Aden schlug vor, die roten Streifen in ein Liebesherz zu verwandeln, was Mister Gorr ein Freudengeheul entlockte. Er hieb Aden so begeistert auf den Rücken, dass der von seinem Hochsitz auf dem Badewannenrand kippte und mit dem Gesicht voran auf den Boden fiel. Irgendwann streckte Gorr junior – Chucky, wie Mister Gorr Aden verriet – den Kopf durch die Badezimmertür, um zu sehen, was sie machten. Mister Gorr zauberte eine Besteckgabel aus der Tasche und schlenzte sie aus dem Handgelenk in Chuckys Stirn. Chucky erhob ein empörtes Protestgeschrei und rannte davon. Mister Gorr wandte sich Aden zu. »Ein prächtiger Junge, was?«, polterte er, und Aden pflichtete ihm bei.
Mister Gorr konzentrierte sich auf sein Werk, und Aden unterbrach ihn nicht. Er hatte seine eigenen Probleme zu lösen. Wenn das hier eine Art Traum war, dann musste er sich über seine ungewöhnliche Logik und Dauer schon sehr wundern. Warum sprang er nicht von einer Szene zur nächsten? Von einem Elfenreigen über den Dächern etwa zu einem Boxkampf gegen ein Rennpferd? Vielleicht waren die Träume der Toten länger als die der Lebenden, so lang wie ein ganzes Leben.
Um sich die Zeit zu vertreiben, spähte er durch den Nebel in seinem Gehirn. Im nächsten Moment sah er verblüfft, dass die Schwaden zerrissen und den Blick auf seine Vergangenheit freigaben. Da war er, ein Wunderkind, ein begnadeter Musiker, der in kürzester Zeit jedes Instrument beherrschte, das man ihm in die Hand gab. College-Abschluss mit vierzehn. Erste wissenschaftliche Veröffentlichung mit fünfzehn. Während seine Mutter auf eine behutsame Entwicklung seines Talents bedacht gewesen war, hatte ihn sein Vater unerbittlich vorangetrieben, sodass er mit sechzehn von Auszeichnungen, ungebetenem Ruhm, Gastauftritten mit dem Staatsorchester, einem Beinahe-Sieg gegen den Schach-Landesmeister (den er durch seine Weigerung, die Partie abzuschließen, halb in den Wahnsinn trieb) und Stipendiumsangeboten völlig erdrückt war – ausgebrannt und bald darauf chronisch depressiv. Es folgten ein Jahr Psychiatrie, harte Drogen, Entzug, Obdachlosigkeit, Ladendiebstähle in Getränke- und Baumärkten … Er rutschte immer tiefer, bis er sich schließlich im Haus seiner Eltern die Pulsadern aufschnitt.
Aden kratzte sich am Kopf, nachdem er diese Erinnerungen gesichtet hatte. Etwas stimmte nicht – genau genommen stimmte gar nichts. Die Bilder waren real, liefen vor seinen Augen ab wie ein anschaulicher Film. Aber die Handlung wies Lücken auf. Weshalb hatte er im Bad seiner Eltern Selbstmord begangen, wenn er zuletzt obdachlos gewesen war? Weshalb konnte er sich jetzt nicht mehr an die langen Shakespeare-Passagen oder die naturwissenschaftlichen Texte erinnern, die er angeblich einmal auswendig gelernt hatte? Und weshalb ließ sich ein Fünfjähriger, der bereits mit den Werken der klassischen Literatur vertraut war, von seinem Großvater Märchen vorlesen?
Und haftete dem steilen Aufstieg und jähen Absturz nicht etwas Melodramatisches an? Der Stoff billiger Serien, für das Hausfrauen-Fernsehen zusammengeschustert von Leuten, denen nichts mehr einfiel. Wie von Endlos-Filmrollen spulte sich dieses unwirkliche Leben immer wieder vor Adens Augen ab, während er Mister Gorr, der mit seinem Riesenarm die Bürste umklammert hielt und von links nach rechts über die Leinwand schmierte, ermutigende Worte zuraunte. »Sehr gut. Schönes Rot. Das Rot gefällt mir. Das wird ein wunderbares Herz. Elegant geschwungen. Romantisch, würde ich sagen. Und rot, herrlich rot.«
»Guter Junge!«, rief Mister Gorr.
»Eine Frage, Mister Gorr. Wo genau befinden wir uns eigentlich?«
»Im Bad«, raunzte Mister Gorr.
»Yeah, aber auf welchem Fleck der Erde? Angenommen, wir hätten eine Landkarte mit einem Pfeil, der anzeigt, wo wir gerade sind, wie hieße dann die Gegend hier?«
»Gegend?«
»Distrikt. Staat. Stadt. Dorf. Planet. Welt.«
»Dorf! Nennt sich Days Past.« Mister Gorr lachte, vermutlich über Adens Unwissenheit.
»Also gut. Days Past.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf seinem Knie herum. »Und noch etwas. In der Diele am unteren Ende der Treppe hängt ein Bild an der Wand. Ein älterer Mann mit Brille. Eine Zeichnung. Sie wissen, wen ich meine?«
Mister Gorr nickte.
»Das ist mein Großvater«, sagte Aden. »Warum hängt da unten ein Bild meines Großvaters?«
Mister Gorr zog die Stirn kraus. »Hrm! Großvater? Unsinn! Mag sein … die Ohren des großen Alten, mein Junge. Aber Großvater … nein, nein!« Er lachte gutmütig, als wäre er gewillt, den Spaß mitzumachen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Gemälde zu. Vor lauter Konzentration kam seine Zungenspitze zwischen den Wulstlippen zum Vorschein.
Aden kratzte sich am Kopf. »Lebt er hier, der Mann auf dem Bild? In dem Dorf Days Past?«
»Hier leben!« Mister Gorr lachte dröhnend. »Ich fass es nich’! Bist ’n echter Witzbold, mein Junge! Jetzt aber schsch! Höchste Zeit für das besondere Rot.« Mister Gorr schraubte das Glas mit dem Blut auf. »Corberts Blut«, flüsterte er grüblerisch. »Aye, genau … Corbert sei gepriesen, er hat genug davon. Gibt dafür morgen weniger ab, versteht sich. Morgen weniger.« Behutsam umrandete Mister Gorr das Liebesherz mit dem tieferen Rot.
Aden legte sich in die Badewanne, verschränkte die Arme als Kissen hinter dem Kopf und schlug die Beine übereinander. Mister Gorrs Gemurmel und das hypnotische Tropfen des Wasserhahns ließen ihn bald in den Schlaf hinüberdämmern. Er merkte nicht, dass Mister Gorr auf Zehenspitzen das Bad verließ und kurz darauf mit einer stinkenden Decke wiederkam, die er fürsorglich über ihn breitete.
Aden versank in den Todesanzeigen einer gigantischen Zeitung, die sich in einen Whirlpool verwandelt hatte. Buchstaben sprangen wie Fische aus dem Wasser und schnappten nach ihm, als er sie abzuwehren versuchte. Sie bildeten immer wieder seinen Namen und das Wort VERSTORBEN. Die Farbe des Himmels war ein sauberes Krankenhausweiß. Aus dem Himmel fielen Uhren wie Regentropfen und klatschten in den Wasserwirbel, während eine weibliche Stimme gemessen wie ein gespenstischer Synthesizer die Worte »Tick Tack« sang. Etwas zerrte ihn an den Füßen nach unten. Er spähte durch den Strudel und sah, dass sich eine Gruppe von Lettern um sein Bein gewickelt hatte. Sie ergab den Satz: Etwas zerrte ihn an den Füßen nach unten.
Keuchend erwachte er ein zweites Mal in der Badewanne. Es war noch dunkel.
Er schleuderte die versiffte Decke von sich und kratzte sich an den Stellen, wo sie den Anflug eines Ausschlags hinterlassen hatte. Das wäre also geklärt, dachte er, während er sich den Nacken rieb. Er lebte, im herkömmlichen Sinn: Es konnte nicht sein, dass jemand schlief, träumte und anschließend mitten im vorherigen Traum erwachte.
Sein Spiegelbild war ein Schatten im trüben Licht, vornübergebeugt, keuchend, mit wild zerzausten Haaren. Er spritzte sich Leitungswasser ins Gesicht und trank ein paar Schlucke aus der hohlen Hand. Das Zeug schmeckte abgestanden und metallisch.
Einen Augenblick wartete er, auf dem Wannenrand sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. Die Erinnerungen. Verschwunden. Der Nebel war zurückgekehrt, bis auf jene wenigen scharf umrissenen Szenen, die er bereits kannte. Wie er im Haus seines Großvaters auf dem Boden saß und den Märchen lauschte, die der alte Mann vorlas. Oder ein anderes Erlebnis, das noch weiter zurücklag: Ein Angelausflug mit Opa im Zweimann-Boot; eine Forelle als Ausbeute, viel zu klein, um sie zu braten und zu verspeisen; Moskitostiche; der Schädel eines Kängurus im Flussbett, den er als Andenken mit heim nahm. Die »Wunderkind«-Version seiner Vergangenheit hatte sich verflüchtigt. Er war wieder ein Nichts.
»Was soll’s, verdammt noch mal!«, schrie er und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. Irgendwo im Haus ein Schnauben. Dann wieder das Schnarchen, laut und gleichmäßig wie eine Motorsäge, ein so konstantes Hintergrundgeräusch, dass es ihm erst aufgefallen war, als es verstummte. Mister Gorrs Kunstwerk lehnte an der Wand und holte ihn jäh zurück in die Gegenwart. Zwei Küchenschaben hatten die getrocknete Soße des Liebesherzens entdeckt und betätigten sich als Testesser. Ihre Kritik fiel begeistert aus. Aden schnippte sie von der Leinwand. Sie ergriffen hastig die Flucht, bevor er sie zertreten konnte.
Eine graue Strickjacke lag zuoberst auf dem Stapel schmutziger Kleidungsstücke. Ihr Gestank wurde vom Duft eines fremdartigen Parfums überdeckt. Er zog sie an und schlich durch die Tür, die Diele, die Treppe hinunter. Mond und Sterne verbreiteten einen hellen Schein, der in das Haus sickerte und die Möbel in dunkle Silhouetten verwandelte.
In der Nähe roch es unverkennbar animalisch. Er hörte ein Schnüffeln, dann ein Kratzen. Klauen raspelten über die Dielenbretter. Etwas bewegte sich. Zunächst glaubte er einen Hund zu sehen, der seine Vorderpfoten auf den Esstisch stützte (jemand hatte ihn wieder aufgestellt und an seinen Platz geschoben). Das Tier schlabberte die auf der Tischdecke verkleckerten Reste von Mister Gorrs Mahlzeit auf. Es war kein Hund. Es hatte ein dunkles Fell mit diffusen Flecken, verkürzte Hinterbeine und eine Hundeschnauze. Eine Hyäne.
Mondlicht fiel durch das Fenster auf ihre glänzend schwarzen Augen, als sie den Kopf hob und sich Aden zuwandte. Die Ähnlichkeit mit Chucky Gorrs verschwollenem, länglichem Gesicht war so stark, dass sie kein Zufall sein konnte. Das hier war Chucky.
Die Bestie stieß einen dünnen Knurrton aus – nichts Bedrohliches, eher ein Zeichen, dass sie ihn erkannte. Sie nahm die Pfoten vom Tisch und begann auf dem Boden umherzuschnüffeln, weit mehr an Essensresten interessiert als an Aden. Chucky erledigte nur seine Hausarbeit: Er machte das Esszimmer sauber. Aden fielen die losen Borsten im Flur ein, die er zunächst für einen Teppich gehalten hatte. Einige davon hatten Chuckys Fellfarbe, andere ein dunkleres Braun. Was wurde um diese späte Stunde aus den übrigen Familienmitgliedern? Verwandelten sie ebenfalls ihre Gestalt?
Er ließ Chucky nicht aus den Augen, als er ans Fenster ging und seine Beine über den Sims schwang. Das Tier kam unter dem Tisch hervorgetappt und starrte ihn mit seinen glänzend schwarzen Augen an. Wieder stieß es ein dünnes Knurren aus.
»Adios, Chuck«, sagte Aden. »Richte deinem Alten aus, dass ich die Klamotten irgendwann zurückbringe.«
Die Hyäne schüttelte den Kopf und knurrte. Aden blieb auf dem Fenstersims sitzen. »Was? Ich soll da nicht runterspringen? Ist es das, was du mir sagen willst? Warum nicht?« Chucky schüttelte wieder den Kopf.
Aden zögerte. »Danke für die Warnung, Chuck. Ich verstehe. Die Sache kann böse enden. Aber das ist mir ziemlich egal. Mach dir keine Sorgen um mich!« Aden ließ sich in die Tiefe fallen. Seine Füße versanken im schlammigen kalten Erdreich eines Blumengartens.
In der Luft lag ein Hauch von Frost. Die Welt ringsum erschien ihm fremd und riesig. Die Sterne glitzerten wie Lichtscherben am Grunde eines dunklen Sees, geordnet zu Bildern eines unbekannten Himmels. Aber Bilder waren es, das ließ sich nicht leugnen, ausgebreitet über die dunkle Leinwand der Nacht, Bilder von Königinnen mit Schwertern in den Händen, die auf gewaltigen Streitrössern in den Kampf zogen.
»Also, um ehrlich zu sein«, schrie Aden plötzlich in die reglose Stille, »ich weiß nicht recht, was das mit mir zu tun haben soll!«