KAPITEL 15
Das Grauen
Slythe erhielt eine Nachricht und ein Päckchen, in dem sich fünf Edelsteine und ein paar Goldstücke befanden. Er machte sich nicht die Mühe, die Münzen zu zählen. Die Pretiosen seien als Bezahlung für einen »Geheimauftrag« gedacht, lautete die Botschaft, von dem Mira und Torak »unter gar keinen Umständen erfahren« dürften. Er solle sich zur Kirche begeben und dort einen »Gefangenen« in Augenschein nehmen, aus »später zu erläuternden« Gründen. Slythe kräuselte spöttisch die Lippen über den Ausflug des Priesters in die Welt der politischen Intrigen. Für den Normalbürger stellte der Lohn ein Vermögen dar, aber Slythe hatte beim Anblick des Schatzes laut aufgelacht; er kannte die wahre Währung der Welt, und das hier war sie ganz bestimmt nicht. Er warf das Zeug achtlos aus einem hoch gelegenen Fenster. Drei Wachtposten sahen die Klunker fallen und stritten sich darum wie Tauben um ein paar Brotkrumen.
Slythe nahm die Botschaft und zeigte sie Mira. Sie ließ den Ratgeber des Herzogs kommen. »Ich sah das Omen – das sich selbst übrigens Aden nennt – erst gestern, Lady«, sagte Torak. »Kevas sprach ebenfalls von einer Begegnung mit dem Omen. Mehr noch. Behauptete felsenfest, diesen Aden eingesperrt zu haben. Als Geisel. Meine Beteuerungen, er sei tot, stießen auf taube Ohren. Glaubte mir kein Wort. Als Nächstes erklärte er dann, sein Gefangener sei geflohen. Meine Diagnose? Galoppierender Wahnsinn. Übergeschnappt, der Mann. Sprung in der Schüssel. Total weiche Birne.«
»Könnt Ihr irgendwann mal einen Satz von Euch geben, der in mir nicht den Wunsch weckt, Euch zu ohrfeigen?«
»Gewiss doch! Ich werde mir größte Mühe geben.«
»Weshalb könnte dem Priester daran gelegen sein, Aden zu töten?«, fragte Mira. »Zumindest nehme ich an, dass er aus diesem Grund versucht, meinen Meuchelmörder zu kaufen.«
»Hat ihn wohl als Ketzer eingestuft, wenn es stimmt, dass der Junge drüben in der Kirche ist«, meinte Torak und warf einen Blick auf seine Uhr. »Wie ich den alten Kauz kenne, wird er Slythe auffordern, ihn bußfertig zu machen.«
»Bußfertig.« Slythe ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Nun, es gibt Mittel und Wege, damit er in sich geht und bereut.«
»Bring Aden hierher«, sagte Mira und betrachtete angewidert ihr Spiegelbild. »Und töte den Priester. Wie viele Dragoner bewachen vermutlich die Kirche?«
»Höchstens zwei«, entgegnete Slythe. »Die übrigen lungern in ihren Höhlen unter dem Dorf herum.«
»Kannst du einen oder zwei überwältigen?«
»Im Schlaf.«
»Schön. Aber nimm dich vor Aden in Acht. Wer weiß, welche Talente er aus dem Grab mitgebracht hat.«
»Er wurde nie begraben«, warf Torak ein.
»Ihr seid nicht gefragt«, fauchte Mira.
»Hm. Ähm.«
Slythe brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen, ehe er den Raum verließ.
»Was ist aus dem Dorf geworden?«, erkundigte sich Mira.
»Somerset? Schon ausgelöscht, Lady. Schreitet schnell voran, der Verfall. So zerbrechlich, die Realität, in letzter Zeit. Zwei Tage höchstens, dann ist der Ort ganz verschwunden. Leere Hülle. Wüste. Krümel, grauer Staub, sonst nichts. So sieht die Gegend jetzt aus.«
»Die Dorfbewohner sind nicht geflohen?«
»Nicht die Spur von Unternehmungsgeist in dieser Bagage. Nicht die Spur.«
»Wie viel Licht habt Ihr dort eingesammelt?«
»Weniger als erhofft, Lady, aber eine ganze Menge. Erhalten kostet schließlich nicht so viel wie erschaffen. Bald ist das nächste Dorf fällig. Alles für die … ähm … Behandlung bereits unterwegs, Waffen und so. Verteidigung, Gewaltausbrüche.« Wieder warf er einen Blick auf seine Uhr. »Muss mich auf den Weg machen. Keiner außer mir geeignet, den Prozess zu überwachen.« Seine Miene hellte sich auf, als ihm ein neuer Gedanke kam. »In gewisser Weise bin ich für Euch schätzungsweise wertvoller als der Meuchelmörder! Könnte man so sagen, ja. Wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Ganze Existenz und so fort. Wäre also angebracht, dass der Meuchelmörder etwas mehr Respekt an den Tag legt. Die Einschüchterungen sein lässt, ja? Auf Euer Geheiß, ja? Damit ich nicht auf den Gedanken komme, dorthin zu gehen, wo meine Dienste mehr gewürdigt werden. Oder nirgendwohin, was auch der Fall sein kann. Drohungen fruchten nichts. Ich habe, wie sich erweist, durchaus ein gewisses Rückgrat.« Er lächelte sie an und wandte sich zum Gehen. »O Mira! Eine letzte Sache. Die Chemie zwischen uns … Abneigung schon beim Anblick des jeweils anderen, emotionale Bindung, negativ, aber stark. Deshalb meine Frage … Abendessen? Mit mir? Wie soll ich es ausdrücken … eine Art Werben?«
Ehe sie sich von ihrer Verblüffung erholen und antworten konnte, platzte Julius herein. Mira erschauerte, als sie seinen Zustand sah. »Und was suchst du hier?«, fauchte sie.
»Also, ich muss schon sagen, Mira, dein Ton missfällt mir. Er grenzt doch hart an Ungeduld, und das ist ein schlechtes Vorzeichen, denn unsere Unterredung hat eben erst begonnen. Ich finde, dass du mir erstens als deinem Bruder und zweitens als deinem Herzog mehr … äh … wie war das Wort gleich wieder? Dieses Wort, das bedeutet, dass dir die anderen Wertschätzung entgegenbringen, dass sie begierig deinen geistreichen Bemerkungen lauschen und all das?«
»Respekt, Julius?«, fragte Mira.
»Genau, aber da ist er schon wieder, Mira, dieser leicht spöttische Ton, den ich mir verbitte. Ich war bisher ziemlich tolerant, ach was, ich war äußerst tolerant gegenüber deinen Intrigen, all diesen bösen Machenschaften wie dem Aushungern von Dörfern, dem Ersinnen seltsamer Waffen und was weiß ich …«
»Julius, mir ging die Konversation mit dir schon vor Jahren auf die Nerven. Deshalb ließ ich diesen Chronisten als deinen Spielgefährten aufs Schloss kommen. Warum besprichst du die Angelegenheit nicht mit ihm?«
»Ein Ton, den ich absolut NICHT dulden kann, Mira. Ich habe mich mit großem Aufwand um das Volk gekümmert. In der Zeit, die ich meinen Untertanen widmete, hätte ich nämlich auch durch die Wiesen streifen und den Duft der Blumen schnuppern oder den Notleidenden helfen können. Und ich weiß sehr wohl, dass dein Herz im gleichen Moment zu schlagen aufhört wie das meine, weil Vater uns in frühester Jugend mit einem Bannfluch belegte, damit nicht einer von uns mit einem Dolch im Rücken endet. Bedenke also, dass ich mir das Leben nehmen könnte, nur um dich zu ärgern, aus Protest gewissermaßen. Und selbst wenn ich nicht die Absicht habe, meine Drohung in die Tat umzusetzen, sollte sie doch genügend Gewicht haben, um dich zum Nachgeben zu zwingen …«
»Hör mal! Sag mir endlich, was du hier willst, oder ich komme dir zuvor!«
Julius betrachtete einen Fingernagel. »Ich habe gelauscht, Mira, an der Tür gehorcht wie ein elender Schnüffler. Und als Slythe an mir vorbeimarschierte, um deine Befehle auszuführen, sagte ich zu ihm: ›O nein, halt! Ich bin der Herzog, und mein Wort hat bei Weitem mehr Gewicht als das einer Lady, falls sich Autorität überhaupt in Gewicht ausdrücken lässt.‹ Ich fand diese Worte übrigens sehr poetisch. Um die Sache jedoch kurz zu machen: Ich werde die notleidende Person aus der komischen Kirche dieses dummen Gackerhuhns holen!«
Torak räusperte sich. »Darf ich davon abraten, Euer Gnaden, wegen der möglichen Gefahren für Leib und Leben und was sonst noch alles.«
»Ihr dürft, aber das wird nichts nützen.« Julius riss die Augen weit auf. »Himmel, wo bleibt Ray? Ich war selten so witzig wie in diesem Moment.«
»Wohl wahr, Julius, wohl wahr«, pflichtete ihm Torak bei.
»Worauf wartest du noch, wenn du Slythe begleiten willst?«, fragte Mira und musterte ihn aus schmalen Augen.
»Du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich mich nachts ins Freie begebe?« Julius drohte ihr mit dem Finger. »Nicht auszudenken, wenn Tau auf meine Toga fällt …«
»Ein gutes Argument, Euer Gnaden«, sagte Torak.
»Er würde sie benetzen«, rief Julius. »Streite es nicht ab, Mira! Das ist nun mal die Wirkung von Tau. Er benetzt die Dinge. Macht sie nass. Es wäre so typisch für dich, das abzustreiten. Aber ich bin schon einen Schritt weiter. Jawohl, ich werde diese widerwärtige, furchterregende Person gefangen nehmen und hierher bringen, das werde ich, aber erst am Morgen und zusammen mit Slythe.«
»Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was hier auf dem Spiel steht, Bruder?«
»Das könnte ein prächtiges Kapitel in Rays Chronik werden«, sagte Julius und strich seine Toga glatt. »Einfach göttlich! Stell dir das mal vor – ich hole die gefährliche, notleidende Person, unterstützt von Slythe, versteht sich, aber ich bestimme die Taktik des Unternehmens. Ahoi, werde ich zu Slythe sagen, pass auf, so machen wir das! Nein, nicht so, du sollst ihn niederringen, Slythe, werde ich sagen. Und Ray wird Protokoll führen, in allen Einzelheiten, und vielleicht greife ich sogar selbst ein wenig ein, sobald diese böse Person mit Ketten und Stricken gefesselt ist.«
»Meinetwegen, Julius. Warte bis morgen. Wenn das unser beider Tod sein sollte, bleibt mir in Zukunft wenigstens dein Geschwätz erspart. Bitte, geh jetzt!«
Julius klatschte in die Hände. »Famos. Dann gehe ich jetzt. Ich habe mir nämlich einen herrlichen Streich für Ray ausgedacht. Hat mit Pferdesperma zu tun. Und mit Feuer. Ihr müsst unbedingt kommen und zuschauen, Torak, und mich anfeuern und im geeigneten Moment in Gelächter ausbrechen. Gehen wir. Gute Nacht, Mira. Nun guck doch endlich etwas fröhlicher in die Welt!«
Das elektrische Summen und eine Spur von Nichts – ausgelöschte Bäume und Felsenbuckel, ein halb verschlungenes Gehöft – markierten den Weg, den das Ding nahm. Hin und wieder stieß es ein Heulen aus, das in den Himmel stieg. Es verriet weder Wut noch Zorn oder sonst ein menschliches Gefühl. Seine einzige Botschaft lautete: Fliehe so schnell du kannst!
Charm verstand. Sie rannte über eine Lichtung, suchte verzweifelt nach einem Versteck, wo sie Atem schöpfen konnte. Es hatte nicht lange gedauert, das Ding einzuholen. Was sie nicht sagen konnte, war, warum sie es verfolgte; warum sie sich diesem Albtraum aussetzte, der ihren Herzschlag so beschleunigte, dass ihr die Brust schmerzte.
Das grässliche mechanische Summen kam von irgendwo weiter hinten aus dem Wald, während das Ungetüm aufs Geratewohl hierhin und dorthin trottete. Es hatte Gefallen an dem hellen Schimmer gefunden, der sie umgab wie eine Aura. Mit gleißenden Lichtstößen hatte sie versucht, es von Days Past fernzuhalten und zum Schloss zu dirigieren, um den dortigen Bewohnern zu zeigen, was ihre Mutter angerichtet hatte, vor allem aber, um es von jenem Wald fortzulocken, der ihr so lange Zuflucht und Heimat geboten hatte.
Es gab keine Heimat mehr. Sie konnte nicht in einer Welt bleiben, in der das Grauen frei umherstreifte. Hungrig, ohne Verstand, durch nichts aufzuhalten, unbezwingbar.
Dicht vor Charm tauchte der Fluss auf. Etwas trieb an ihr vorbei – ein silbernes Gewand, das in der Strömung wirbelte und kreiselte. Noch während sie ihm nachstarrte, versank es in den Fluten. Weiter flussaufwärts stand eine einsame Gestalt reglos am Ufer.
Die Silhouette der Fremden zitterte im glasigen Wellengekräusel. Figuren wanden sich in ihrem Spiegelbild, erhoben sich wie Rauchfahnen, wie flüchtige Gespenster, die der Wind mitriss und auflöste. Lady Mira. Charm war ihr noch nie begegnet, aber sie hatte davon gehört, dass aus Spiegeln, in denen sich Mira betrachtete, kleine Erscheinungen aufstiegen. Mira war nackt, und ihr schlanker, hochgewachsener Körper hob sich bleich wie Mondlicht gegen ihr rabenschwarzes Haar ab.
Das Geschöpf des Grauens stolperte ein Stück hinter Charm durch das Unterholz und stapfte dann tiefer in die Wälder, fort vom Fluss. »Komm«, sagte Mira, zu Charm gewandt. »Fürchte dich nicht. Es gibt keinen Zwist zwischen dir und mir. Du bist vielleicht die Letzte, die mich lebend sieht.«
Charm zögerte und hätte fast die Flucht ergriffen, aber der traurige Unterton in der eiskalten Stimme der Lady nahm sie gefangen. Sie trat näher. Das Grauen stieß erneut einen seiner gespenstischen mechanischen Schreie aus. Ein Schauer überlief Charm. Mira starrte in die Richtung, aus der das Heulen kam. »Ich werde direkt in seine Arme wandern«, sagte sie. »Wenn es mich tötet, dann sterben Slythe und Julius mit mir. Du allein wirst wissen, was ihnen zugestoßen ist.«
»Weshalb bist du so sicher, dass sie sterben werden?«, fragte sie und setzte sich auf einen umgestürzten Stamm, erleichtert, dass sie endlich rasten konnte.
Mira stand still wie aus Stein gemeißelt. »In meiner Brust befindet sich ein Edelstein, in der von Julius ebenfalls. Wenn mein Herz zu schlagen aufhört, zerspringt der Stein in seinem Herzen. Unser Vater ordnete das an. Er hätte besser für sich selbst Sorge tragen sollen, denn ich vergiftete sein Essen, als ich gerade mal zwölf war. Später holte ich den Meuchelmörder in meine Dienste und ließ auch ihm einen Edelstein ins Herz einpflanzen, damit er auf jeden Fall alles täte, um uns am Leben zu erhalten.«
Charm stieß ein spöttisches Lachen aus. »Nichts kann Slythe töten. Nicht einmal dein Edelstein.«
Mira zuckte ein wenig mit den Schultern. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Er kann zumindest seiner äußeren Hülle beraubt werden. Das, was Slythe in Wahrheit ist, wird weiterleben, darin gebe ich dir recht, um irgendwann in einen neuen Körper zu schlüpfen – falls es dann noch eine Welt gibt, die ihn aufnimmt. Das Gleiche gilt für dich. Wer weiß? Vielleicht stirbt dieser Planet, um Platz für eine neue Welt zu machen.«
Charm dämpfte ihre Aura so gut wie möglich, obwohl das Licht nach außen drängte und einen gewaltigen Druck in ihr aufbaute. Mira, die sich bewusst war, wie sehr Frauen Charm wegen ihrer Macht über die Männer hassten, hatte sich von ihr abgewandt. »Dieses Albtraum-Monster wird dich nicht töten«, sagte Charm. »Zumindest nicht so, wie du dir das vorstellst. Dein Herz wird nicht stillstehen. Wenn dich das Grauen berührt. wird es so sein, als hättest du nie ein Herz besessen. Deshalb bezweifle ich, dass die Sache mit dem Edelstein klappen wird.«
»In diesem Fall hätte mein Bruder Glück«, meinte Mira.
»Warum tust du das? Warum wartest du nicht einfach, wenn ohnehin alles zu Ende geht?«
Mira schaute sie an – und was als Lächeln begonnen hatte, endete mit einer starren Miene, die wie eine Drohung wirkte. Das Licht. Charms Fluch. Selbst am Rande des Abgrunds brachte dieser jähe Umschwung sie fast zur Verzweiflung. Die altbekannte Einsamkeit überlagerte den Hauch einer Freundschaft, den sie einen Moment lang gespürt hatte. »Das klingt, als wäre ich dir nicht gleichgültig!« Mira fauchte. »Aber ich kenne dich, Mädchen! Dein Herz und dein Geist sind voller Gift. Wäre es dir nicht am liebsten, wenn dieses Ding die Welt verschlänge? Solange du Muse die Schuld daran geben kannst, nicht wahr? Aber die Schuld liegt nicht bei ihr, und du bist zu dumm, das zu begreifen. Zu dumm, um zu begreifen, dass sie dem Ding nur einen Körper gab, genau wie dir und anderen.« Charm antwortete nicht. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Kehle brannte. Das Grauen des Todes folgte mir durch die Wälder. Ich lockte es fort von hier. Und nun verletzen mich läppische Worte?, dachte sie. Warum?
Mira wandte sich wieder von ihr ab. »Tut mir leid. Ich darf dich nicht ansehen.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Ich gehe in den Tod, weil ich nicht mehr gebraucht werde. Sivanas ist zurückgekehrt. Die neue Struktur hat begonnen. Er ist wieder der Feind der Welt. Er hat meine Rolle übernommen. Ich bin ausgemustert. Ich habe nur als Platzhalterin für jemanden von größerer geschichtlicher Bedeutung gedient. Allerdings bleibt ihm jetzt nicht viel Zeit auf der Bühne. Sein Auftritt sollte deshalb überzeugen.«
»Geschichtliche Bedeutung – was meinst du damit? Weshalb befasst du dich mit solchen Dingen, während das Werk meiner Mutter alles zu verschlingen droht? Wenn die Welt nicht mehr ist, gibt es auch keine Geschichte! Im Schloss müsst ihr doch eine Möglichkeit haben, dem Untergang Einhalt zu gebieten. Ihr müsst etwas tun.«
Mira lachte. »Ich existiere nicht, um zu retten. Ich existiere, um zu vernichten. Nur bleibt mir nichts mehr zu vernichten.«
»Dieses Ding ist der Feind der Welt! Nicht du, nicht Sivanas. Dieses Ding und seine Mutter – meine Mutter. Sie hat es erschaffen. Muse.«
»Dann bist du seine Schwester?« Charm errötete. »Wenn sie es erschuf, dann hat die Welt ihren Untergang selbst gewählt«, sagte Mira und setzte nachdenklich hinzu: »Und die Struktur begann erst wenige Tage vor dem Ende. Sie wartete Ewigkeiten, ließ Milliarden besserer Epochen und Zeitalter ungenutzt verstreichen. Seltsam, diese Planung. Seltsam.«
Eine Woge des Zorns erfasste Charm. Sie war müde und wurde vor immer neue Rätsel gestellt. »Struktur?«, fauchte sie. »Kannst du dich nicht klar ausdrücken? Wovon redest du?«
»Die Struktur ist eine Kette von Ereignissen, du dummes Mädchen. Weißt du denn gar nichts? Von dir, von mir, von Slythe, von Aden? Begreifst du wirklich nicht, warum deine Mutter dich erschuf? Du bist eine Bühnenfigur. Eine neue Darstellerin, skizziert vom Pinsel deiner Mutter, die mit historischen Rollen und Gestalten experimentiert. Meine historische Rolle, mein Archetyp, mein Platz in der Welt entstand schon vor langer Zeit. Irgendjemand aus jeder neuen Generation würde ihn immer ausfüllen. Du dagegen bist wie Slythe eines von Muses Experimenten. Sie formte dich aus Kräften, die sie spürte, verstärkte deine Linien, schärfte deine Kanten, verlieh einer ganz bestimmten Vorstellung Ausdruck. Unter anderem verkörperst du die Schönheit. Schlichte, echte, falsche, wilde, zarte, verwegene, grausame, sanfte Schönheit. All dies und mehr. Bei Weitem nicht das ganze Spektrum, aber doch eine starke Wiedergabe der Schönheit. Slythe ist der Tod. Unter anderem ist er der Tod. Bei Weitem nicht das ganze Spektrum, aber doch eine starke Wiedergabe des Todes. Begreifst du jetzt?«
Charm hätte das Gespräch am liebsten beendet, aber ein Teil von ihr wollte die Zusammenhänge verstehen, wollte verhindern, dass Miras Worte durch ihre einsamen Nächte in den Wäldern geisterten, wenn das Grauen dieses Tages irgendwie ein Ende fand, wenn irgendwie wieder Normalität einkehrte. »Nicht ganz«, entgegnete sie. »Was ist mit den Männern, die mich verehren? Mit den Frauen, die mich hassen? Den Dorfbewohnern? Was sind sie? Doch nicht von ihr geformt …«
»Wir nennen diese Leute Uhrwerke«, sagte Mira müde. »Obwohl die Schöpfer diesen Begriff hassen. Sie stammen nicht von Muse, das ist wahr. Aber Muse kann ihre Schritte lenken. Ihre Wege verändern. So wie du und ich und jeder Darsteller auf der großen Bühne. Sie kann bewirken, dass sie vor Entsetzen schreien oder wie Mäuse die Flucht ergreifen, dass sie lauthals singen oder sterben, zu Hunderten sterben. Oder dass sie unbeachtet in ihrer Bedeutungslosigkeit verharren.«
»Sie hat auch dich nicht geformt.«
»Meine Rolle hat mich geformt, du dummes Mädchen. Meine Rolle als Feind der Welt hat mich geformt. Mich und meinen idiotischen Bruder.«
»Aber was ist Muse? Was ist Tom?«
»Wie lang sind deine Haare, Mädchen? Die beiden sind Götter. Nein, nicht Götter. Eine Gottheit. Teile des Weltenmachers. Sie ist seine Muse. Tom ist eine Funktion des Menschengeistes, deren exakte Natur ich nicht zu fassen bekomme.« Mira starrte die Figuren an, die sich aus ihrem Spiegelbild erhoben. Eine Spur von Ärger huschte über ihre Züge. »Ich nehme an, die beiden stellen mit Verblüffung fest, dass sie ebenfalls auf der Bühne stehen und eine Rolle spielen. Das hatten sie bestimmt nicht erwartet. Sie wollten die Bühne errichten, aber sie keineswegs als Darsteller betreten.« Sie seufzte. »Genug davon. Leb wohl, Mädchen. Wir wählten unsere Rollen, bevor wir hierherkamen, sagen die Priester. Wir entscheiden nicht, wie das Stück endet. Aber ich werde nicht mehr gebraucht. Ich wurde erschaffen, um Ländereien zu erobern, Heere in die Schlacht zu führen, Nationen in Blut zu ertränken. Es gibt keine Nationen mehr.«
Charm zuckte zusammen und stieß einen Schrei aus. Das Grauen war lautlos über die Lichtung gestolpert, schwankte ein wenig hin und her und verharrte dann vollkommen reglos. Selbst sein eigentümliches mechanisches Summen war verstummt, während es hoch aufgerichtet dastand und sie beide beobachtete. Mira gab durch nichts zu erkennen, dass sie sein Erscheinen bemerkt hatte, obwohl es ihr sicher nicht entgangen war.
Nun ging Mira auf das Ding zu. Das Grauen rührte sich nicht vom Fleck, selbst dann nicht, als Mira nahe genug war, dass sie es mit ausgestreckter Hand hätte berühren können. Sie blieb eine Zeit lang stehen und starrte in seine Schwärze, bis einer seiner Arme blitzschnell durch die Luft wischte und die Hälfte ihres Körpers auslöschte. So wie die Bäume, in die es breite Streifen von Nichts gerissen hatte, halb in der Luft geschwebt waren, ohne umzukippen, so hing nun Miras Torso in der Luft, von den Beinen getrennt durch ein breites Band von Schwärze.
Das Grauen stieß einen fragenden Laut aus, ehe es den Rest vernichtete. Dann drehte es sich um und stolperte in die Richtung, in die Charm geflohen war.