KAPITEL 17

Menschenjagd

»Sind wir bereit, verwegene Recken?«, rief Julius und warf sich in Pose – die Fäuste vor der Brust wie ein Boxer, der einen Gegner taxiert.

Der Wagen rollte über die Zugbrücke. »Ray, wirkt meine Miene entschlossen genug? Sag, Ray, tut sie das? Verraten meine Züge etwas von der inneren Furcht, gegen die ich ankämpfe? Hoffentlich! Das muss alles in die Chronik, Ray. Und dazu ein oder zwei Worte über mein gutes Aussehen, wenn ich bitten darf. ›Der Herzog stand hoch aufgerichtet und strahlend da wie eine goldene Statue.‹ Oder so ähnlich. Gold sollte irgendwie vorkommen. Und eine erhabene Statue. Das ist ein Befehl!«

Raydons Gesicht zog sich zusammen wie geronnene Milch, während er vorgab, ein paar Zeilen zu schreiben. Seine Beine zuckten und kickten unkontrolliert durch die Gegend, eine Folge der kolossalen Überdosis, die Julius ihm aufgezwungen hatte. Raydon hatte eine geheime Chronik begonnen, in der er die wahren Untaten des Herzogs festhielt. Er beabsichtigte, sie später kostenlos unter das Volk zu bringen.

Der Herzog runzelte die Stirn. »Slythe?«

»Euer Gnaden?«

»Mach dich ans Werk!«

»Danke, Euer Gnaden.«

»Nein, warte mal! Mir fällt gerade etwas ein. Slythe, schien Torak nicht ein wenig … oh, wie heißt das Wort … ein wenig grüblerisch? Eben, kurz bevor wir das Schloss verließen. So, als beschäftigten ihn private Dinge?«

Slythe zog die Augenbrauen hoch, überrascht, dass Julius so etwas überhaupt auffiel. »Er wirkte in der Tat abgelenkt, Euer Gnaden. Das fiel mir auch auf.«

»Was mag wohl in ihn gefahren sein, Slythe?«

»Er hat eine Menge Probleme zu bewältigen. Letzte Nacht kam beispielsweise kein Traum herein. Vielleicht kennt er den Grund dafür.«

»Du scheinst verdammt gut Bescheid zu wissen, Slythe.« Julius wirbelte herum und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

Slythe senkte den Kopf. »Verrat käme mir nie in den Sinn, nicht bei Eurem Adlerblick, Julius.«

»Glänzend! Oh, wie du das gesagt hast! Schreib seine Worte nieder, Ray! Und jetzt fahren wir zur Kirche, um diese schreckliche notleidende Person zu holen. Ray, lies uns unterwegs etwas aus meiner Liste der verdrossenen Sprüche vor, zum Zeitvertreib! Beginne mit meinem Kommentar über – halt! Mir fällt gerade etwas Neues ein, Ray! Ist deine Feder gespitzt?« Julius räusperte sich. »Oftmals möchte man am liebsten scheißen!«

Lautlos rollten die Tränen über Raydons Wangen, als er den Satz niederschrieb.

Sie hatten Days Past umfahren und näherten sich dem Waldrand, als Charm ein Stück weiter vorn unter den Bäumen hervortrat. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, erwartete sie den Wagen des Herzogs. Julius, der sie noch nie zuvor gesehen hatte, erspähte sie als Erster. Er keuchte und presste eine Hand auf sein Herz. »Du meine Güte!«, wisperte er. »Ich finde, Slythe …« Er schluckte mühsam und setzte erneut zum Sprechen an. »Ich finde, es hat etwas sehr Verlockendes, wie dieses Gewand fällt.«

»Ich schlage vor, dass Ihr den Blick abwendet, Euer Gnaden«, sagte Slythe und erhob sich von seinem Sitz.

»Ich bin der Herzog, verdammt noch mal, Slythe!« Julius versuchte, hastig wieder seine Pose einzunehmen, und scheiterte nach einem halben Dutzend Versuchen. Mit einem frustrierten Armrudern ließ er sich in die weichen Lederpolster sinken und stützte das Kinn in eine Hand. »Ich bin nervös, Ray.«

»Und was soll ich dagegen tun, Julius?«

»Ray! Schluss jetzt mit diesem verbitterten Tonfall! Ich verstehe ja, dass du gereizt bist! Die Sache mit deinen Beinen und dann dieser Streich, den ich dir letzte Nacht gespielt habe, aber …« Er keuchte und krallte seine Finger in Raydons Hemd. »Oohh, seht sie euch an! Ray! Ray, so hör mir doch zu! Ich finde ihr langes Haar irgendwie beruhigend.«

»Das freut mich für Euch.«

»Ah! Mit diesem Sarkasmus erreichst du gar nichts, Ray. Und …« Die Stimme des Herzogs wurde plötzlich heiser, und Panik schlich sich in seine Worte. »Ray! Ray! Slythe! Was ist denn mit meinem Schwanz los?«

Eine kleine Erhebung beulte seine Toga aus. Julius fuchtelte mit den Fingern in der Luft herum. »Was wird das denn? Was will er? Was macht er da?«

Raydon wandte unbehaglich den Blick ab. »Äh, ist Euch das noch nie zuvor passiert, Julius?«

»Nein, warum sollte es?«, fauchte Julius. »Was ist los? Bin ich krank?« Der Wagen hielt neben Charm. »Wir werden uns vermählen«, verkündete Julius. »Sobald ich von dieser lästigen Krankheit genesen bin. Ich glaube, man hat mich vergiftet. Verdammt, Slythe! Verrat käme dir nie in den Sinn, was?«

Licht explodierte, gleißend hell. »Still!«, zischte Charm den Herzog an.

Der Herzog sackte mit verklärter Miene auf seinem Sitz zusammen. Raydon schloss die Augen und sank in die weichen Lederkissen. Slythe, verblüfft über ihre Kühnheit, hielt ein Wurfmesser in der Hand.

Charm konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Schönheit hatte ihre Erschöpfung überlagert. Er lockerte seine Finger um den Dolchgriff und betrachtete sie verwundert. Krankheit, Schmerz, Trauer, ja selbst den Augenblick des Todes würde sie hinter der gleichen Maske verbergen wie Gehässigkeit und List, Böse und Gut. Nie kam sie selbst zum Vorschein. »Wirf einen Blick nach links«, sagte sie und zeigte hin. Er starrte in die Richtung ihres ausgestreckten Fingers und sah die unnatürliche Fährte des Grauens, die tief in den Wald hineinführte. Fast glaubte er die Umrisse seines Körpers zu erkennen. Slythe sah Charm mit zusammengekniffenen Augen an. »Woher stammen diese Spuren?«

Sie erzählte ihm vom Grauen, von seiner Geburt, seinem Schöpfer. Er hörte aufmerksam zu. »Beschreibe das Ding«, sagte er nur. »Seine Bewegungen, seine Laute.« Als sie fertig war, fragte er: »Weiß sonst noch jemand, dass dies Muses Werk ist? Mira? Torak?«

»Torak. Ich verriet es ihm. Und er wurde Zeuge, wie es letzte Nacht den Traum verschlang.«

»Ich verstehe.« Slythe trommelte mit den Fingern auf dem Griff seines Wurfmessers herum. Er rief sich in Erinnerung, wie unruhig der Ratgeber des Herzogs durch das Schloss gewandert war. Der Mann hatte es kaum erwarten können, dass Julius endlich aufbrach – und dass er Slythe mitnahm. Jetzt kannte er den Grund. »Danke«, sagte er zu Charm. »Du hast mir einen großen Gefallen erwiesen. Niemand sonst darf davon erfahren. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«

Sie musterte ihn argwöhnisch. »Ja.«

»Ich weiß. Ich werde dir helfen.« Er stieß ihr die Klinge mitten ins Herz. Sie starb mit einem schwachen Seufzer. Ihre Augäpfel rollten nach hinten, und für den Bruchteil einer Sekunde flammte ein gleißender Blitz auf. Dann war alles vorbei. Slythe genoss die einzigartige Schönheit ihres Dahinscheidens. Er empfand es als eine Ehre, dass er die letzten Augenblicke ihres Lebens mit ihr teilen durfte, als wäre dies ein Versprechen, das sie ihm vor langer Zeit gegeben und endlich erfüllt habe. Er schloss ihren Seufzer in den Schatz seiner Erinnerungen ein, zusammen mit dem Bild ihres Körpers, der langsam zu Boden glitt.

Er sprang vom Wagen und schleifte die Tote außer Sicht, ehe der Herzog zu sich kam. Dann lief er schnell wie der Wind zu Muses Haus.

Es dauerte eine Weile, bis ihre schwache Aura erloschen war. Was blieb, war eine vertrocknete Hülle, die rasch zerbröckelte. Dunkler Rauch stieg in kleinen Wölkchen auf, begleitet von einem grässlichen Verwesungsgestank. Ein aufmerksamer Beobachter hätte ein paar Lichtsplitter entdeckt, die über der fauligen Masse tanzten, wie ein Mahnmal für den falschen Schein der Schönheit, den das Auge meist nicht zu durchdringen vermag.

Doch der Zufall wollte es, dass niemand auf Charms Überreste stieß, bis sie vollständig zerfallen waren wie eine in Vergessenheit geratene Erinnerung.

Muse spürte die scharfe Schneide eines Messers an ihrer Kehle. Der Meuchelmörder war lautlos in ihr Haus eingedrungen. »Komm mit!«, raunte er ihr ins Ohr.

»Ist es so weit, ja?«, fragte sie und erhob sich mit einem Seufzer. »Und das alles nur, weil ich als Mutter versagte. Weißt du wenigstens, wen und was du in Wahrheit tötest?«

»Komm mit!«

»Ich bin nur überrascht, dass ich das nie vorhersah. Das ist alles.« Sie ließ den Pinsel vor ihre Füße fallen. Ein roter Klecks zeigte sich auf den Dielenbrettern. Slythe schob sie durch die Hintertür des Hauses ins Freie. »Beeil dich«, sagte er und zerrte sie hoch, als sie stolperte.

Der Hinterhof ging in einen steil ansteigenden Hügel über, auf dessen Kuppe sich verschieden große steinerne Obelisken erhoben. Dahinter breitete sich meilenweit ödes Buschland aus, durchsetzt von Felsbrocken und kleinen Klippen. Im Norden türmte sich das Vergessen wie eine erstarrte Meereswoge von unheilvollem Ausmaß. Slythe sah den grauen Wall und schüttelte den Kopf.

Er ging in die Hocke, zerrte Muse zu sich herab und deutete auf das Haus unten. »Sie müssten jede Minute anrücken«, sagte er. »Zumindest waren sie ganz nahe, als ich mich an ihnen vorbeischlich. Sie glauben, du seist noch da drinnen.«

»Wer?«

»Das wirst du gleich sehen!«

Es verging eine Minute wachsamen Schweigens. Dann zerriss der erste Panzer die Stille mit einem Knall, der lauter als Donner widerhallte. Muse hatte keine Ahnung, was der Lärm bedeutete, bis ihr Haus in Schutt und glimmende Asche zusammenfiel. Auf der Rasenfläche des Vorgartens standen zwei Panzer mit rauchenden Kanonenrohren. Torak saß auf dem größeren der beiden Ungetüme, das die Form eines Drachen mit gespreizten goldenen Schwingen hatte, und brüllte Befehle. Er hatte sich passend zu seinem Gefährt mit einem reich verschnörkelten Helm ausstaffiert. Die Panzer rollten langsam rückwärts, den Fuß des Hügels hinunter.

»Dafür schuldest du mir einen Gefallen«, sagte Slythe. Er ließ Muse los, sobald die Panzer außer Sicht waren. »Erzähl mir mehr über dieses Ding, das du erschaffen hast. Warum? Warum willst du alles vernichten, was noch übrig ist?«

»Das will ich doch gar nicht.« Sie tastete die Stelle ab, wo die Klinge ihre Kehle berührt hatte. »Ich erweckte etwas, das bereits existierte. So wie ich dich erweckte. Dich, Aden und Charm. Dazu andere, deren Gesichter du nicht kennst und die sich vor dir an geheimen Orten verstecken. Oder jene, denen du den Tod brachtest. Früher verlieh ich weit schlimmeren Mördern Gestalt, als du es je warst oder sein wirst.«

»Hatte Aden also doch recht«, murmelte Slythe. »Abbilder anderer Dinge. Schatten. Spiegelungen.« Er lachte. »Nun gut. Und was war diese neueste Schöpfung von dir? Bevor du sie ins Dasein riefst?«

Sie deutete auf die glasig erstarrte Woge am Horizont. »Das da. Das sogenannte Vergessen. Ich habe keine Ahnung, was das ist. Ich weiß nur, dass es vernichtet. Dass man es nicht aufhalten kann. Eine Art Krankheit, die das Herz oder Gehirn unseres Schöpfers zerfrisst. Als das Gemälde, das du meinst, in den Wäldern zum Leben erwachte, stand der Wall eine Weile still. Ich kaufte uns Zeit. Warum ich das tat, weiß ich nicht. Ich habe dieses Dasein so satt.«

»Dennoch warst du nicht bereit, aus dem Leben zu scheiden, als du dachtest, ich wollte dich töten.«

»Es ist mir egal, ob du mich tötest oder nicht. Aber ich hasse Überraschungen.«

»Du hast nie gesagt, was du bist, Muse.«

»Nicht in deiner Gesellschaft, natürlich nicht. Ich bin ein Teil des Weltenmachers. Er ist krank, bekümmert, dem Tod nahe und jener anderen Welt überdrüssig. So wie ich dieser Welt überdrüssig bin. Egal. Bald ist alles vorbei.«

»Eine andere Welt«, wiederholte Slythe. Er spuckte aus. »Bist du sicher, dass sich dieses Ding, das du ins Dasein holtest, nicht aufhalten lässt?«

»Ja.«

»Auch nicht eingrenzen? Oder abschwächen?«

»Ich hielt es anfangs für möglich. Schließlich ist auch dein wahres Ich sicher in deinem Innern verwahrt. Konzentriert und widerwärtig, aber auf engstem Raum zusammengedrängt. Einst warst du wie die ganz normalen Männer, die durch irgendeinen Auslöser zu Mördern wurden und später nicht begriffen, was sie getan hatten. Du warst wie die Kinder, die aus reiner Neugier ihr Lieblingstier quälten. Du warst wie die verwirrten Mütter, die ihre eigenen Babys erstickten …«

Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, doch gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt und trat einen Schritt zurück, staunend über die Heftigkeit seines Zornausbruchs, als beobachtete er einen Fremden. »Wenn es sich nicht aufhalten lässt«, sagte er, »sind wir dann dem Untergang geweiht?«

»Das waren wir von Anfang an«, entgegnete sie und rieb sich die Wange. »Aber jetzt hat unser Untergang Gestalt angenommen und rückt näher. Das ist alles.«

Slythe ging auf und ab. »Kann er ihn aufhalten?«

»Wer?«

»Aden.«

Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Nein. Aber wenn jemand dazu in der Lage gewesen wäre, dann er. Und er hätte es durch Zufall geschafft. Er ist kein Held. Ich rate dir, such ihn und hilf ihm, wenn dir etwas an ihm liegt. Wenn nicht, genießt du heute vielleicht zum letzten Mal das Vergnügen, jemanden zu töten. Warum nicht hier beginnen? Ich bin ehrlich neugierig.«

»Ich kenne die Antwort darauf ebenso wenig wie du«, fauchte er und stolzierte davon.