KAPITEL 19

Am Wall

Toms Truck pflügte durch Bäche, Schlamm und alles, was ihm sonst noch in den Weg kam. Zermalmte Felsbrocken prasselten auf die Motorhaube und Windschutzscheibe nieder. Aden wurde wie eine schlaffe Puppe auf dem Beifahrersitz hin und her geworfen. Wie durch ein Wunder schlug sein Kopf nie richtig hart gegen die Seitenscheibe. Seine Rettung war relativ einfach verlaufen: Tom hatte die Zeit angehalten, die Tür ohne viele Umstände aus den Angeln gerissen und gerufen: »Beeil dich, der Motor läuft.«

»Was wird das?«, hatte Aden gefragt.

»Wir beide unternehmen eine Fahrt, die im schlimmsten Fall mit deinem Tod enden könnte. Du hast ein Recht darauf, das zu erfahren. Wie immer die Sache ausgeht, wir werden eine neue Erkenntnis gewinnen.«

Aden war selbst erstaunt, dass er so gelassen blieb. Während Tom am Steuer neben ihm laut fluchte, spürte er, dass die Dinge seiner Kontrolle endlich entglitten waren – dass er, genau genommen, nie die Fäden in der Hand gehalten hatte, weder in diesem noch in seinem früheren Leben. Es beruhigte ihn, dass sein Weg bereits vorgezeichnet war; dass er, wie auf dieser Fahrt im Truck, nur ein Objekt war, das sich auf einer seit langer Zeit vorbestimmten Bahn durch den Raum bewegte, seinem Ende entgegen wie alle anderen Objekte auch. Es war fast vorbei: der Ärger, der Kampf, die Sorge, ja sogar die Freude – alles mündete in diesen Weg. Warum also sich zur Wehr setzen, dagegen ankämpfen? Das würde die Richtung nicht ändern, nur die Fahrt unbequem machen. Sich treiben lassen, den Frieden genießen …

Ein Baumstumpf zerbrach in kleine Holzsplitter, die wie Hagel gegen die Windschutzscheibe trommelten. Der Truck rumpelte über eine Schneise der Zerstörung, die das Grauen hinterlassen hatte. Tom murmelte etwas, während er den Truck auf einen Waldpfad steuerte. »Umleitung«, sagte er. »Mal sehen, wie es meinem alten Mädchen ergangen ist. Das sieht ja verdammt schlimm aus.«

Der Truck holperte über unebenes Gelände. Tom rutschte fast in eine Bodenspalte, die breit genug war, den Truck zu verschlingen und sie beide in die Tiefe zu reißen. Und da war das Grauen, gigantisch mittlerweile, und fetzte große Stücke aus dem Berghang, ungeduldig und mit lautem Geheul. Es presste ganze Arme voll Felsgestein in seine schwärzer-als-schwarzen Rippen; sie verschwanden, während sich um seine Füße kleine Geröllhäufchen türmten. »Hm.« Tom kratzte sich am Kinn. »Ich hatte selten etwas am Werk der Lady auszusetzen, aber das hier …«

»Das ist das Gemälde! Ich sah, wie sie es auf der Waldlichtung abstellte.«

Tom seufzte. »Ja. Das ist das Ende. Das Ende von etwas, das nie so richtig begann. Ich kümmere mich später um das Ding, wenn ich kann. Zumindest werde ich so tun, als ob ich es könnte. Doch zuerst haben wir andere Dinge zu erledigen.« Tom wendete und setzte zu einem weiten Bogen an. Aden beobachtete das Grauen im Rückspiegel. Es drehte den Kopf nach hinten und verfolgte den Weg des Trucks. Aden winkte ihm einen Gruß zu. Es ist interessant, mehr nicht, überlegte er. Von Grauen kann gar keine Rede sein.

Tom fluchte laut los und brachte den Truck zum Stehen. »Was zum Henker soll das denn?«, brüllte er und riss die Fahrertür auf. Vor ihnen erstreckte sich eine Ebene aus sprödem grauem Staub, der wie eine dicke Aschedecke auf dem Untergrund lag. Tom las das Ortsschild neben der unbefestigten Straße. »Ich wusste gar nicht, dass es hier ein Dorf namens ›Confusion‹ gab. Bevölkerung ›tot‹. Als ich das letzte Mal hier durchkam, hieß das Kaff noch Somerset. Langweiler, die Bewohner, aber quicklebendig, und taten keinem Menschen was zuleide.«

Aden kletterte ins Freie und sah zu, wie der alte Mann mit der Stiefelspitze in die knirschende graue Masse kickte und mit jeder Sekunde wütender wurde. Hinter der kleinen Wüste ragte die Barriere auf, ein gekrümmter glasiger Wall, der sich starr bis in den Himmel erhob. Aden glaubte zu wissen, was als Nächstes kam.

Tom ging in die Hocke und zerrieb etwas von der toten grauen Substanz zwischen den Fingern. »Dreckiges Pack! Ich komme damit klar, wenn sie die Welt verwüstet. Sie half bei ihrem Aufbau, sie hat das Recht, alles zu zerstören, wenn sie es für nötig hält. Aber nicht diese Parasiten! Wuseln in meinem Schloss umher wie Maden im Schädel eines Ochsen.« Er holte ein Messer aus der Tasche und schnitt sich in den Arm. Weißes Licht quoll hervor, gleißend hell. Er verteilte die Tropfen auf dem Boden. Wo sie landeten, kehrte Farbe in die Asche zurück. Grasbüschel schoben sich durch das Grau.

»Du hast nicht genug von dem Zeug in dir«, sagte der Mechaniker, der aus dem Nichts aufgetaucht war und nun vor der Motorhaube des Trucks stand. »Und die Zeit reicht nicht.«

Tom spuckte aus, fluchte und riss einen Streifen Stoff als Verband aus seinem Hemdsärmel. »Wenn ich sage, dass die Zeit reicht, dann reicht sie.«

»Im Gegenteil.« Der Mechaniker warf einen Blick auf seine Stoppuhr. »Zeit ist genau das, was uns fehlt. Zeit und Ereignisse. Oft synchron, aber nicht immer. Meist trivial, der Unterschied. Aber uns bleiben noch – oh, fünf Stunden. Höchstens fünf Stunden. Die Welt kann jetzt jede Sekunde verschwinden.«

Tom schnappte sich eine Schaufel von der Ladefläche seines Trucks. »Zeit genug«, sagte er und wischte sich über die Stirn. »Ich weiß, was sie hier gemacht haben. Es gibt einen Tunnel. Genau an dieser Stelle. Wenn ich den Eingang freilege, bringt er mich direkt zum Schloss. Ich schiebe alle Hindernisse aus dem Weg, wo sie welche hingestellt haben. Und dann bekommen die Herrschaften dort ein paar gepflegte Worte von mir zu hören.«

»Ich fürchte, er ist an geologischen Zeitalter gewöhnt«, sagte der Mechaniker zu Aden und wies mit dem Daumen in Toms Richtung. »Kapiert einfach nicht, dass unsere Existenz in ein paar Stunden vorbei ist. Vielleicht kannst du mal mit ihm reden.«

Aden kletterte aus dem Truck und vertrat sich die Beine. »Ob das was bringt? He, Tom, gib auf! Du bist zu spät dran. Nutze diese letzten Stunden lieber für eine sinnvolle Arbeit. Pflanze einen Baum oder so.«

Tom musterte Aden, als hätte er ihn völlig vergessen. »Du!«, sagte er. Er packte Aden mit einer Hand an der Schulter, schlang ihm den freien Arm um die Hüfte und schleuderte ihn mit der Gewalt eines Hurrikans in das Vergessen.

Der Wall kam auf ihn zu. Er war ruhig, ein wenig schwindlig von der plötzlichen Bewegung und dem Boden, der unter ihm vorbeiraste, aber sonst geschah nichts. Seine Arme und Beine ruderten, nicht weil er Angst hatte, sondern weil es ihm Spaß machte. Und dann war er drüben.