KAPITEL 8
Der Herzog
Am Tage war Schloss Eisennetz alles andere als imposant, ein unscheinbares Ding aus schwarzem, zu düsteren Formen gebogenem Metall. Das filigrane Eisengespinst auf dem Dach wirkte jetzt wie ein schlichtes Gitter. Am Tage konnte sich niemand vorstellen, dass grünes elektrisches Feuer knisternd über die Stäbe tanzte. Und am Tage wäre auch niemand auf die Idee gekommen, es »das pulsierende Herz von Nightfall« zu nennen.
Noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Bauwerks hatte sich kein Mensch näher als einen Steinwurf herangewagt. Erst im Laufe der Zeit hatten die Vorfahren der gegenwärtigen Bewohner Mut gefasst und sich im Schloss niedergelassen, trotz der Erwartung, von Schreckensvisionen wie Dämonen und grausigen Gespenstern heimgesucht zu werden.
Dass die wenigen Tapferen, die das Schloss schon früh betreten hatten, nie zurückgekehrt waren, gab Anlass zu den wildesten Spekulationen. Dazu kam der beängstigende Anblick der – damals noch nicht als solche bekannten – Träume des Weltenmachers, die allem Anschein nach vom Himmel fielen und aus eigenem Antrieb zum eisernen Gewebe hinaufwanderten. Aber jene ersten Entdecker fanden das Gebäude praktisch leer vor. Und sogar möbliert. Sie hatten einen oder zwei Tage die Beine hochgelegt, sich entspannt und über die Lage nachgedacht, während der Rest der Dorfbewohner nervös in sicherer Entfernung der Dinge harrte, die da kommen würden. Nachdem sich die Erkunder von ihrer Ernüchterung, um nicht zu sagen, Enttäuschung erholt hatten, nahmen sie das Schloss in Besitz und brachten diskret etwa ein Dutzend Obdachlose und Viehdiebe um, die sich dort eingenistet hatten, um den Hütern des Gesetzes zu entgehen.
Der Zeitpunkt der Schlossbesetzung war gut gewählt. Die Weltenmacher-Kirche, bis dahin die höchste Macht und Regierung des Planeten, war so in ihre eigenen Umstürze, Skandale und internen Machtkämpfe verstrickt (nachdem sie Sivanas, den »Propheten des Blutvergießens« in der berüchtigten »Nacht der Tausend Tode« entthront hatte), dass sie kaum Notiz von dem neuen Besitzer nahm, der eines Abends mit seiner Familie vor dem mit Lügengeschichten gefütterten und in Ehrfurcht erstarrten Volk auf dem Balkon erschien und sich zum »Herzog« ausrufen ließ. Zu den Lügengeschichten, die er verbreitete, gehörten natürlich das Bestehen zahlreicher Bewährungsproben und Initiationsriten, bei denen er wilden Bestien, grauenvollen Ungeheuern und immer wieder dem Tod ins Auge geschaut hatte. Er musste gar nicht erst erwähnen, dass er das Wohlwollen des Weltenmachers besaß und deshalb in seinen Kämpfen göttlichen Beistand erhalten hatte. Noch bevor er seine Abenteuer zu Ende erzählt hatte, umbrausten ihn ohrenbetäubende Hochrufe. Das Volk begann ihm Opfer darzubringen und Tribut zu entrichten. Und es herrschte kein Mangel an Freiwilligen, als er ein Heer zusammenstellte …
Bis die Kirche begriffen hatte, was da abging, war es zu spät. Sie sah sich gezwungen, Kompromisse mit den neuen Herrschern zu schließen und Urkunden zur Gewaltenteilung zu unterzeichnen. Das alles führte zu Abneigung, Bitterkeit und Misstrauen, sorgsam gepflegt und von einer Priestergeneration zur nächsten weitergegeben, bis der Hass mindestens den gleichen oder noch mehr Raum einnahm als die heilige Lehre.
Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis man die wahre Bestimmung des Schlosses erkannte – bis man die unterirdischen Adern entdeckte, die Baumwurzeln gleich die zu weißem Licht verarbeiteten Träume an die Welt verteilten und sie so am Leben erhielten. Das größte und am strengsten gewahrte Geheimnis jedoch war, dass die Bewohner des Schlosses nicht das Geringste mit diesem Wunder zu tun hatten. Sie erzählten jedem, der es hören wollte, sie seien die »Hüter des Welt-Pulses«. Tom aber, erschöpft und ausgelaugt vom Bau des Schlosses, beobachtete sie mit einem spöttischen Lächeln aus der Ferne und ließ sie gewähren.
Das Schloss lag eingebettet in grüne Felder, mit Türmen, die an frierend hochgezogene Schultern erinnerten. An diesem Morgen war der Himmel von einem fahlen, irgendwie kränklichen Blau, gesprenkelt mit formlosen Wölkchen, die sich nicht vom Fleck rührten – Schweißtropfen auf einer blassen Stirn. Im nächstgelegenen Dorf stimmten die Hunde aus reiner Langeweile ein lautes Geheul an, das bis zu den Schlosstoren zu hören war.
Es ging auf elf zu, als die Zugbrücke mit dem Knirschen einer schmerzenden Kinnlade nach unten klappte und ein seltsames Gefährt langsam über die abgesenkte Plattform rollte.
Es ähnelte einem Streit- oder Triumphwagen, obwohl es nicht von Pferden gezogen wurde und kein Lenker zu sehen war. Ein unsichtbarer Motor trieb mit einem leisen, trägen Schnurren sechs große Räder an. Hinten im Wagen befand sich ein Aufbau mit einem Schutzgeländer aus Glas. Rotes Licht, das wie Blut durch einen Körper pulsierte, vermittelte den Eindruck, dass die Maschine Adern und Organe besaß. Das Frontgitter bildete einen »Mund« aus spitzen Metallzähnen, die parallel wie eine Ober- und Unterlippe angeordnet waren und sich wie verschobene Achsen langsam gegeneinander drehten.
Der Aufbau war mit weichen cremefarbenen Lederbänken ausgestattet, die einem Dutzend Leuten bequem Platz boten. Die Handleisten trafen sich in einem Ring um ein Podest, das noch einen Fuß höher aufragte als die restliche Plattform. Hier stand Julius, Herzog von Nightfall, ein direkter Nachfahre der (zugegeben mutigen) Horde von Flunkerern, die das Schloss erkundet und in Besitz genommen hatte, und gläubiger Anhänger ihrer Fantasiegespinste. Er trug eine Toga aus jungfräulich reiner weißer Seide, die seine rechte Seite vom Schlüsselbein bis zur Hüfte entblößte. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, hielt er mit einer Hand das Seidengewand an der Brust zusammengerafft, während die andere weit gespreizt zum Himmel wies. Diese Pose brachte er irgendwie mit »den Göttern« in Verbindung, die, wie er glaubte, in diesem Moment auf ihn herabschauten (um von ihm zu lernen). Allen anderen Beobachtern kam es so vor, als streckte er prüfend die Hand aus, um zu sehen, ob es regnete.
Trotz aller Affektiertheit sah er eigentlich nicht schlecht aus: etwas zu weiche Züge vielleicht, schön geformte Nase und Wangenknochen, milchweiße Haut und jene strahlend blauen Augen, in denen sich Jugend mit der trügerischen Weisheit des Schönen paarte. Das sandfarbene Haar floss Welle um Welle in dichten Lockenkaskaden von seinem Haupt. Seine von Natur aus schlanke, ja zerbrechliche Gestalt hatte durch Völlerei und Ausschweifungen im Lauf der Jahre um Kinn und Bauch etwas Fülle angesetzt.
Der Wagen rollte dahin.
Julius drehte den Kopf mit ruckartigen Vogelbewegungen nach rechts und links. Ein seltsam ausdrucksloses Stirnrunzeln verriet seine Verwunderung darüber, dass »sein Volk« nicht in Scharen vor dem Schloss erschienen war, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Das ging nun schon viele Tage so, und jedes Mal war er wieder völlig perplex. Aber wie immer tröstete er sich damit, dass es seine Untertanen aus übergroßer Ehrfurcht nicht wagten, vor ihm zu erscheinen. Er stellte sich die Menschenmenge vor, wie sie applaudierte, wie sie Freudentränen vergoss und die Hände ausstreckte, um sein Gewand zu berühren. Zurück!, würde er zwischen zusammengepressten Zähnen hervorstoßen.
Zwei Begleiter hatten auf den Lederbänken Platz genommen, so weit wie möglich voneinander entfernt. Slythe und Raydon.
Raydon wirkte so weich wie ein Milchbrötchen, ein Mann, der irgendwo in mittleren Jahren stehen geblieben war. Goldgeränderte Brille, blinzelnde Äuglein in einem teigigen Gesicht, das schwarze Haar flach an den Kopf geklatscht, Doppelkinn, dunkle, feuchte Lippen, über die er ständig mit der Zunge fuhr, runder Bauch, der wie eine Kanonenkugel in seinem Schoß ruhte. Er trug edlen Zwirn in so schreienden Farben, dass sie das Auge des Betrachters beleidigten. Die Gewänder stammten von Julius, der Raydon mitunter »meinen dicken Regenbogen« nannte (und den liebevoll gemeinten Kosenamen mit einem freundlichen Rippenstoß unterstrich). Ein dicker Band mit unbeschriebenen Blättern ruhte auf seinem Schoß. Die Rechte umklammerte einen Federkiel, und mit den Knien klemmte er ein Tintenfässchen fest. Raydon war (in Ermangelung von Konkurrenz) ein berühmter Historiker und Philosoph und hatte den Auftrag, Worte und Taten von Julius haarklein für die Nachwelt festzuhalten.
Im Gegensatz zu Raydon erschien Slythe auf den ersten Blick ungesund hager, doch unter seinen Gewändern verbargen sich drahtige Muskeln, gebündelt mit der bösartigen Kraft einer Schlange, die sich um ihre Beute wickelte. Seine Augen waren blassgrün, kalt und scharf wie die Pfeile, Messer und sonstigen Mordinstrumente, die er unsichtbar in seiner Kleidung verstaut hatte. Er wirkte schläfrig, aber seine Blicke folgten jedem Schatten und jedem Hauch einer Bewegung. Sobald der Wagen zu schlingern begann, stießen die Klingen unter seinem Gewand mit einem leisen Geräusch zusammen, das an ein unterdrücktes Zähneklappern in der Kälte erinnerte.
Raydons Blicke huschten voller Unbehagen über den Meuchelmörder hinweg, und er rutschte noch ein paar Zentimeter zur Seite. Er wusste, dass Slythe seine Waffen ohne Weiteres so unterbringen konnte, dass sie nicht klirrten. Er kam sich vor wie ein Kaninchen, das ohne jede Fluchtmöglichkeit neben einer großen, hungrigen Bestie ausharren musste. Außerdem hatte die Klinge, mit der Slythe jetzt seine Fingernägel zu säubern begann, am Vortag noch nicht diesen mattroten Fleck aufgewiesen.
Und obwohl Slythe in den vergangenen vierundzwanzig Stunden durchaus getötet hatte, war der rote Fleck kein Menschen-, sondern Schweineblut, das er auf das Messer geschmiert hatte, um Raydon genau den Eindruck zu vermitteln, den er erzielt hatte.
Kieselsteine knirschten unter den Rädern des Wagens. Der Motor summte leise. Das Krächzen der fetten Krähen von den Türmen des Schlosses verstummte allmählich. Der Herzog hatte ungewöhnlich lange geschwiegen, aber seine Pose verriet, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er das Wort ergriff.
Und wirklich senkte Julius den Arm und brach so den Kontakt zu den Göttern ab. Er räusperte sich und nahm die Pose des großen Denkers ein – das Haupt leicht nach vorn geneigt, die Stirn gerunzelt und das Kinn auf die geballte Faust gestützt. »Slythe?«, begann er. »Ich sage Slythe?«
»Ja, Euer Gnaden?« Der Meuchelmörder schien auf den Worten herumzukauen.
»Slythe, mir kam da eine großartige Idee«, sagte Julius. »Sie beantwortet eine profunde, eine hehre Frage zum Leben und … und so weiter. Das tut sie doch, Slythe, oder?«
»Wer tut was, Euer Gnaden?«
Es entstand eine Pause. »Die Philosophie«, erklärte Julius schließlich. »Die Philosophie tut das. Siehst du das nicht auch so, Slythe? Die Philosophie beantwortet eine profunde, hehre Frage zum Leben und so?«
»Sie versucht es, Euer Gnaden, wenn ich das richtig sehe«, entgegnete Slythe und schob das blutbefleckte Messer in eine verborgene Lasche seines Gewands. »Aber mich dürft Ihr da nicht fragen. Ich bin der Typ, der Messer wirft. Fassaden erklimmt. Sich durch Fensterspalte zwängt. Furcht und Schrecken hervorruft.«
Julius nickte und ordnete pedantisch die Falten seiner Toga. »Und du arbeitest zuverlässig, Slythe«, sagte er. »Wirklich, mit mehr als angemessener Sorgfalt. Aber ich hatte meine Gründe, dir diese Frage zu stellen, Slythe. Raydon ist beschäftigt. Stimmt doch, Ray, oder? Du schreibst meine Ausführungen nieder, nicht wahr? Hast du jedes Wort mitgekriegt, Ray? Jedes einzelne Wort? Raydon, ich will wissen, ob du meine letzte Bemerkung genau verzeichnet hast?«
Raydon hatte über das tief ausgeschnittene Kleid nachgesonnen, in dem Lady Mira am Abend zuvor beim Bankett erschienen war. Eine Erektion presste sich gegen den Papierstapel auf seinem Schoß. Er zuckte zusammen und kehrte erschrocken in die Gegenwart zurück. Verspätet kratzte der Gänsekiel über das oberste leere Blatt, aber er hatte zu fest aufgedrückt, und ein schwarzer Tuscheklecks spritzte auf das Papier, ehe die Federspitze abbrach. Seine Welt stand mit einem Mal still.
»Ich dachte, ich könnte unsere Fahrt mit einer tiefgründigen Bemerkung beginnen«, sagte Julius, ohne die zitternden Hände seines Chronisten zu bemerken. »Und? Ray? Wie hat sie dir gefallen?«
»Sehr gut. Mit das Beste, was ich von Euch kenne«, erwiderte Raydon wahrheitsgemäß. Er sah Slythe hilfesuchend an, aber der Meuchelmörder schien seine flehenden Blicke nicht zu bemerken.
Ein Schatten des Zweifels umwölkte die Züge des Herzogs. »Lies noch einmal vor«, sagte er über die Schulter hinweg.
Schweißperlen standen Raydon auf der Stirn. Ihm fiel kein einziges Wort ein. Seine Zunge fuhr nervös über die Lippen. Die Sekunden der Stille dehnten sich zu einem mörderischen Schweigen. Julius drehte sich halb herum. »Nun?«, fauchte er. »Hat dir die Bewunderung die Rede verschlagen? Ist das der Grund? Der Grund für deine Verzögerung, meine ich. Denn ich befahl dir … ja, ich bin ganz sicher … ich befahl dir, meine tiefgründige Bemerkung vorzulesen! Und zwar mit etwas Schwung, wenn ich bitten darf! Ich muss gestehen, dass mich dein Verhalten beträchtlich aufregt, Raydon, und du weißt, dass ich sehr zornig werden kann, wenn mich etwas aufregt.«
Raydon umklammerte mit beiden Händen seine Kehle. Slythe rollte die Augen. »Soll ich, Euer Gnaden?«, fragte er. Julius machte ein leidendes Gesicht, ehe er in edler Großmut nickte. Slythe wiederholte die Worte des Herzogs: »… zum Leben und so.«
»Ich denke, man kann das so stehen lassen«, meinte Julius und rieb sich das Kinn. »Obwohl sie bei Weitem nicht an meine vernichtende Kritik an der Gesellschaft herankommt. Erinnerst du dich, Ray? Erinnerst du dich noch an meine vernichtende Kritik an der Gesellschaft?«
»Gewiss! Sie war ungeheuerlich«, sagte Raydon erleichtert und blätterte in seiner Chronik zurück. »Denkt nur, Ihr habt sie mit einem Schweinestall verglichen, Julius! Ich habe noch nie so kraftvolle …«
»Für die nächste Stunde dieser Ausfahrt bin ich ›Euer Gnaden‹«, unterbrach ihn Julius und betrachtete aufmerksam einen Fingernagel. »Die Verzögerung, du verstehst? Die Verzögerung beim Vorlesen meiner tiefgründigen Bemerkung. Sie hat mir missfallen. Sie hat mich aufgeregt. Also – Schluss mit Julius! So darfst du mich erst wieder nennen, wenn du es verdienst. Ab jetzt bin ich ›Euer Gnaden‹ für dich.«
Raydon sog an seinen Zähnen. Er wurde puterrot. Der Tag war für ihn gelaufen.
Der Wagen rollte weiter, vorbei an sanften Hängen und Wäldchen, durch deren Blattwerk goldenes Sonnenlicht sickerte. Slythe ließ seine Blicke über die Bäume hinwegschweifen, denn er spürte, dass sie von dort her etwas beobachtete, und den Dorfbewohnern war die Jagd in dieser Gegend strikt verboten. Aus dem Augenwinkel sah er einen hellen Schein, ein weißes Licht, das einen Moment lang aufflackerte. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Phänomen bemerkte. Hier bist du also, dachte Slythe. Du kommst ganz schön weit herum.
Der Meuchelmörder streckte sich, stand auf und sagte: »Verzeihung, Euer Gnaden.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er zu Boden und ging mit geschmeidigen Schritten auf die Bäume zu, während der Wagen langsamer wurde und stehen blieb. Der Gang des Meuchelmörders wirkte so entspannt und lässig, dass es verblüffte, wie schnell er den Grashang vor dem Waldrand überquerte. Seine Blicke huschten über die Eichen- und Eukalyptusstämme und wählten dann einen festen Ausschnitt, in dem er trotz des dichten Laubs jeden Hauch einer Bewegung erkennen würde. Ein Schatten tanzte über einen der halb verdeckten Stämme weiter hinten. Wieder schimmerte das weiße Licht auf, das ihm seit Jahren immer wieder flüchtig begegnete.
Ein Messer glitt aus einer Ärmelschlaufe in seine Hand. Die Klinge war mit einem Gift bestrichen, das nicht tötete, sondern das Opfer eine Weile lähmte. Slythe verdrängte jeden bewussten Gedanken aus seinem Gehirn. Er bestand jetzt nur noch aus seinen Instinkten und Sinnen: Sehschärfe, Kraft, Geruch, Gehör und Zeitgefühl. Letzteres war für ihn ebenso konkret wie die anderen Sinne, etwas, mit dem er spielen, das er dehnen und raffen konnte.
Er spähte an den Bäumen vorbei, die den Saum des Wäldchens bildeten, und sah sie weiter hinten stehen, ein Schatten, der mit einem Stamm verschmolz. Ein gestreifter Ärmel und eine zarte, runde Schulter, auf der eine Haarsträhne lag – alles vollkommen reglos. Die Muster ihres Gewands ließen seinen Atem stocken: Solche Farben verlieh die Natur nur ihren tödlichsten Dingen, als Warnung für alle Geschöpfe, sich von ihnen fernzuhalten. Slythe holte mit dem Arm nach hinten aus. Das Messer vibrierte in seiner Hand, machte sich bereit, in die schlanke Schulter zu fahren und die weiche Haut zu durchbohren. Aber er zögerte, und der schwache Schimmer, der von ihr ausgegangen war, loderte mit einem Mal auf und erhellte die ganze Umgebung. Er spürte, wie eine fremde Macht versuchte, seinen Geist zu beherrschen; er beobachtete sie, erprobte, ob er ihrer Verlockung gewachsen war. Ja, ich spüre ihre Macht – aber ich kann sie jederzeit abwehren. Also werde ich zulassen, dass sie mich noch stärker umklammert, und selbst den richtigen Augenblick wählen, um mich von ihr loszureißen.
Dann sprach sie zu ihm: »Wir müssen miteinander reden, ein anderes Mal. Es gibt noch einen wie uns. Sein Name ist Aden. Wir müssen über sie reden und was sie in den Wäldern treibt. Sie ist dabei, die Welt zu zerstören. Geh jetzt zurück. Wir werden miteinander reden, wenn ich sicher bin, dass du mein Leben nicht in Gefahr bringst. Noch hege ich meine Zweifel.«
Slythe kämpfte stärker gegen ihre Macht an, da ihre Stimme nun die Verlockung steigerte. Er genoss das Ringen, genoss die Spannung, die sich in seinem Innern aufbaute … und schüttelte dann ihren Einfluss mit einem Ruck ab.
Er wirbelte das Messer hoch in die Luft und fing es am Griff wieder auf. Er war bereit, es nach ihr zu schleudern, aber dann kam ihm in den Sinn, was sie gesagt hatte. Waren ihre Worte Teil des Zaubers, mit dem sie ihn zu bannen versuchte, oder enthielten sie eine echte Botschaft?
Es gibt noch einen wie uns, hatte sie gesagt. Ließ sich daraus folgern, dass sie einiges über Slythe wusste? Über seine seltsame Geburt? Behauptete sie damit nicht, dass ihre und seine Herkunft die gleiche war? Er hatte noch mehr von Muses Schöpfungen gekannt. Alle waren tot. Sie machte ihn neugierig … aber womöglich bezweckte sie genau das. Sie würde es gewiss nicht wagen, ihn anzugreifen. Das brächte sie in Lebensgefahr … aber ein Mangel an Respekt wäre absolut tödlich. In Bedrängnis fühlte sie sich jedenfalls nicht; sie war freiwillig in seinem Blickfeld geblieben, wirkte in gewisser Weise unerschrocken. Das gefiel ihm nicht.
»Geh zurück zu den anderen«, sagte sie. »Bitte!« Traurig, ihre Stimme. Gut! Das Messer fiel ihm aus der Hand und bohrte sich neben seinem Fuß ins Erdreich. Er starrte es verblüfft an. Hätte es ihn auch nur geritzt, wäre er jetzt gelähmt! Sie hätte die Klinge an sich nehmen und ihm die Kehle durchschneiden können!
Ein zweites Messer glitt in seine andere Hand, schwerer diesmal als sein Vorgänger und nicht vergiftet. Der Arm des Meuchelmörders fuhr abwärts und nach hinten. Die Klinge war so schnell, dass der Blick ihr nicht zu folgen vermochte. Sie schrammte dicht über dem sichtbaren Teil ihrer Schulter vorbei und bohrte sich zitternd in einen Baumstamm vor ihrem Gesicht. Für Slythe verlangsamte sich die Zeit. Er sah den Flug des Messers auf seiner genau berechneten Bahn, sah, wie es sich drehte und eine einzelne Haarsträhne durchtrennte, die ihr auf die Schulter hing. Das Pfeifen dicht an ihrem Ohr musste ein schreckliches Geräusch gewesen sein. Er achtete genau auf ihre Reaktion. Sie zuckte kurz zusammen und sog hörbar die Luft ein.
Die Aura, die sie umgab, loderte gleißend hell auf. Er blinzelte zweimal, und sie war verschwunden. Sie hatte die Flucht ergriffen.
Konnte es sein, dass sie seine Botschaft missverstanden hatte? Sie würde über sein Verhalten nachdenken und es begreifen.
Slythe wandte sich ab und schlenderte zur Straße zurück. Zu seiner eigenen Verblüffung flammte plötzlich Zorn in ihm auf, wie ein im Dunkel angeriebenes Streichholz, um gleich darauf wieder zu erlöschen, als hätte ihn ein kalter Windstoß ausgeblasen. Er rief sich ihre Erscheinung, wer und was immer sie sein mochte, noch einmal ins Gedächtnis. Er erinnerte sich an ihr Zusammenzucken und das hörbare Einatmen, als das Messer vorbeiflog, und fand die Bilder unbeschreiblich exquisit.
Weiter rollte der Wagen des Herzogs. Mit ausladenden Gesten belehrte der Herzog Raydon über die tieferen Einsichten in die Dichtkunst. »Für euch Anfänger ist der Reim der Schlüssel, Ray. Ihr müsst erst mal gründlich das Handwerk des Reimens erlernen, ehe ihr davon Abstand nehmen könnt. Danach gilt es, von Zeit zu Zeit zum Reimen zurückzukehren, um euch zu vergewissern, dass ihr die Grundlagen dieser Kunst nicht verlernt habt. Denn der Reim ist oft freundlich zu euch. Seht also zu, dass ihr nicht sein Missfallen, sondern sein Wohlgefallen erregt!« Julius war so überwältigt von der Brillanz seines Vortrags, dass ihm einen Moment lang die Luft wegblieb. »Ray! Schreib das sofort nieder! Am besten unter der Rubrik … Lebenslektionen.«
Raydon kratzte pflichtschuldig mit seinem abgebrochenen Federkiel über das Papier und fügte die Worte des Herzogs an eine lange Litanei ähnlicher Zitate. Er sehnte inständig einen Themenwechsel herbei. »Gab es Ärger im Wald, Slythe?«, erkundigte er sich.
»Nein«, entgegnete Slythe, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Die nächste halbe Wegmeile legten sie schweigend zurück. Plötzlich sagte Julius: »Ray, mir kam da eben ein Gedanke!«
»Jul… Euer Gnaden?«
»Ha, du hattest deine Strafe fast vergessen!«, rief Julius. »Du wolltest ›Julius‹ sagen. Und – so, jetzt hast du mich rausgebracht!«
Raydon stöhnte innerlich. »Verzeihung, Euer Gnaden.«
»Was heißt da Verzeihung!«, fauchte Julius und schwenkte verärgert seine Toga. »Mir reicht es allmählich. Dauernd passieren dir solche Sachen. Mir kommt ein Gedanke, und dann machst du dein schreckliches Froschmaul auf und quakst mir dazwischen und …« Seine Hände imitierten das Flattern von Vogelschwingen. »Verdammt noch mal, Raydon! Du bist ein solcher Rohling! Dieser Gedanke, der mir vorhin kam … halt, warte mal, da ist er wieder, und … oh, verdammt, jetzt ist er endgültig weg! Der Tod soll dich holen, Raydon, wahrhaftig – ich – halt, jetzt erinnere ich mich! Mir kam der Gedanke … also, mir kam der Gedanke, dass ich gern den Notleidenden helfen würde.«
Raydon blinzelte. »Den was?«
»Den Notleidenden, Ray. Gibt es sie nicht überall? Leiden sie nicht etwa Not?«
»Im Großen und Ganzen wohl schon«, meinte Raydon und rückte seine Brille zurecht. »Aber, Euer Gnaden, solltet Ihr Euch nicht mit erhabeneren Zielen …«
»Oh, das ist ein erhabenes Ziel!«, rief Julius. »Vergiss nicht, Ich verfolge das gute Leben. So wie es in deinem Buch steht. Das bedeutet, dass ich gut sein muss, oder? Die Menschen – sie brauchen in diesen finsteren Zeiten ein Leuchtfeuer, oder?«
Raydon warf einen Blick zum Himmel. »Es ist elf Uhr vormittags, Euer Gnaden.«
Julius wandte sich ihm zu. Er zog eine Augenbraue hoch, was einen strengen Tadel an dem eben Gesagten zum Ausdruck bringen sollte, nur für den Fall, dass er den Faden der Diskussion verlor. Raydon wand sich. »Aber der Begriff ›gut‹ ist so relativ, Euer Gnaden.«
»Wirklich?« Julius stieß einen Arm himmelwärts.
»Gewiss doch. Ich habe diesen Punkt in Kapitel zwei behandelt. ›Was ist gut?‹ Die Quintessenz lautet, dass ein Löwe es als gut empfindet, einen Elch zu reißen, während der Elch natürlich …«
»Dann bedeutet das genau genommen, dass ich tun kann, was ich will?«
»Gewiss doch. Ihr seid der Herzog.«
»Sehr schön. Dann sage ich: Auf, auf, Gefährten! Wir wollen den Notleidenden helfen. Ray muss den Leuten einen Erlass verkünden, und ich muss ihnen mein Gedicht vortragen, und zuallererst müssen wir ein paar Notleidende ausfindig machen. Sagte ich dir schon, Ray, dass ich ein Gedicht verfasst habe? Ein Gedicht, das ich den Leuten zu Gehör bringen will? Ein Gedicht über meine Katze Skittles. Du platzt vermutlich fast vor Neugier. Du kannst es kaum erwarten, bis ich die Zeilen deklamiere, was?«
»Mir wird nichts anderes übrig bleiben«, seufzte Raydon und verneigte sich.
»Oh, wunderbar!«, rief Julius. Wieder reckte er seinen Arm den Göttern entgegen. »Du darfst mich wieder Julius nennen. Ich habe dir vergeben.«
»Danke, Julius.« Raydon beäugte spöttisch den ausgestreckten Arm des Herzogs. »Wird es regnen, Julius?«
Der Herzog erstarrte. Ein düsteres Schweigen machte sich breit, bevor er den Arm senkte und mit kalter Stimme sagte: »Für den Rest der Woche bin ich ›Euer Gnaden‹.«
Auf einem kurzen Wegstück in den Wäldern um Days Past lief der Wagen plötzlich unrund. Das durch seine gläsernen Adern pulsierende rote Licht flackerte und verdüsterte sich, bis es nur noch schwach glomm. Der Motor begann zu stottern. »Oh, du Bastard!«, kreischte Julius in den Himmel, ohne seine Pose zu verändern – beide Hände zu Fäusten geballt, eine hoch über der Schulter, die andere gegen das Herz gepresst. Die Seelenqualen, die er in diesem Moment verspürte, passten wunderbar zu seiner Haltung, ein Beweis mehr dafür, dass ihn »die Götter« beobachteten. Und so gelangte er zu dem Schluss, dass er zumindest entfernt verwandt mit ihnen war.
Raydon auf dem Rücksitz wurde noch eine Spur bleicher, vor lauter Angst, der Ausruf des Herzogs habe ihm gegolten. Er hatte es nicht gewagt, die abgebrochene Federspitze zu erwähnen, und mittlerweile zwei tiefgründige Bemerkungen, ein ätzendes Bonmot und eines der seltenen demütigen Bekenntnisse menschlicher Schwäche verpasst. »Ray, weshalb haben wir kein niederes Geschöpf mit auf die Reise genommen?«, wimmerte der Herzog, als der Wagen holpernd zum Stehen kam und die roten Lichter erloschen.
»Es wurde an alles gedacht, Euer Gnaden«, erklärte Raydon und wühlte in einer Schublade unter seinem Sitz, die verklebte Weinkelche und all die Spielsachen enthielt, die einmal für die Zerstreuung des Herzogs gesorgt hatten: eine Laute, eine Karnevalsmaske, die Überreste einer im Zorn zerschmetterten Harfe. Inmitten dieses Krams befand sich ein Kaninchen, aber das arme Ding lag steif in seinem Käfig. Es war tot. »Hier wäre unser Treibstoff, aber niemand hat das Tier gefüttert. Lasst die Schuldigen enthaupten, Euer Gnaden!«
»Ja. Ein Verbrechen!« Julius spähte prüfend in die Runde. Sein Blick fiel auf den Chronisten und wurde nachdenklich.
»Nein, Euer Gnaden!«, rief Raydon, der die Gefahr witterte. »Bestimmt kommt schon bald jemand hier vorbei.«
»Soll ich?«, fragte Slythe. Raydon keuchte, als ein schlanker Silberpfeil auf die Handfläche des Meuchelmörders tropfte. Slythes Handgelenk zuckte, und ein silberner Blitz pfiff durch die Luft. Raydon ließ sich mit einem leisen Wimmern in seinen Sitz zurücksinken. Ein dumpfer Schlag, das Rascheln von verdorrtem Laub, und ein Kusu fiel aus dem Geäst eines nahen Baumes. Der Meuchelmörder schwang sich seitlich vom Wagen, hob das Tier am Schwanz hoch und zog den Pfeil aus seinem Rücken.
»Bravo!«, sagte Julius und klatschte begeistert. Sein Bizeps zitterte wie ein weiß-rosa Wackelpudding. »Ich finde es wunderbar, dass du Ray zu Tode erschreckt und unser Problem gelöst hast. Das macht mich irgendwie an.«
»Dachte mir schon, dass Euch so etwas amüsieren würde, Euer Gnaden.«
»Aber ist dieser Kusu jetzt nicht auch tot, Slythe?«
»Betäubt«, erklärte der Meuchelmörder. »Es gibt alle möglichen Gifte, Euer Gnaden.«
Julius runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass es alle möglichen Gifte gibt, Slythe. Das grenzt an eine Verbesserung meiner Worte. In der Tat. Kommt einer Verbesserung sehr, sehr nahe.«
Ohne ihn zu beachten, schlenderte Slythe nach vorne und kniete am Frontgitter nieder. Er hielt den Schwanz des Kusus vor die spitzen Zähne des Stahlmauls. Aus dem Innern kam ein Geräusch, als presste ein Riesentier Luft durch metallene Lungen. Die Zähne mahlten wie schlecht geölte Scharniere und sogen das Tier unter dem leisen Knirschen splitternder Knochen nach innen. Blut tropfte von den Stahllippen. Der Kusu war binnen Sekunden verschwunden, und der Motor erwachte summend zu neuem Leben. Rote Funken durchzuckten seine Adern. Der Tod eines so winzigen Geschöpfs versorgte den Wagen ein paar Tage lang mit Energie; ein Mensch würde ihn wochenlang in Gang halten. Seine Räder begannen sich zu drehen, knirschten über den Kies und brachten die Passagiere Zoll um Zoll dem guten Leben näher.
»Wenn uns nur ein paar Notleidende begegneten!«, seufzte Julius. Er warf Raydon einen anklagenden Blick zu. »Du dachtest, ich hätte sie vergessen, nicht wahr, Ray? Du dachtest allen Ernstes, ich hätte die Notleidenden vergessen?«
Raydon zog die Stirn kraus. Seine feuchten Lippen bewegten sich stumm.
»Oh, du spielst wieder mal den Gekränkten!«, rief Julius und klatschte in die Hände. »Deine Miene verrät, dass ich eine Spur zu weit gegangen bin.«
Raydon warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Ihr habt allen Ernstes in Erwägung gezogen, mich als Treibstoff zu verwenden, Euer Gnaden.«
»In Erwägung gezogen, ja!«, entgegnete Julius. »Entschuldige meine ›Selbstsucht‹, Ray, aber es erschien mir eines Herzogs unwürdig, am Straßenrand zu warten, bis irgendein verirrter Wanderer des Wegs käme. Den Vormittag sinnlos zu verschwenden, anstatt dem Volk ein erhabenes Werk der Dichtkunst vorzutragen! So bin ich! Ich denke an das Volk, während du dich kleinlich darum sorgst, als Treibstoff verwendet zu werden. Das verrät mir eine Menge, Ray – doch, das tut es! – über unsere gegenseitige … oh, ich komme einfach nicht auf das Wort, Ray! Außerdem, ist es denn geschehen? Wenn es geschehen wäre, hättest du vielleicht Grund zum Schmollen gehabt, das gebe ich zu. Aber so – was ist denn, Slythe? Wo starrst du hin? Weshalb stehst du auf?«
Dicht vor ihnen stand ein junger Mann stocksteif am Straßenrand. Er trug ein schlichtes weißes Hemd und eine lange braune Hose aus Leder. In seinen Zügen spiegelte sich eine Mischung aus Belustigung und ungläubigem Staunen, als redete er sich eben ein, die Begegnung müsse ein Traum sein. Er mochte um die zwanzig sein, aber die dunklen Bartstoppeln machten ihn um fünf Jahre älter, als er war. Sein Äußeres ließ darauf schließen, dass er länger nicht mehr unter einem Dach geschlafen hatte; Blätter und Grashalme hatten sich auf seiner Kleidung und in seinen wirren braunen Haarsträhnen verfangen. Seine Füße und Knöchel waren böse zerkratzt. Er stieß ein heiseres Lachen aus, als der Wagen bremste und neben ihm anhielt. Slythe setzte sich wieder, allem Anschein nach völlig entspannt, obwohl er den jungen Mann keine Sekunde aus den Augen ließ und eine Hand unauffällig in die Jackentasche schob.
»Genau zum richtigen Zeitpunkt!« Julius schaute zum Himmel und nickte den Göttern anerkennend zu.
»Er wird vielleicht nie erfahren, dass ihm ein Kusu das Leben gerettet hat«, knurrte Slythe.
»Ist er notleidend? Hältst du ihn für notleidend genug, Ray?«
Raydon murmelte etwas Unverständliches.
»Wie? Schmollst du immer noch, weil du so vor dich hin nuschelst?« Julius wandte sich dem Fremden zu. »He, du da! Notleidender Bursche! Wie heißt du?«
»Aden«, erwiderte der Junge. Wie es schien, hatte er Mühe, sich an seinen Namen zu erinnern, und war erstaunt, als er ihm doch noch einfiel. Slythe, der ein Bein lässig über das andere geschlagen hatte und lässig mit der Fußspitze wippte, erstarrte mitten in der Bewegung, als er die Antwort hörte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Ist er betrunken oder nur verwirrt?«, fragte Julius. »He, Notleidender, bist du betrunken?«
»Betrunken?« Wieder das harte, heisere Lachen. »Tot. Nicht betrunken. Tot.«
»Wie absonderlich! Und woher kommst du, notleidender Bursche?«
Der Junge lachte erneut. »Von der Erde?« Das klang wie eine Frage.
»Erde?« Julius kicherte. »Absurd! Ebenso gut könnte man einen Ort ›Boden‹ oder ›Schmutz‹ nennen. Nein, das gefällt mir ganz und gar nicht. Ray, wo befindet sich dieser Ort? Westlich von Somerset?«
»Vielleicht will er damit sagen, dass er aus dem Schlamm gekrochen ist wie wir alle, sich jedoch erst noch sauber schrubben muss.«
»Nein, er meint einen Ort namens Erde, dessen bin ich sicher«, widersprach Julius. »Kennst du ihn, Ray?«
»Ganz bestimmt nicht, Julius.« Raydon dachte nicht daran, den Herzog in Anwesenheit eines gemeinen Bürgers mit »Euer Gnaden« zu betiteln. »Warum werfen wir ihm nicht einfach eine Münze zu und fahren weiter? Ist es denn unbedingt nötig, dass er uns begleitet? Bei den Göttern, die Sitze wurden doch eben erst gereinigt.«
»Ich kenne euch Typen«, murmelte Aden. »Slythe. Du bist einer der Rollenspiel-Charaktere …«
Julius schwenkte seine Toga. »Ich stelle fest, Bursche, dass du mich nicht mit ›Euer Gnaden‹ anredest. Wenn du sehr große Not leidest, will ich dir das noch einmal nachsehen. Leidest du sehr große Not?«
Aden ging in die Hocke und presste die Finger gegen die Schläfen. »Bei meinen schlimmsten LSD-Trips … Okay, ich gebe zu, dass ich ein Dreckskerl bin. Jawohl, ein Dreckskerl. Ich hab das Handtuch geschmissen, aus welchen Gründen auch immer, und deshalb verdiene ich nichts Besseres. Das verstehe ich. Und was immer sonst passiert, ebenfalls. Aber was zum Henker soll das alles hier? Im Ernst. Schreibt mein Opa über diese Welt, weil sie existiert? Oder existiert sie, weil er darüber schreibt? Wenn sie existiert, woher wusste er dann, dass es sie wirklich gab? Oder umgekehrt: Wenn er sie erfand, wie wurde sie dann Wirklichkeit?«
»Bist du notleidend?«, fragte Julius und schlug mit der Hand auf das Geländer. »Ich würde dir gern helfen. Also antworte mir, Bastard, oder ich lasse dich töten!«
»Ich bin tot. Das erwähnte ich bereits.«
»Das grenzt an Widerrede«, sagte Julius. »Außerdem sind deine Fragen vollkommen unlogisch, da du eindeutig hier stehst und sprichst und dich in dieser Welt umschaust. Aber ich sehe, wie verächtlich Raydon dich betrachtet, und deshalb lade ich dich ein, neben ihm Platz zu nehmen, denn du musst wissen, dass es mir Vergnügen bereitet, mich über Ray lustig zu machen. Die Reise ist bestimmt viel kurzweiliger, wenn Ray sich über irgendetwas aufregt. Hierherauf mit dir, notleidender Bursche, und weiter geht die Fahrt! Ich bin dabei, dem Volk mein Gedicht vorzutragen, und dir bringe ich unterwegs ein wenig Kultur bei, bis ich genug von dir habe.«
»Nun ja, warum nicht?«, meinte Aden, schwang sich auf den Wagen und über das gläserne Geländer und ließ sich in die weichen Lederpolster sinken.
Der Motor schnurrte, die Räder rollten, und rotes Licht flackerte in den Glasadern. »Tut mir leid«, sagte Aden, ohne sich direkt an einen der drei Männer zu wenden. »Tut mir echt leid.«
Der Meuchelmörder sah ihn beschwörend an und lächelte. »Schsch!«, warnte er ihn.
Aden schien Slythe zum ersten Mal richtig wahrzunehmen. Der Meuchelmörder spielte mit einem Pfeil, den er aus seinem Ärmel gezogen hatte, balancierte ihn auf einer Fingerspitze und verlagerte ihn der Reihe nach auf die übrigen Finger, ohne ihn ein einziges Mal fallen zu lassen. Dann ließ er ihn auf dem Handrücken tanzen, wo er winzige Grübchen hinterließ. Aden beobachtete das Spiel. »Du kannst mich töten«, sagte er. »Das macht mir überhaupt nichts aus.«
»Ich erteile hier die Befehle, bitte sehr!«, sagte Julius und drohte mit dem Zeigefinger. »Und jetzt ist mal Ruhe da hinten!«
Die Bäume entlang der Straße wichen wie Vorhänge zur Seite und gaben den Blick auf welliges Weide- und Ackerland frei. Jenseits der Hügel stieg Kaminrauch in so dichten Schwaden zum Himmel, dass er den Eindruck eines Buschfeuers erweckte. Fernes Stimmengewirr und die Hektik eines Bauernmarktes drangen zu ihnen herüber.
Raydons Geduld war erschöpft. Seine Gedanken kreisten längst nicht mehr um den abgebrochenen Federkiel. Stattdessen rückte er betont von Aden weg, obwohl das seinen Abstand zu Slythe verringerte. Er gab sich keine Mühe, seinen Ekel und seine Entrüstung zu verbergen. Seine Hängebacken zitterten empört, und sein Mund stand halb offen, als müsste er sich jeden Moment übergeben.
Julius drehte sich um und taxierte Aden zum zehnten Mal. »Er ist einigermaßen notleidend«, meinte er nachdenklich, »aber auch nicht mehr als das. Nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, Ray. Das gibt zu wenig für eine ergreifende Schilderung in der Chronik her, oder? Was würdest du denn schreiben? ›Seine Exzellenz bot dem Notleidenden huldvoll einen Platz in seinem Wagen an.‹ Gefällt mir eigentlich ganz gut. Aber sag, Ray, wie fühlst du dich neben einem Mann aus dem einfachen Volk?«
»Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt – ich würde ihn am liebsten von seinem Ledersitz stoßen und die Fahrt ohne ihn fortsetzen.«
»Und ob ich die Wahrheit wissen will, Ray! Es macht mir solchen Spaß, dich zu drangsalieren.« Julius wandte sich Aden zu. »Wusstest du, dass mein Chronist unsterblich in meine Schwester Mira verliebt ist?« Raydon sog die Luft durch seine Zähne ein, dass es zischte. »Doch, das stimmt«, fuhr Julius fort. »Wenn ich mich nicht täusche, würde er sie gern zur Gemahlin nehmen und an ihrer Seite das Land regieren. Kannst du dir das vorstellen? Wie sollten wir ihn nennen? Lord Fettsack?«
»Haltet endlich das Maul!«, schrie Raydon. Er war puterrot angelaufen.
Julius klatschte entzückt in die Hände. »Das macht er immer so, wenn ich den Notleidenden erzähle, wie sehr er meine Schwester liebt«, sagte er zu Aden. »Ray, ich finde es so schön, dich bis zur Weißglut zu reizen.«
»Maul halten!«
»Ich denke nicht daran. Komm, Ray, beschimpfe mich richtig! Aber lass dir was Besseres als ›Maul halten!‹ einfallen!«
Raydons Fäuste zitterten. Er schmetterte den Papierstapel zu Boden und sah zu, wie sich die Blätter überall verteilten. »Warum spielt Ihr nicht auf Eurer Harfe, Julius?«
Julius grinste. »Ich weiß es nicht, Ray. Warum spiele ich nicht auf meiner Harfe?«
»Weil Ihr sie in einem Wutanfall zerbrochen habt!«
»Echt? Aber warum sollte ich denn so was tun?«
»Vielleicht, weil Euer Spiel …«
»Sprich ruhig weiter, Ray!«
»Weil Euer Spiel wie das Wimmern von liebestollen Katern klang. Wie das schmerzerfüllte Wimmern von liebestollen Katern kurz vor ihrem Tod.«
Julius lachte so sehr, dass sein ganzer Körper in Bewegung geriet. Er musste sich am gläsernen Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »O Ray! Nun hör aber auf! Du weißt ebenso gut wie ich, was du sagtest, als ich auf der Harfe spielte. Du sagtest, mein Saitenspiel sei wie das Schluchzen der Sterne …«
»Aus Mitleid.«
Julius keuchte. »Aus Mitleid? Mit den Qualen der Harfe etwa? Also, das ist doch …! Wenn ich mich recht erinnere, sagte ich einmal, mein Harfenspiel ›rühre an viele tiefschürfende Fragen des Menschseins‹ – eine Bemerkung, die du unverzüglich in deine Chronik aufnahmst. Aber Schluss jetzt mit dem Thema! Warte, bis du mein Gedicht hörst, Ray! Es wird dich überwältigen.«
Der Wagen rollte auf das Dorf zu, vorbei an einem Ortsschild, auf dem DAYS PAST stand. Julius machte einen Katzenbuckel, hielt den Kopf schräg und experimentierte mit einigen Posen, ehe er sich für eine vage militärische Haltung entschied – einen Ellbogen schräg über der Brust angewinkelt und mit dem freien Arm die Seidentoga um die Hüfte schlingend. Slythe wandte erstmals seine Aufmerksamkeit von Aden ab. Seine Blicke schweiften, wie es schien, zu den Farmern hinüber, die an den Hügelflanken ihre Felder pflügten.
»Winke dem Volk zu, Ray!«, befahl Julius. Raydon fuchtelte wütend umher, als müsste er einen Fliegenschwarm verscheuchen. Dann lehnte er sich mit rotem Gesicht in seine Lederpolster zurück.
Die Landschaft zog vorüber. Aden betrachtete müde und verwirrt die fremden Pflanzen, grüne Gebilde, die sich im Wind wiegten oder frei umherzuwuseln schienen wie Tiere, alle vor dem Hintergrund vertrauter Eukalyptusbäume, Kiefern und Eichen. Zwei wie glatte, hüfthohe Kakteen geformte Gewächse umklammerten einander mit dicken Ranken, die an Arme erinnerten. Ringsum lagen ähnliche Pflanzen zerfetzt am Boden.
Gehöfte und Hütten bedeckten nun die Hügelflanken. In Lumpen gehüllte Menschen huschten Insekten gleich durch ferne Hauseingänge. Manche blieben stehen und schauten dem Wagen des Herzogs drunten auf der Straße mit unverhohlener Feindseligkeit nach. Allerdings schien ihr Hass eher der Welt als Ganzes und nicht ihren Einzelaspekten zu gelten. Sie passierten Blockhäuser aus dicken Kieferstämmen und einen Sportplatz mit verwischten weißen Markierungen und Zielpfosten aus Metall, die hexagonal in Form von Blütenblättern angeordnet waren. Ein Gerichtsgebäude kam in Sicht. Es ähnelte einem bizarren Tier mit Marmorsäulen anstelle von Beinen; den Haupteingang bildete das Maul eines zum Fressen oder Trinken gesenkten Kopfes. Auf dem Vorplatz standen Galgen, um die sich eine kleine Schar von Neugierigen versammelt hatte, welche die letzten Sekunden eines zum Tode Verurteilten begaffte. Der Mann trug eine Schlinge um den Hals und hatte ein fröhliches Lächeln auf den Lippen; er war eindeutig der glücklichste Mensch weit und breit. Wie befohlen, winkte Raydon ihm und seinem Henker zu. Sie winkten zurück, im gleichen Moment, als der Verurteilte nach unten sackte und frei am Strick pendelte. Da sich die Zuschauer umgedreht hatten, um zu sehen, wem er winkte, versäumten sie den Augenblick seines Todes und bewarfen den Henker wütend mit Obst, bis er vom Holzpodest stürzte und selbst unter einem wilden Ansturm der aufgebrachten Menge starb.
Sie kamen an einem Markt vorbei, auf dem ein lebhaftes Treiben herrschte. In der Luft lagen Bratendüfte, Federn wirbelten umher, Geflügel gackerte und kreischte, Händler priesen ihren bunten Tand an, Hausfrauen in Schürzen und Häubchen beäugten misstrauisch die ausgestellten Waren, und über allem lag der süße Klang von Münzen, die ihre Besitzer wechselten. »Der Hauptplatz«, sagte Julius und spähte ausdruckslos umher. »Ziemlich viel los heute. Sollen wir die Hupe betätigen, Ray? Die Hupe, die dem Volk signalisiert, dass ich ihm etwas Wichtiges mitzuteilen habe? Die Hupe, die dem Volk befiehlt, mir zu lauschen?«
»Ganz wie Ihr meint.«
»Ähm«, sagte Julius. »Also, ich persönlich ergötze mich an deinem Schmollen. Es macht das Reisen kurzweiliger. Aber das Volk beobachtet uns, und das Volk soll auf gar keinen Fall denken, ich ließe dich in aller Öffentlichkeit den Gekränkten spielen. Oder wie siehst du das?«
Es kostete Raydon ganz erhebliche Mühe, sich gerade hinzusetzen und einen heiteren Ton anzuschlagen. »Ihr habt recht, Julius. Ich benehme mich wie ein … Rohling. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir noch einmal.«
Julius warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. »Nun, das muss ich mir erst überlegen. Aber jetzt betätige endlich die Hupe, Ray, du … Trantüte, du!« Auf dem Geländer hinter dem Chronisten befand sich eine Drucktaste. Raydon drehte sich mühsam um, behindert von einem zu engen Hemd, das über dem Bauch spannte, und presste die Taste nach unten. Ein schrilles Heulen drang aus dem Maul des Gefährts. Es klang wie der Schmerzensschrei einer geschundenen Kreatur. Die Dorfbewohner in Sichtweite bewegten sich langsam auf den Wagen zu, der auf einer ebenen Kopfsteinpflasterfläche angehalten hatte. Mürrisch umringten sie den hohen Besuch.
»Verkünde ihnen den Erlass, Ray!«, befahl Julius und fuchtelte wild mit den Händen, bis die Menge ihr Gemurmel eingestellt hatte. Stille breitete sich aus. »Slythe, was hältst du von diesem Erlass? Der gute, alte Torak schob ihn letzte Nacht unter meiner Tür durch. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt gerade darüber nach, ob die Angelegenheit korrekt sei, aber ich weiß nicht mehr, zu welchem Ergebnis ich kam. Lies vor, Ray!«
Raydon zog eine Pergamentrolle aus seiner Tasche. Er blickte mit müder Verachtung in die Gesichter der Umstehenden, während er das Schreiben glatt strich und sich räusperte. »Erlass an die Bewohner von Days Past bezüglich Eisennetz. Uns wurde zur Kenntnis gebracht, dass ein junger Mann unter Missachtung der Sperrstunde diese Gegend durchstreifte und die absurde, ketzerische Behauptung aufstellte, er sei eine Art Blutsverwandter des Weltenmachers. Ruhe!«, blaffte Raydon zwei alte Weiber an, die hinter vorgehaltener Hand miteinander tuschelten. Zornig fuhr er fort: »Das ist nicht nur Häresie, sondern darüber hinaus ein ungutes Klasse-Sechs-Omen. Sollte es daher in Days Past zu irgendwelchen seltsamen Ereignissen kommen, so müssen sie wohl diesem jungen Mann zugeschrieben werden. Noch wissen wir nicht, welche Gefahr er für das Reich, das Schloss, die Kirche oder die ganze Welt darstellt. Ihr seid hiermit aufgefordert, entsprechende Beobachtungen unverzüglich dem Namenlosen der hiesigen Kirche oder mir, Torak, zu melden. Der junge Mann wird wie folgt beschrieben: Schlank, dunkelhaarig …«
»Ein Gedicht!«, rief Julius. Raydon stopfte den Erlass in seine Tasche. Julius warf die weiße Seiden-Toga raschelnd in Falten und reckte der versammelten Menge tief bewegt eine Faust entgegen. »Ein Gedicht über Skittles, meine Katze. Ray, sei so gut, und schreib es mit! Außerdem erwarte ich ein paar Notizen über die Reaktion der Zuhörer. Seid ihr bereit, Leute?« Julius räusperte sich eine halbe Minute, ehe er mit seinem Vortrag begann:
»Mit donnergrauem Pelz, wie einst das wärmende Gewand
der wilden Horden aus dem Norden,
wenn sie zu großen Schlachten auf sich machten.
So kämpfte sie in Hintergassen mit den Katern,
stets bereit, ihr Leben hinzugeben.
Aber immer nur für sich und nie für mich.
Doch irgendwann wird Skittles die Milch der Menschlichkeit
mit Funkelaugen aus ihrer Schüssel saugen,
wird schlecken und wird schmecken
wie gut es tut, zu nehmen und zu geben mit frohem Mut.«
Tödliche Stille folgte. Jemand hustete. Raydon vergrub das Gesicht in beiden Händen. Die Dorfbewohner schlurften davon. »Wie soll’n das gehen – mit den Augen saugen«, murmelte einer.
Slythe zog mühsam die Hände aus den Taschen und klatschte dreimal. Raydon folgte seinem Beispiel und hauchte: »Bravo, Julius … ich bin sprachlos.«
»Genau wie die da«, entgegnete Julius wütend und sah den Dörflern mit zusammengebissenen Zähnen nach. »Nun?«, fauchte er. »Nun?«
Die Zuhörer zerstreuten sich und kehrten an ihre Arbeit zurück. Julius wirbelte herum und umklammerte mit zitternder Hand das Geländer. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. »Das ist gegen jede Zucht und Ordnung«, sagte er schwach. »Obwohl es mir überhaupt nichts ausmacht, Ray. Du meine Güte! Ray … mir kam da ein Gedanke. Ja doch, mir kam eben ein Gedanke.«
»Euer Gnaden?«, wisperte Raydon.
»Ich glaube … ich glaube, ich kriege einen Wutanfall.«
»Nein, Euer Gnaden, bitte …«
»NEIN! ICH GLAUBE ALLEN ERNSTES, DASS ICH EINEN WUTANFALL BEKOMME! UND ›NEIN, BITTE!‹ IST JA SCHÖN UND GUT, DANKE, RAYDON, ABER …« Die Wut schnürte ihm einen Moment lang die Kehle zu. »MANCHE HERZÖGE HERRSCHEN OHNE JEDE POESIE! MANCHE HERZÖGE PEITSCHEN IHRE UNTERTANEN AUS, SCHLAGEN SIE, QUÄLEN SIE, ERSTECHEN SIE, SCHNIPPEN NUR MIT DEN FINGERNÄGELN, WENN SIE ETWAS WOLLEN. MANCHE HERZÖGE HALTEN SICH TIGER, DENEN SIE WOCHENLANG KAUM ETWAS ZU FRESSEN GEBEN. UND WENN DIE TIGER RICHTIG AUSGEHUNGERT SIND, HOLEN SIE VIELLEICHT DORFBEWOHNER VON DAYS PAST, LEUTE, DIE SICH AUS IRGENDWELCHEN GRÜNDEN WEIGERN, IN FRENETISCHEN APPLAUS AUSZUBRECHEN!« Er verstummte keuchend, einem Kollaps nahe, und hielt sich krampfhaft am Geländer fest. »UND DIESE HERZÖGE …«
»Fahr heim, Julius«, sagte eine strenge Stimme hinter dem Wagen.
Julius wirbelte herum, empört. Adens Augen weiteten sich, als er sah, wer den Herzog unterbrochen hatte. Muse. Sie trug die gleichen Sachen wie nachts in den Wäldern, harte Lederstiefel und ein Kleid mit Kapuze über einer langen Hose. Das graue Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Gesichtszüge wirkten streng und irgendwie weder jung noch alt. Sie schleppte ein Bündel neuer Pinsel und eine große Rolle weißes Endlospapier. Ihre Blicke wanderten müde über den Wagen und seine Insassen.
»Aden«, sagte sie. »Du wirst, wie ich annehme, bald merken, dass du dich nicht in der allerbesten Gesellschaft befindest. Vielleicht solltest du diesen Freund besuchen, der in mein Haus eindrang und dich mitnahm, weil du ihm gefielst. Ich glaubte dich in deinem Rahmen völlig sicher. Nie hätte ich gedacht, dass dich jemand stehlen würde.«
Ihre Blicke schienen eine stumme Warnung zu übermitteln: Antworte mir! Tu so, als wären wir alte Freunde! »Geht in Ordnung«, sagte er. »Ich bin nur etwas … verwirrt. Ich weiß weder wo ich bin, noch wer ich bin.«
Muse nickte und hielt den Blickkontakt aufrecht. »Er wird noch einmal in mein Haus kommen, um ein paar Pinsel und Papier zu stehlen. Er wird Gefallen an seinem neuen Hobby finden. Er kann die gebrauchten Pinsel haben, solange er die Finger von meinen Spezialfarben lässt. Wir beide werden uns in naher Zukunft mal ausführlich unterhalten. Und du, Julius, hast wieder mal ein lebendes Spielzeug gefunden. Aber ich warne dich! Wenn dem Jungen hier nur das Geringste zustößt, wirst du es bereuen! Mach’s gut, Aden. Bis bald.«
Julius war entgeistert über die formlose Anrede. Seine Kinnlade klappte nach unten, und er brachte kein Wort hervor. Muse wandte sich ab und ging, bevor er sich von seinem Schock erholt hatte. Die Dorfbewohner, an denen sie vorbeikam, starrten ihr neugierig nach und unterhielten sich im Flüsterton, sobald sie außer Hörweite war. Allem Anschein nach flößte sie den Leuten Angst ein. Aden richtete sich halb auf und überlegte, ob er ihr folgen solle – aber sie hatte ihn nicht dazu aufgefordert, und er fühlte sich mit einem Mal zu erschöpft, um etwas auf eigene Faust zu unternehmen.
Raydon schenkte Aden zum ersten Mal seine Aufmerksamkeit. Ein sonderbarer Ausdruck lag in seinem Blick, und seine Zunge fuhr unentwegt über die dunklen, feuchten Lippen. »Nun, Julius – der Bursche hier ist offenbar nicht so gewöhnlich und notleidend, wie wir dachten. Immerhin scheint er mit einer Hexe befreundet zu sein.«
»Sieht ganz danach aus«, warf der Meuchelmörder ein. Er beobachtete Aden mit halb geschlossenen Augen.
»Du bist eine Truggestalt«, sagte Aden zu ihm. »Dich gibt es nicht wirklich.«
Slythe hob einen Finger an die Lippen. Schsch!
Julius hatte sich gefangen. Er glättete seine Toga und atmete tief durch. Allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. »Weiter, Ray, zur Kirche! Ich fürchte, ich brauche heute eine ganz besondere Medizin gegen mein Unwohlsein. Vielleicht gibt mir der sogenannte Namenlose etwas von dem Pulver, das mich diese komischen Lichter sehen lässt.«
Der Wagen nahm wieder Fahrt auf. Julius schüttelte den Kopf. »Der Namenlose! Irgendwann sollte er diesen Unsinn lassen und sich für einen richtigen Namen entscheiden. Warum macht er das, Ray?«
»Eine ganz verteufelte Tradition, Julius. Es geht um das Individuum als allgemeiner Charakter, als Archetyp, den jeder beliebige Schauspieler übernehmen kann, egal, auf welche Rolle er sonst festgelegt ist, denn im Grunde zählt nur, wie der Weltenmacher ihn sieht …«
»Oh, diese Erklärung langweilt mich im höchsten Grade! Dann müssen wir ihn eben selbst benennen. Wie sollen wir ihn heute nennen? Lass dir bitte etwas besonders Peinliches einfallen!«
Raydon überlegte. »Dummes Gackerhuhn, Julius?«
»Perfekt!«, rief Julius und reckte einen Arm den Göttern entgegen. Der Motor summte leise, und der Wagen rollte an den Märkten vorbei.
Lange Zeit herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Aden. »Hey, Leute? Euer Gnaden?«
Julius wirbelte herum, zog eine Augenbraue hoch und warf den Kopf in den Nacken. »Ich gestatte dir, das Wort an Uns zu richten!« Er wandte sich an Raydon. »Wie fandest du das eben? Das ging mir doch wunderbar glatt von der Zunge. Obwohl es eigentlich heißen müsste: ›Es sei dir gestattet.‹ So müsste es doch heißen, Ray, nicht wahr? Und? Wie hat es dir gefallen?«
»Ein Highlight des Vormittags, Julius«, sagte Raydon und betrachtete gelangweilt den Horizont.
Julius schloss die Augen. »Ich fürchte, ich muss dich warnen, Ray. Als ich vorhin ein wenig stichelte, um dich auf die Palme zu bringen, war ich durchaus auf deine Gegen-Sticheleien gefasst. Aber nun sind Gegen-Sticheleien unerwünscht. Ich meine das völlig ernst, Ray. Spirituell habe ich heute Vormittag einen herben Schlag erlitten. Aber ich gedenke, ihn abprallen zu lassen und an andere weiterzugeben. Deiner Antwort entnehme ich jedenfalls, dass du nicht der Meinung warst, mein Gedicht sei das Highlight des Vormittags gewesen.«
Raydon zuckte zusammen. »Keineswegs, Euer Gnaden, keineswegs …«
»O doch. Das hast du zumindest angedeutet, versehentlich oder gar mit Absicht. Und gebrauche jetzt keine Ausflüchte! Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass dir mein Gedicht nicht gefiel, Ray. Und wir alle wissen, dass mich solche Dinge sehr zornig machen können. Es wäre nicht das erste Mal. Was wolltest du mit ›keineswegs‹ zum Ausdruck bringen, hmm? Dass mich mein Eindruck getäuscht hat? Ich kenne deine Gedanken, Ray, ich kenne sie genau …«
»’tschuldigung«, warf Aden ein.
»Das grenzt an eine Störung!«, schrie Julius und wandte sich mit einem Ruck Aden zu. »Das grenzt sogar sehr stark an eine Störung!«
»Dieser … äh … Erlass, den der Typ da verkündete«, sagte Aden. »Bevor Sie Ihr erstaunliches Gedicht vortrugen. Erinnern Sie sich? Darin hieß es, dass ein junger Mann in der Gegend unterwegs sei. Ein böses Omen. Das bin ich. Ich bin das gefährliche Omen. Verwandt mit diesem Alten, den ihr den ›Weltenmacher‹ nennt. Ich bin sein Enkel. Das gebe ich zu. Tötet mich also, wenn euch danach ist. Ich habe es satt, dass mich der da …«, er wies mit dem Daumen auf Slythe, »… ständig anstarrt.«
»Kommt nicht infrage«, schnaubte Julius. »Ich bestimme, wann du getötet wirst. Erst muss Ray in seiner Chronik vermerken, auf welche Weise ich dir geholfen habe, und bislang konnte ich wenig für dich tun, außer dass du dich ein wenig im Glanz meines Ruhmes sonnen durftest. Ich muss dich mit Speis und Trank versorgen, mit Kleidung, mit Verbandsmaterial und … einem Besteck. Und ich muss dir Kultur beibringen. Das bringt mich auf meiner Suche nach dem guten Leben einen großen Schritt weiter. Ich werde es finden, gemeinsam mit dem lieben Ray.«
Als der Herzog gerade abgelenkt war, rückte Slythe ganz nahe an Aden heran. Ein metallischer Klang begleitete seine Bewegung. »Du bist einem Bild entstiegen«, sagte er. »Stimmt doch, oder?«
Aden musterte ihn und verglich seine Züge mit der Skizze in einem Notizblock, die ihm in Erinnerung geblieben war. »Klar«, erwiderte er. »Was hattest du gedacht? Dass ich dem Schoß einer Frau entsprang?«
»Schon gut«, meinte Slythe. »Still jetzt. Wir reden weiter, wenn wir mal einen Augenblick allein sind.«
Der Wagen hielt an dem kleinen Weg, der zum Portal der Kirche führte. Im Licht des Tages war das Bauwerk eine wahre Monstrosität, zusammengeschustert aus allen möglichen nicht miteinander harmonierenden Teilen. An einem der Fenster bewegte sich ein Vorhang.
»Da wären wir!«, rief Julius. »Zuerst eine Medizin gegen mein … Unwohlsein. Das war es doch, oder? Danach entsorgen wir den Notleidenden. Er langweilt mich allmählich, Ray. Sitzt einfach da und verbraucht allerlei Dinge. Die Luft zum Beispiel.« Julius starrte Aden an. Sein Stirnrunzeln wirkte seltsam ausdruckslos. »Nun gut. Slythe, wie steht es mit deinem Unwohlsein?«
»Alles in Ordnung heute, Euer Gnaden.«
»Also keine Medizin für dich! Komm, Ray, wir begeben uns nach drinnen. Reich mir deine Hand, Ray, und hilf mir beim Absteigen! Nein, nicht so! Du gibst dir überhaupt keine Mühe, Ray! Wo bleibt dein Enthusiasmus? Hmm? Eine Hand an meinem Ellbogen genügt nicht, um mich zu stützen. Deine Finger sind kraftlos, sage ich dir. Schlaff.«
»Ich bin ein Literat, Julius, keine Sportskanone.«
»Ich buchstabiere S C H L A F F!«, kreischte Julius. Er raffte seine Toga, damit sie nicht den Boden berührte, und schritt auf das Kirchenportal zu. Raydon warf einen besorgten Blick über die Schulter und rief Slythe zu: »Pass auf, dass er die Finger von meinen Schriften lässt!«
Slythe zog eine Augenbraue hoch und spuckte auf den Buchdeckel.
»Dummes Gackerhuhn – so werden wir dich nennen!«, hörten sie Julius kreischen, bevor sich das Portal hinter ihm und seinem Chronisten schloss.
Slythe starrte Aden an, starrte ihn nur an. Eine Minute verstrich, und Aden erhob sich mit dem Vorsatz, seitlich vom Wagen zu springen und zu Fuß weiterzugehen. »Warte«, sagte Slythe. »Du bist also aufgewacht und aus einem Bilderrahmen gestiegen. Ist das deine erste Erinnerung?«
»Was geht dich das an?«
Der Meuchelmörder winkte den Einwurf wie das lästige Gequengel eines Kindes ab und wartete auf seine Antwort. Aden zuckte mit den Schultern. »In diesem Leben? Ja.«
Slythe nickte. »Nun, ich weiß, was du bist und was du zu sein glaubst. Das sind zwei Paar Stiefel. Es gab kein Leben vor diesem hier.«
Aden nahm wieder Platz. »Also schön. Vielleicht schaffst du es, mich davon zu überzeugen, dass dieser verdammte Acid-Trip die Realität ist – dass ich mir alles andere eingebildet habe. Was bin ich dann?«
»Blendwerk. Wenn du in einem Bilderrahmen erwacht bist, erschuf dich die Göttin Muse, so wie sie mich und andere Wesen erschuf. Ich trat auf die gleiche Weise ins Leben. Muse war die Frau, die mit uns sprach, nachdem sich der Herzog in Days Past so blamiert hatte. Weißt du, warum du erschaffen wurdest, Aden? Sie experimentiert gerade mit neuen historischen Rollen, will sehen, ob sie Wurzeln schlagen und erhalten bleiben. Das ist alles, was sie tut. Deine Existenz entspringt mehr oder weniger dem Zufall. So malte sie beispielsweise vor Jahrhunderten einen Herzog und stellte die Leinwand in einen Raum mit vielen anderen Bildern, vielen anderen Möglichkeiten. Und eines Tages entschied die Welt, dass ein Herzog gebraucht wurde. Also blieb die Rolle des Herzogs, selbst nachdem der ursprüngliche Herzog gestorben war. Ein neuer wurde ins Dasein gerufen. Deshalb existierst auch du. Wenn du stirbst und die Welt entscheidet, dass deine Rolle gebraucht wird, ersetzt dich ein anderer. Das ist nichts Besonderes. Du existierst durch die plötzliche Laune einer Göttin.«
»Komische Göttin«, meinte Aden. »Sie sah aus wie eine Lehrerin.«
»Sie existiert seit Anbeginn der Schöpfung«, sagte Slythe. »Sie ist ein Glied des Weltenmachers, ein Teil von ihm.« Slythe sprach leise. Seine Stimme klang wie das Rascheln von Blättern, und seine Lippen bewegten sich, als kaute er auf den Wörtern herum. »Du bist ein besonderes Geschöpf. Wie ich. Wir besonderen Geschöpfe sind alle ihr Werk. Wir stechen unter den übrigen Gemälden hervor, wir sind Farben, die ins Auge fallen. Wir sind selten. Alle anderen sind nur Recyclingmasse in der gleichen historischen Rolle, unfähig, sich aus eigener Kraft zu verändern. Das gilt weder für dich noch für mich. Vielleicht bist du ein Schauspieler auf der großen Weltbühne, einer, der die Geschichte neu schreibt. Oder vielleicht stirbst du schon heute, und kein Hahn kräht nach dir.«
»Aha! Und was willst du damit sagen? Dass ich ein Gott bin oder was?«
»Nein. Du gehörst einer anderen Spezies an als der Rest, das ist alles. Einer anderen Spezies als die Horden, die den Fußspuren ihrer Vorfahren folgen, die auf den gleichen ausgetretenen Wegen dahintrotten und das gleiche dumme Geschwätz von sich geben. Sie sind bewegliche Teile, Kulisse, surrende, klackende Getrieberädchen, die ineinandergreifen, jedes an seinem vorgesehenen Platz, jedes austauschbar. Du dagegen unterscheidest dich von ihnen, bist vielleicht sogar einmalig, und sei es nur deiner Wahnvorstellungen wegen.«
Aden lachte und ließ sich tief in den weichen Ledersitz zurücksinken. »Ich weiß genau, was ich bin.«
»Tatsächlich?«
»Als ich heute Morgen durch die Wälder streifte, zog ich zwei Schlussfolgerungen. Erstens, ich bin ein Dreckskerl. Der letzte Abschaum. Ein Feigling. Was immer mich dazu brachte, aus dem Leben zu scheiden, ich hinterließ eine breite Spur von Kummer und Leid, nur weil alles ein bisschen zu viel für den armen kleinen Aden war. Zweitens schmerzten meine Füße, und ich schenkte diesem Schmerz mehr Beachtung als der Spur von Kummer und Leid, die ich in meinem früheren Dasein hinterließ.«
»Es gibt kein ›früheres Dasein‹.«
Aden funkelte ihn wütend an. »Es gibt kein Hier. Hör mir jetzt mal genau zu, ja? Ich bin nicht real. Genau so wenig wie du. Aber ich war real. Und ich habe eine kleine Info für dich. Es ist alles nur Theater. Verstehst du? Das hier ist ein Theaterstück. Du bist eine Figur, eine Rolle. Es gibt dich nicht wirklich.«
»Du leidest an Wahnvorstellungen.«
»Ich leide an Wahnvorstellungen? Ich bin eine Wahnvorstellung. Ich sehe mich durch die Augen eines anderen, obwohl ich wirklich hier zu sein scheine.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Brust. »Du hast nur in einem Punkt recht: Ich habe den gleichen Ursprung wie du. Wir haben den gleichen Ursprung wie diese Kirche oder der Felsen dort drüben oder die falschen Sterne am Himmel. Aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Ich war real. Du nicht. Niemals.«
»Und welche Erinnerungen hast du an dein reales früheres Dasein, Aden?« Aden gab keine Antwort. Der Meuchelmörder lächelte. »Erzähl mir von deinem Großvater! Erzähl mir, was du noch über ihn weißt!«
»Nein. Hör zu! Die Welt hier ist … irgendwie nur ein Theaterstück. Okay? Dir erscheint sie real. Himmel, selbst mir erscheint sie ziemlich real. Aber wir können die Realität nicht beeinflussen, nicht die wahre Realität. Ebenso wenig wie Schachfiguren irgendwelche Ereignisse außerhalb des Schachbretts beeinflussen können.«
»Können sie das nicht?«
»Nein! Du behauptest im Grunde, dass es hier Königinnen, Läufer und Bauern gibt und dass du ein sehr wichtiger Turm bist. Gratulation! Aber wie lange wird es dauern, bis jemand das ganze Schachbrett umwirft? Wenn die Welt hier ein Traum ist, wird mein Großvater eines Tages aufwachen. Oder sterben. Und wenn sie real ist …« Er lehnte sich zurück und presste beide Hände gegen die Schläfen. »Verdammte Scheiße! Nein! Sie kann nicht real sein.«
Slythe blickte zum Kirchenfenster, als sich erneut ein Vorhang bewegte. »Ich weiß nichts von der ›realen‹ Welt, die durch dein Gehirn spukt. Ich versuche dir dabei zu helfen, deine Gedanken zu ordnen. Also, pass auf! Es gibt drei Arten von Geschöpfen. Charaktere auf der Bühne, wie mich. Sie können die Geschichte der Welt verändern. Selten, diese Leute! Dann gibt es die Statisten, die eng auf ihre Rollen beschränkt sind, deren Handeln genau vorherbestimmt ist. Die Dorfbewohner etwa. Sie bilden den Hintergrund. Die Requisiten. Und schließlich die besonders raren Hüter des Ganzen, die Götter und Göttinnen. Sie sind Teil des Weltenmachers. Wie Muse und zwei andere, die ich kenne. Du hältst dich für einen von ihnen.«
Aden lachte wieder. »Hör mal, ich bin nicht mehr als die Ausgeburt einer fremden Fantasie. Vielleicht sogar eine Ausgeburt meiner eigenen Fantasie. Oder eine Erinnerung, okay? Oder …« Er setzte sich kerzengerade hin. Als wäre ihm eben eine große Erkenntnis gekommen. »Ich habe keine echten Erinnerungen. Nur Vermutungen. Ich weiß nichts über mein vergangenes Leben. Mit einer Ausnahme: Ich entsinne mich an alle Besuche bei meinem Opa. Warum?«
Slythe schien seine Worte nicht aufzunehmen. Einen Moment lang hatte er Aden offenbar völlig vergessen. »Du behauptest, ein Traum verändere nichts außerhalb seiner eigenen Grenzen«, murmelte er vor sich hin. »Aber was passiert, wenn er beim Erwachen im Gedächtnis bleibt? Oder was passiert, wenn eine Geschichte erzählt wird? Dann können diese unwirklichen Dinge den Ablauf der Wirklichkeit verändern – im Kleinen oder im Großen.«
Aden schenkte dem Meuchelmörder ein warmes Lächeln. »Hör genau zu, was ich dir jetzt sage: Worin immer deine Rolle besteht, du weißt nicht, was du bist. Du bist ein Fantasiegebilde. Ein Schatten. Nicht real.«
»Nicht real«, wiederholte Slythe nachdenklich. Etwas blitzte in seinen Zügen auf, ein Funke, der sich bald in kühlen, dunklen Tiefen verlor. »Pass auf: Wenn ich nicht bin und du nicht bist, heißt das doch ohne jeden Zweifel, dass es in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort eine Realität gibt. Oder? Hier, in dieser Zeit und an diesem Ort, sind wir unwirkliche Wesen … Schatten? Reflexionen? Abbildungen? Verzerrte Abbildungen?« Der Meuchelmörder musterte ihn. »Schau«, sagte er. Er stützte die Rechte mit der Innenfläche nach oben auf sein Knie, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er Aden die Hand reichen. Aden setzte sich stirnrunzelnd auf, verwirrt von dem Gedanken, dass ihm Slythe seine Freundschaft anbot. Er schickte sich an, den Arm auszustrecken, als der Meuchelmörder sein Handgelenk blitzschnell zur Seite drehte. Etwas glitt aus seinem Ärmel – ein zehn Zentimeter langer Stahlstift, der im hellen Licht des Frühnachmittags schimmerte.
Aden lehnte sich wieder zurück. Eine tiefe Erschöpfung erfasste ihn und drückte ihn nieder. »Nun mach schon!«, sagte er. »Los!«
Slythe runzelte die Stirn. Die Lachfältchen, die seine Augen und Wangen umspielten, wirkten gütig, väterlich. Er hielt den Pfeil mit abgewandter Spitze dicht vor Adens Gesicht. Ein winziger Tropfen klarer Flüssigkeit zitterte am Ende der feinen Nadel. »Siehst du das? Gift, gemolken aus den Drüsen der gebänderten Todesotter, die in den Schotterebenen des Valley of War beheimatet ist. Ich spürte ihnen eine Zeit lang nach und beobachtete, wie sie ihre Beute töteten. Die Natur hat sie mit roten und gelben Bändern ausgestattet, die nachts leuchten, um all jene Geschöpfe zu warnen, die Augen und eine Spur von Vernunft besitzen.«
Die kleine Flüssigkeitsperle auf der Pfeilspitze fand ihre Parallele in einer Träne, die im Augenwinkel des Meuchelmörders hing und jeden Moment über seine Wange rollen konnte. Sein Gesicht erschien jetzt wie eine kantige Maske, hinter der sich ein schmerzhaftes Anti-Licht verbarg. Aden brauchte seine ganze Kraft, um den Blick nicht abzuwenden. »Die Schlange stößt weit unten zu«, fuhr Slythe fort, »und sie ist unglaublich schnell. Du siehst einen leuchtenden Strich auf dein Schienbein oder Knie zuschießen. Dann kommt der Schmerz, und alles ist vorbei. Sie beißt nur ein einziges Mal. Die Wilden nennen sie die ›Hexenschlange‹. Einer Legende nach spie einst eine Todesotter von der Größe eines Flusses alles Dunkel in die Welt. Davor, so heißt es, gab es keine Nacht. Der Gifttropfen, der hier auf meiner Pfeilspitze zittert wie ein lebendiges Wesen, tötet das Opfer auf der Stelle. Das geht so rasch, dass du keinen Schrei hörst. Warum der Weltenmacher einer solchen Kreatur erlaubt, über den Bauch der Schöpfung zu kriechen, vermag ich ebenso wenig zu sagen wie du.«
Aden starrte die reglose Pfeilspitze in der Hand des Meuchelmörders an. Unwillkürlich schlug sein Herz schneller. Slythe musterte ihn mit leicht gerunzelter Stirn. »Was denkst du jetzt, Enkel des Weltenmachers? Dass dies hier nicht real ist?« Slythe wandte den Blick von Aden und von der Pfeilspitze ab. »Ach ja, wir sind Schatten einer anderen Zeit und einer anderen Welt. Verzerrte Reflexionen fremder Kräfte. Nun, welche Rolle spielst du wohl, Aden? Und welche ist mir zugedacht?« Das Lächeln des Meuchelmörders verschwand. Sein Gesicht verwandelte sich in eine düstere Todesmaske. Und doch wirkte seine Handbewegung so beiläufig, als schnippte er einen Zigarettenstummel zu Boden. Licht brach sich an den Kanten des Pfeils, als er einmal um seine Achse wirbelte und gleich darauf Adens Haut ritzte.
Aden warf sich mit einem Aufschrei gegen die Rückenlehne seines Sitzes und umklammerte den Pfeil, der aus seinem Schienbein ragte.
Die schwache Erschütterung, die seinen Körper durchlief, und ein breites Lächeln waren die einzigen Hinweise, dass Slythe lachte. Ein paar Sekunden lang beobachtete er, wie Aden das Hosenbein nach oben rollte und die Haut um den winzigen Einstich zusammendrückte, um das Gift herauszupressen.
»Wasser«, sagte Slythe.
Aden erstarrte. »Was?«
»Wasser. Vielleicht noch eine Spur Seife. Das hier ist ein Instrument, mit dem ich einige meiner Waffen reinige. Es gibt keine gebänderte Todesottern.«
Aden klappte den Mund auf und brachte ihn nicht mehr zu. Dann griff er an. Mit geballten Fäusten schnellte er von seinem Sitz hoch. Planlos. Slythe beugte sich vor, grub ihm eine Hand in den Solarplexus, packte ihn mit der anderen an einer Schulter und schleuderte ihn lässig über die seitliche Bordwand des Wagens. Der Junge landete schmerzverkrümmt, in sich zusammengerollt, auf dem Boden, Gras und Sand zwischen den Zähnen. Slythe streckte sich wie zuvor sein Gegenüber der Länge nach auf dem Ledersitz aus, schlug die Beine übereinander und schloss mit einem Lächeln die Augen. Aden umklammerte stöhnend die Schulter, auf die er gestürzt war. Dann zog er sich mühsam wieder auf den Wagen. Ohne die Augen aufzuschlagen, sagte Slythe: »Deine Prellungen sind nicht real!«
»Schon begriffen«, murmelte Aden, dehnte die Halsmuskeln und massierte seine Schulter.
Slythe schaute ihn an und lachte laut und herzlich. »Aber nur, weil ich deinen Verstand über das Schienbein angesteuert und so deinen Dickschädel umgangen habe!«
Ein paar Minuten später tauchte der Herzog aus dem Gebäude auf, angekündigt durch ein tierisches Geheul, das sehr echt klang und sich stetig steigerte. Slythe setzte sich auf, musterte Aden, als hätte er dessen Anwesenheit völlig vergessen, und sagte: »Hör zu! Julius hat jede Menge Chemie eingeworfen. Dazu kommen seine üblichen Impulse. Unterlasse alles, was sein Interesse an dir wecken könnte! Rühr dich nicht vom Fleck, und halte unbedingt den Mund! Wenn du meine Anweisungen nicht befolgst, kann ich dich nicht schützen.«
Aden deutete ein Achselzucken an und nickte. Der Herzog wankte zum Wagen. Seine Stimme klang mal schrill, dann wieder lallend oder absurd gedehnt. »Dummes Gackerhuhn … oh, was für ein schöner Name für unseren Namenlosen … gluck … gluck … gluck. Dummes Huhn … hat nichts zu tun … jawohl, Sir … reimt sich immer … schlimmer. Oh, die schönen Lichter, wie sie zaubern … Ray! Ray, antworte auf der Stelle! Bin ich ein Gott? Bitte schreib deine Antwort in Gedanken nieder und winde sie um den Flieder, Ray, um den Flieder!«
Julius wankte vor den Wagen. Er hielt mit beiden Händen die Enden seiner Toga hoch, bewegte sie wie Flügel auf und ab und schob gleichzeitig das Becken vor und zurück. Seine Augen waren zusammengekniffen und im nächsten Moment idiotisch aufgerissen, mit geweiteten Pupillen, die ins Leere starrten. Raydon, der ihm auf den Fersen folgte, robbte mit heruntergerutschter Hose durch den Staub. Die Zunge hing ihm weit aus dem teigigen, bleichen Gesicht, die Brille saß schief auf seiner Nase, und die Augen, kaum einen Fingerbreit vom Boden entfernt, blinzelten verwirrt in die Welt.
»Zu langsam, Ray, diese Fortbewegungsart!«, schnarrte Julius. »Alles andere als zügig. Dürfen uns nicht überholen … das dürfen nur Wagenräder. Schwung, das ist es, was wir suchen, aber da unten kriegst du kein’ Schwung. Oh, mein dummes Gackerhuhn, was hast du mir heute nur eingeflößt? Meine Sterne, diese gekörnten Lichter. Meine Sterne, sage ich!« Panik erfasste ihn. »Slythe! Slythe! Slythe, sage ich!«
»Euer ehrwürdiger Gnaden?«
»Slythe, sage ich, bin ich immer noch ein Herzog? Ich frage das, weil ich mich im Moment mehr wie ein Gockel fühle. Mich gelüstet plötzlich nach Körnern. Aber mein Schnabel ist trocken und leer.« Er entfernte sich taumelnd vom Wagen, mit den angewinkelten Armen auf und ab schlagend und den Kopf so weit in den Nacken geworfen, dass sich seine weiße Kehle dem Himmel entgegenwölbte. »Kikerikiii!«, kreischte er, bis sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. Dann krümmte sich sein Körper nach vorn, und der Kopf vollführte so heftige Pickbewegungen, dass die sorgfältig drapierten Lockenkaskaden flogen.
»Hierher, Euer Gnaden!« Slythe schwang sich über die Bordwand, packte Julius an der Schulter und dirigierte ihn zurück zum Wagen. Raydon fiel nach vorn und blieb reglos liegen, das Gesicht in den Straßenschmutz gepresst. Slythe schubste Julius zum Wagen hin, zerrte Raydon an einem Arm und der Unterhose hoch und warf ihn wie einen nassen Sack auf die weichen Ledersitze. Speichel tropfte dem Philosophen und Geschichtsschreiber vom Kinn, und er rang mühsam nach Luft, als er auf den Bauch klatschte und zu Boden rollte. Ein schwaches Knacken deutete an, dass irgendein Knochen zu Bruch gegangen war. Etwas sanfter hob Slythe Julius auf die Plattform.
Julius ließ einen Wind streichen. Er umklammerte das Geländer wie ein Ertrinkender und glitt langsam zu Boden, wobei die Toga nach oben rutschte und seine schwabbeligen lilienweißen Schenkel freigab. Er spitzte die Lippen, fuchtelte mit den Fingern vor seinem Gesicht hin und her und betrachtete sie kichernd. »Funkle, funkle, kleine Hand! Oh, diese komischen Lichter, wie sie tanzen, ohne Sinn und Zweck.« Sein Blick erfasste Aden. »Du hast mir kein einziges Mal Körner gestreut, nicht mal, als ich Happy Sally war und du das Heu ausbreiten musstest.« Seine Stimme nahm einen grollenden Ton an. »Ich bin sehr böse auf dich!«
Julius kam schwankend auf die Beine. Der Wagen rollte langsam den Weg entlang. »Körner«, murmelte der Herzog mit der schwerfälligen Aggressivität des Betrunkenen. Wieder furzte er, kam ins Stolpern und hielt sich verzweifelt am gläsernen Schutzgeländer fest. »Nicht so … nicht so schnell … Kikerikiii! Slythe, die Welt schaukelt vorbei, ein Ort der Bewegung.«
»Ja, Euer Gnaden. Wir suchen nach einer Unterkunft. Ich schätze, die Dosis gegen Eure Kopfschmerzen war diesmal unvernünftig hoch.«
»BIN ICH DER HERZOG?«, kreischte Julius. In der Ferne begannen Vögel zu zetern, aufgescheucht von seiner lauten Stimme.
»Der seid Ihr in der Tat, Euer Gnaden.«
»Dann erteile ich die Befehle, du dummes Gackerhuhn. Ich sage … ich sage, dass wir unverzüglich nach einer Unterkunft suchen, da ich eine zu hohe Dosis meiner Medizin eingenommen habe und … oh, süßes Picken und Glucken, was ist mit Ray geschehen? Ich kannte ihn mal, vor langer Zeit, aber er hat sich so sehr verändert.«
Raydon hing halb über dem Geländer, die Unterhose um die Knie gewickelt, und rieb sein Glied gegen das rötlich schimmernde Glas. Seine Brille baumelte an einem Ohr, und die weit aufgerissenen Augen verliehen dem Akt eine absurde Feierlichkeit. Julius torkelte an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, und riss ihn versehentlich zu Boden. Noch im Fallen kreiste Raydons Becken weiter, ohne aus dem Rhythmus zu geraten. Julius baute sich schwankend vor Aden auf. »Ich erinnere mich an dich, du schönes Kind«, murmelte er. »Du bist erwachsen geworden ohne meine Erlaubnis. Bewahr dir die Jugend. Kein Geschwätz. Würde. Das Allerwichtigste. Du hübscher Pudel du, mit deiner tiefen Stimme. Jemand hat gelogen. Was ist mit deiner Hochzeitsnacht … Treue geschworen … am Morgen gehenkt … der Würde wegen. Das Allerwichtigste.« Julius wischte sich einen Speichelfaden vom Mund. Zu seiner Verblüffung blieb ihm die Spucke an den Fingerspitzen hängen. Mit einem Aufschrei schleuderte er sie von sich. »Außerdem«, fuhr er fort, »habe ich ein Geheimnis, das ich später enthüllen werde. Im Moment bin ich Roger Rooster, der geile Gockel. Ich muss Körner haben.« Er bekam einen Schluckauf und drehte eine von Adens Handflächen nach oben.
Aden ballte die freie Hand zur Faust und holte aus, um sie dem Herzog ins Gesicht zu schmettern. Slythe schaute ihn warnend an und legte einen Finger auf die Lippen. Schsch! Julius ging in die Hocke, einen Arm angewinkelt wie einen verkrüppelten Flügel, und reckte den Hals wie ein Huhn. »Tock, tock!«, sagte er und pickte unsichtbare Körner von Adens Handfläche. Ein Klecks Spucke blieb zurück. »Keine Nährstoffe!«, kreischte er. »Keine … Vitamine, du verdammtes notleidendes Federvieh! Weh dir, weh dir, weh weh weh … Ich sage, Slythe, wir sind stehen geblieben und bewegen uns nicht mehr. Das scheint mir ein Widerspruch zu sein.«
Der Wagen hielt vor einem zweistöckigen, aus Holz errichteten Bauernhof. Dahinter breiteten sich Weizen- und Maisfelder aus. In der Luft hing der Geruch von Dung und frisch gepflügter Erde. Jemand hatte draußen auf den Feldern ein Kreuz errichtet, an dem eine Vogelscheuche aus Stroh hing. Ihr Kopf hob sich kaum merklich, als starrte sie dem Wagen entgegen, und sackte dann wieder auf die Brust.
Die Finger des Herzogs krümmten sich wie Klauen und fuhren zuckend durch die Luft. Sein Körper vollführte die ruckartigen Bewegungen eines Huhns bei der Futtersuche. Die perfekt geformten Lippen hingen an den Mundwinkeln nach unten, verliehen ihm einen irren, bösartigen Gesichtsausdruck. Er sprang von der Plattform herunter und schoss wie ein Raubvogel auf den Vordereingang des Farmhauses zu.
Slythe beobachtete Julius belustigt und gespannt zugleich. »Verschwinde«, sagte er zu Aden. »Wir reden ein anderes Mal weiter.« Aber Aden blieb, gebannt von dem absonderlichen Gang des Herzogs, von dem Gefühl, dass in diesem Gang eine mörderische Absicht zutage trat. Die Tür ging auf. Ein schlicht gekleidetes Paar mittleren Alters erschien und beobachtete die in eine Toga gehüllte Erscheinung, die durch ihren Vorgarten näher stakste, mit starrem Blick und Pupillen, die sich abwechselnd weiteten und verengten. Zwei kleine Jungen spähten an den Beinen ihrer Eltern vorbei. »Kikerikiii!«, kreischte ihnen Julius entgegen. Die Mutter drehte sich um und schickte die Kleinen weg.
Der Vater trat über die Schwelle, warf einen unsicheren Blick auf Slythe, nahm den Strohhut vom Kopf und verbeugte sich tief. »Edler Herzog, der Segen der Kirche ruhe auf Euch und Euren Begleitern. Was verschafft uns die hohe Ehre Eures Besuchs?«
Julius erreichte die Schwelle des Hauses. »Keine Vitamine bei dem da«, polterte er und pickte wie ein Huhn in Adens Richtung. »Slythe, du warst bisher mein Kampfhund, aber ab jetzt nenne ich dich meine Rechte Faust. Wenn ich ›Tock, tock!‹ rufe, sollst du töten, Slythe! Vitamine! Ernte mein Korn, Rechte Faust! Los, beweg dich!«
Der Hausherr warf einen unsicheren Blick von Julius zu Slythe. Er gab seiner Frau einen Wink, die Tür zu schließen. Ein Riegel schnappte ein. Die Miene des Farmers wirkte resigniert, als er auf den Gartenweg hinaustrat. »Edler Herzog, Sir, ich weiß, dass Ihr nur scherzt. Vergesst das Töten, es wird keine Probleme geben. Ich bin gern bereit, Euch eine Mahlzeit anzubieten und ein Bett zu richten …«
»Ich will sie nicht in meinem Haus haben«, sagte die Frau mit weinerlicher Stimme hinter der verschlossenen Tür.
»Sei du still!«, rief der Mann.
»Er ist betrunken, wenn nicht mehr. Du kennst die Geschichten, die über ihn im Umlauf sind. Was er alles anrichtet, wenn er betrunken ist …«
»Still!« Das klang so scharf wie ein Peitschenhieb.
Slythe wandte sich Aden zu. »Ich sagte dir, dass du verschwinden sollst. Geh endlich!«
Aden schaute ihm in die Augen. »Tu’s nicht!«
Slythe sprang zu Boden und schlenderte auf den Herzog zu. Dann blieb er stehen, drehte sich um und musterte Aden. Sein Lächeln kehrte zurück. »Ah, eine Frage noch. Können Schatten sterben?«
Aden hielt seinem Blick stand, blieb jedoch stumm.
»Bist du bereit, Rechte Faust?«, johlte Julius.
»Ja, Euer Gnaden.« Wieder wandte er sich an Aden. »Es wird Zeit, dass du mir zeigst, was in dir steckt. Welche Talente? Welche magischen Kräfte? Du hast dich vorhin zurückgehalten, stimmt’s? Zeig jetzt, was du kannst!«
Julius johlte, zog die angewinkelten Arme über die Schultern hoch und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Tritt diese Tür ein!«
Slythe kam seinem Befehl nach. Die Bauersfrau, die ihr Ohr an das Holz gepresst hatte, um zu lauschen, fiel nach hinten und landete hart auf dem Rücken. Julius stürmte über die Schwelle. »Hast du Angst, dass ich die da töte?«, schrie er sie an. »Hast du Angst um deine albernen Küken? Hier ist ein Rätsel für meinen hübschen Pudel! Ferne Dörfer gehen zugrunde, obwohl so viel zu essen da ist! Das ist das Geheimnis! Verflucht sei der hübsche Pudel mitsamt den Vitaminen, die er hortet! Auf in den Kampf, Rechte Faust! Gleich kommt der Befehl! Denk an das Signal!« Aden sprang vom Wagen und rannte durch den Hof. Julius kreischte: »Tock, tock!«
Der Hausherr sackte zusammen, ein faustgroßes, sternförmiges Stück Metall in der Stirn. Die Frau schrie auf, floh durch das Wohnzimmer und die Treppe hinauf. Slythe wandte sich nach Aden um. Er schien auf irgendeine Reaktion zu warten, aber der Junge stand nur stocksteif da und rang nach Luft.
Julius spreizte die Arme wie Flügel, als er neben dem immer noch zuckenden Leichnam niederkauerte. »Kikerikiii!«, kreischte er und schöpfte das aus der Wunde quellende Blut in die gewölbten Handflächen. Er hob die Hände dicht an die Augen, starrte wild schielend in das klebrige Nass, warf den Kopf zurück, tauchte die Nase in das Blut, nahm einen mächtigen Schluck und gurgelte tief in der Kehle. Dann patschte er sich auf den Bauch und gegen die Rippen und verschmierte dabei seine roten Fingerabdrücke überall auf der weißen Seidentoga. »Ich sage, dem Körper tut das Vitamin C gut, Rechte Faust. Ich sage, der Körper genießt das Vitamin Ceeeeee.« Blutspritzer bedeckten sein ebenmäßiges, wie in Marmor gemeißeltes Gesicht. »Öffne meinen Körnersack! Öffne ihn!«
Slythe ließ Aden keine Sekunde aus den Augen. Er zog ein am Knöchel festgeschnalltes Messer und schlitzte damit den toten Farmer auf. Julius krähte laut und tauchte die Arme bis an die Ellbogen in die Öffnung. Blut lief ihm über Kinn und Brust.
Aden schüttelte die Schockstarre ab und rannte beinahe blind vor Zorn auf sie zu. Slythe sah ihn kommen. Er nickte, als wollte er sagen: Hab ich’s mir doch gedacht! Dann tat er einen Schritt zur Seite, holte zu einem Roundhouse-Kick aus und traf den Anstürmenden mitten im Gesicht. Aden rollte die Eingangsstufen hinab und blieb auf dem Rücken liegen. Sein Nasenbein schien gebrochen.
Slythe stand in der Tür und öffnete lässig seine Jacke. Aden starrte benommen auf eine Reihe schräg angeordneter Stahlklingen der unterschiedlichsten Größen. »Welche willst du?«, fragte der Meuchelmörder. Er wählte eine, die etwa so lang wie sein Unterarm war, und hielt sie hoch. »Die hier?«
Ein Blutschwall ergoss sich aus Adens Nase und Mund und lief ihm über das Kinn. Er hustete, versuchte zu sprechen, nahm einen neuen Anlauf. »Du warst nicht gezwungen, seinem Befehl Folge zu leisten. Du hättest ihn unbemerkt niederschlagen können. Niemand hätte es erfahren.«
Slythe zuckte mit den Schultern. Sein Lächeln wirkte ein wenig traurig. »Muss ich dir das wirklich erklären?«
Aden stützte sich auf beide Ellbogen und sah den Meuchelmörder ungläubig an. »Selbst wenn es nicht real ist. Selbst wenn es nichts bedeutet.«
»Weiter. Selbst wenn wir Schatten sind?«
»Dann bist du der Schatten des Todes, der Schatten des Gifts, der Schatten des Verderbens in der realen Welt. Das ist es, was du darstellst.«
Slythe nickte. »Jetzt kommen wir einen Schritt weiter. Und du? Du hättest mich nie verändert. Aber du hattest eine Chance, Geschichte zu schreiben, im Gegensatz zu diesen wandelnden Toten.« Er deutete hinter sich, die Treppe hinauf, wo man immer noch die hysterischen Schreie der Frau hören konnte. »Requisiten. Teile. Die Rädchen und Bolzen eines Systems. Alle leicht zu ersetzen. Ich habe versucht, es zu erklären. Herdentiere. Hintergrundgeräusche. Illusionen, sonst nichts. Es stimmt, dass ihr Leben ohne jede Bedeutung ist. Im Gegensatz zu deinem eigenen Leben. Aber was tust du? Du verwirkst dein Leben, indem du um sie weinst.« Slythe kauerte sich nieder. Es war eine irgendwie beschwörende Haltung. »Herdentiere. Requisiten. Du und ich hingegen, wir sind Schauspieler auf der großen Bühne. Wir können Geschichte machen. Du hattest deine Chance. Vorbei. Dein Part ist vorbei.«
In diesem Moment nahm Aden durch die offene Tür eine Bewegung wahr. Hinter Slythe kam ein etwa sechzehnjähriger Junge die Treppe herunter, eine Armbrust in den zitternden Händen. Lenk ihn ab, dachte Aden erschrocken, aber seine Augen hatten ihn bereits verraten. Slythe wandte sich im gleichen Moment um, als der Junge die Waffe auf Julius richtete, der sich immer noch wirr stammelnd über den Toten beugte und sich mit dessen Blut beschmierte. In einer fließenden Bewegung wirbelte Slythe herum. Der Junge stockte, als er die grausige Szene am Eingang sah, und das nutzte der Meuchelmörder aus.
Sein Arm fuhr in einem weiten Bogen nach unten. Die Waffe fiel dem Jungen aus den Händen. Er rollte die Stiege herunter, ein Messer in der Brust. Verspätet löste sich der Bolzen aus der Armbrust und fuhr in die Decke. Putz rieselte auf Julius nieder und verklebte sich mit dem Blut, das ihn bedeckte.
Aden kam mühsam hoch, grimmig entschlossen, sich auf den Mörder zu stürzen, bevor er das nächste Messer hervorholen konnte. Slythe versetzte ihm einen blitzschnellen Tritt, der ihn zurückwarf und seinen Kopf hart gegen die unterste Stufe krachen ließ. Die Welt begann sich langsam zu drehen. Aus weiter Ferne drangen die Echos von Geräuschen auf ihn ein. In Zeitlupe sah er, wie Slythe nach einem kurzen Dolch griff. Die Züge des Killers nahmen die starre Härte einer Holzmaske an. Aden hatte die Vision von einem schwarz versengten Baumstamm, der inmitten eines brennenden Waldes aufragte. Eine Schar von Schatten umringte ihn tanzend und singend. In seinem Beisein schnitzte ein stumpfes, rußgeschwärztes Messer die Linien und Schlitze der Maske, die auf dem formlosen Gesicht eines Todesgeist-Totems saß. Da war er: nackt, aber nun für kurze Zeit in den Körper eines Menschen gehüllt, der ihn umgab wie ein dünner Mantel.
Die Arme des Wesens sausten nach unten, sein Oberkörper kippte nach vorn, und Slythe beendete den Wurf mit einer tiefen Verbeugung, die vielleicht als letzte Geste des Respekts, vielleicht aber auch als spöttische Parodie gedacht war. Aden wusste nicht, wie er sie deuten sollte.
Der Schmerz kam unvermittelt und breitete sich aus wie eine Hitzewoge, die ihn ganz und gar erfasste. Julius – ein überfressenes, aufgeblähtes Ding, das zu absurd war, als dass man es hassen konnte – kauerte kreischend im Eingang. Ein Ekelschauer durchlief Aden. »Bring Ray her, bring ihn her! Ich will ihn Dickwanst nennen. Wir beschmieren ihn von Kopf bis Fuß mit Blut, Rechte Faust! Wir kleistern ihn mit Vitaminen zu! Das gibt eine Überraschung, wenn er am Morgen aufwacht und die Medizin nicht mehr wirkt. Aber dann ist Roger Rooster längst im Hühnerstall, um die Hennen zu ficken.«