KAPITEL 16
Nach Schloss Eisennetz
Das Licht, das sie umfloss, pulsierte in Sekundenabständen, bis sein greller Schein sie blendete. Das Grauen torkelte hinter ihr her. Sie wusste nicht, auf welcher Ebene es die Reize aufnahm – sein Stolpern erinnerte an ein Kind, das sich von einem glitzernden Spielzeug magisch angezogen fühlte. Hin und wieder begann es zu laufen, und dann holte es sie fast ein. Sie dämpfte ihr Licht, wenn das Ding ihr zu nahe kam, und warf sich flach hinter die nächstbeste Deckung, die sie finden konnte. Dann vergaß es sie und wandte sich irgendwelchen greifbaren Gegenständen zu: abgestellten Karren, Zäunen, Bäumen, Tieren. Das grässliche elektrische Summen war am lautesten, wenn es etwas ins Nichts beförderte. Sie hatte ihren Verfolger inzwischen in sicherem Abstand an zwei Dörfern vorbeigeführt. Ein einsamer Wanderer hatte ihre Warnrufe missachtet und war ihm direkt in die Arme gelaufen. Nun lotste sie das Ding den Fluss entlang auf das Schloss zu, das sich wie eine Krone aus schwarzem Glas am Horizont erhob. Sie war nicht sicher, ob sie dieses Ziel erreichen würde. Schon jetzt war sie erschöpft.
Das zunächst knochendürre Grauen war nun ein aufgeblähter Koloss. Bald würde es so groß wie ein Berg sein und immer noch weiterwachsen, bis es alles, was noch übrig war, mit einer einzigen Armbewegung wegwischte und für immer auslöschte. Seine Schritte stanzten kleine Schrunden aus Nichts in den Boden. Es hatte kein Gesicht, aber der Brustkorb mit den Rippen, die noch schwärzer als schwarz waren, kam unter dem Umhang zum Vorschein, als es sich bückte und das Erdreich wie Papier zerfetzte. Drei Dragoner waren spinnengleich aus ihren Höhlen gekrochen und hatten sich auf das Ding geworfen. Sie verschwanden, sobald sie in das Dunkel tauchten. Das Grauen schien ihren Angriff nicht einmal bemerkt zu haben.
Es tauchte eine Hand versuchsweise in den Fluss. Das Wasser wurde dünner, die Strömung schwächer. Charm lag auf dem Bauch und rang keuchend nach Luft. Noch konnte sie nicht anhalten. Die Leute vom Schloss mussten sehen, mussten erfahren, was Muse getan hatte. Erst zum Schloss, dann zur Kirche. Und falls sich alle weigerten, ihre Mutter zu töten, wollte Charm das Ding bis an Muses Schwelle führen. Ein Satz von Mira ging ihr wie ein schmerzhaftes Echo durch den Kopf: Wir wählten unsere Rollen, bevor wir hierherkamen, sagen die Priester …
Während sie so dalag, bemerkte sie ein grünliches Licht. Rechts hinter ihr senkte sich der Traum der Nacht herab. Fast hatte er den Boden erreicht. Das hieß, dass der Ratgeber des Herzogs irgendwo in der Nähe sein musste. Sie erhob sich und ließ ihre Aura mit letzter Kraft noch einmal gleißend hell aufleuchten. »Hey!«, rief sie dem Grauen zu und winkte mit beiden Armen. »Du da! Hierher! Los, komm!«
»Also schön«, sagte der Ratgeber des herzoglichen Ratgebers. Er verdrehte die hölzernen Augen und schickte einen genervten Blick zum Himmel. »Meiner Meinung nach sind die Waffen Verschwendung.«
»Ah! Ah! Hab ich dich erwischt! Verschwendung! Das sagt derjenige, der seine Existenz reiner Energieverschwendung verdankt! Der jede Nacht eine Portion Energie schluckt, weil es sonst aus mit ihm wäre!«
Sie eilten mit großen Schritten über das blaue Pflaster der Straße. Die Schlange in Toraks Hand wand sich höher, um ihm in die Augen zu schauen. »Ich sage es nicht gern, aber wir bestehen alle aus Energie.«
»O nein! Nicht dieses Argument! Du weißt genau, was ich meine – mit Energie, die … ähm.«
»Gestohlen wurde?«
»Zweckentfremdet wurde. Das wollte ich sagen. Nicht einmal das. Geborgt. Verschludert. Genutzt. Mehr nicht.«
»Rein zufällig sozusagen?«
»Hör mal, das klingt ja, als ob … Hör mal, es geht hier nicht darum, dies oder das an sich zu nehmen. Wie in einem Schmuckgeschäft ein paar Diamanten aus der Vitrine zu holen. Keine Diamanten! Keine Vitrine! Das Schloss, verstehst du? Es muss verteidigt werden. Sonst gibt es überhaupt keine Energie mehr. Für nichts und niemanden. Auch nicht für dich. Sind wir uns wenigstens in diesem Punkt einig? Du und dein nächtlicher Löffel Stoff, nur damit du putzmunter bleibst und deine Meinung äußern kannst! Angenommen, das Schloss verschwindet? Überleg doch mal! Ich erweise dir einen Gefallen, verdammt! Soll ich mich etwa auf ein Dutzend unfähige einarmige Soldaten verlassen? Zur Verteidigung des Schlosses? Die exekutieren sich täglich gegenseitig. Hast du dir das mal angesehen?«
»Mein Einwand ist, dass eine dieser schwerfälligen Kriegsmaschinen, die du bauen …«
»Panzer nenne ich sie. Panzer. Erinnerst du dich an die Träume vom Krieg? Dort kamen sie vor. Und ich dulde nicht, dass du meine Konstruktion verunglimpfst. Schwerfällig – also wirklich! Du warst mir keine große Hilfe bei der Arbeit, wenn ich das bemerken darf. Du und deine ewigen Fragen. ›Wozu soll das gut sein?‹ – ›Ist dieses Teil notwendig?‹ Nein, du warst mir keine große Hilfe.«
»Mein Einwand ist, dass die vier Panzer …«
»Fünf, verdammt noch mal!«
»… die gleiche Energie verschlingen, die nötig wäre, um ein Dorf am Leben zu erhalten. Wenn du Energie auf diese Weise ›nutzt‹, verlangt es dann nicht der … die Pflicht, sie ohne ungebührliche Extravaganzen zu nutzen?«
»Anstand. Du hättest beinahe Anstand statt Pflicht gesagt.«
»Beispielsweise der Zierrat. War es unbedingt notwendig, dem zweiten Panzer das Äußere eines prähistorischen Monsters zu geben? Hätte der Kanonenlauf nicht genügt?«
»Eine Sache der Wahrnehmung, du Holzkopf. Psychologie. Darf ein Panzer das Auge erfreuen? Darf er wie ein nettes Hundchen aussehen? Im Gegenteil. Er muss Angst und Schrecken verbreiten. Außerdem kann ein Panzer allein den Rest der Dragonertruppe auslöschen. Ich werde es dir beweisen. Krachbumm! Knirsch, knirsch, unter die Räder. Warte nur. Du wirst schon sehen.«
»Warum hast du dann fünf Panzer gebaut? Und lässt das nächste Dorf verhungern, um weitere zu bauen?«
»Was verstehst du schon von militärischen Dingen? Wenig. Also sei still! Ich will nichts mehr hören. Du gehst mir auf die Nerven. Diese Besserwisserei in letzter Zeit. Früher warst du nicht so.«
»Inzwischen kenne ich dich eben.«
»Dünnes Eis, von meinem Standpunkt, ganz dünnes Eis, auf dem du dich bewegst.« Torak deutete die Dünne zwischen Daumen und Zeigefinger an.
»Wir könnten das Thema wechseln.«
»Ja. Sprechen wir über meinen Vater.«
»Diesen Brutalo?«
»Der echte Wahnsinn. Also, an meinem zwölften Geburtstag – aber horch, dieses Geräusch? Es wird immer lauter.«
»Ein Bienenschwarm?«
»Mechanische Bienen. Unmengen. Egal. Also, zurück zu meinem Vater. Und zu meinem Geburtstag …«
»Die Schaukel?«
»In einem grässlichen Rot! Der Tyrann. Arbeitete ein Jahr lang an der Schaukel, jeden Abend nach seiner Schicht im Bergwerk. Mühte sich ab, um meine Enttäuschung vollkommen zu machen. Der Mann dachte nicht mal daran, sich nach der Lieblingsfarbe seines Sohnes zu erkundigen. Türkis! Natürlich heulte ich. Wies sein Geschenk zurück. Und was macht er? Bricht zusammen. Vor meinen Augen! Und da wusste ich: So werde ich auch mal, wenn mich kein gnädiger Gott errettet. Wenn ich nicht rechtzeitig was dagegen unternehme.«
»Eine weise Einsicht für einen Knaben in diesem zarten Alter.«
»Und da wusste ich, dass ich dem Mann bei jeder Gelegenheit mit Härte zu begegnen hätte. Mit entschiedener Härte. Das war der Schlüssel. Du und deine Kommentare zu meinen Panzern! Du und deine – stopp, da haben wir’s. Da ist er schon!« Das fahlgrüne Licht erschien wie erwartet, senkte sich an der gleichen Stelle herab wie in den vergangenen vier Nächten. Der Traum hatte sich nicht in den kleinsten Details verändert: Der Weltenmacher versank in einem brodelnden, giftigen Meer, während aus Wolkenhänden mit aufgeschnittenen Pulsadern farbloses Blut regnete. Der Traum glitt in Bodennähe neben dem Fluss dahin, dem Schloss entgegen.
»Meine Sterne, wieder die gleiche Szene! Dieser arme Idiot von einem Priester wird einen hysterischen Anfall kriegen. Dafür will ich sorgen.«
In diesem Moment trat Charm hinter einem Felsblock hervor – keuchend, den Oberkörper zusammengekrümmt, eine Hand auf die Knie gestützt. Das Licht, das sie umgab, war dünn und schwach, kaum noch wahrnehmbar.
»He, du! Hexenmädchen!«, rief Torak. Er suchte unter seinem Umhang nach der Waffe, die er nach der Begegnung mit Aden zu seinem Schutz angefertigt hatte – eine »Pistole«, wie er sie nannte –, und richtete sie auf Charm. »Glaub nicht, meine Schöne, dass ich jene laue Juninacht vergessen habe. Ein erniedrigendes und doch irgendwie verlockendes Angebot, das du mir machtest. Weißt du noch? Du brachtest mich dazu, meinen Lieblingshut zu beschmutzen und dann wieder aufzusetzen, die Arme auf und ab zu schwingen wie ein Vogel und vor einer Horde von Städtern ein beschämendes Lied über meine ÄHM sexuellen Neigungen zu singen, alles gewaltig übertrieben, wenn ich das hinzufügen darf. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Leute … äh … auszuschalten, um meinen Ruf zu wahren. Alles gespeichert. Hier.« Er tippte sich mit spitzem Zeigefinger an die Stirn. »Mit dem Wunsch nach Rache. Kannst du mir vielleicht einen Grund nennen, weshalb ich dich nicht auf der Stelle vernichten sollte? Einen guten Grund, gefolgt von einigen Worten des echten Bedauerns?«
»Ich habe etwas Besseres für dich«, entgegnete sie. »Gleich wirst du es sehen. Es liebt das Licht. Noch befindet es sich hinter dem Hügel dort. Aber es ist auf dem Weg hierher.«
»Du beziehst dich worauf?«
»Horch!« Das elektrische Summen wurde immer lauter.
»Und? Was genau ist das?«
Der Lärm schwoll an. Charm wich zurück – das Grauen kam. Es torkelte, taumelte, stolperte über die eigenen Beine. Die Arme weit ausgebreitet, enthüllte es ein dunkles Skelett, das sich im Rhythmus der schnappenden, mahlenden Kiefer um seine Achse zu drehen schien, starr und fließend zugleich. Es war schon wieder gewachsen, seit Charm es aus den Augen verloren hatte. Torak – der ihm nur bis an den säulendicken Oberschenkel reichte – wurde schneeweiß. Er ließ die Pistole fallen.
Das Grauen hielt an, musterte das Duo und machte noch einen Schritt, bis Torak in Reichweite seiner Arme war. Dann schien es etwas Verlockenderes zu entdecken und stapfte geradewegs auf den Traum zu. Es stieß ein Kreischen aus, das erregt auf und ab schwang, fragend und zugleich erfüllt von einer geradezu obszönen Lust. »Es liebt das Licht«, sagte Charm. »Weg da! Rasch!«
»Es-es-es … was hat es vor?« Torak stolperte rückwärts. »Der Traum? Es darf ihn nicht berühren. Verboten! Unzulässig! Das wäre der Untergang. Ruf das Ding zurück! Gebiete ihm Einhalt! Auf der Stelle!«
Charm lachte. »Sperr es ein, wenn du kannst!«
Das Grauen kippte nach vorn in den Traum und ruderte in dem fahlgrünen Licht umher. Ein Arm fuhr mitten durch den ertrinkenden Weltenmacher und wischte den Kopf des alten Mannes weg. Bald war der ganze Traum ausgelöscht wie ein Feuer. »Halt!«, schrie Torak. »Wir brauchen diese Träume! Du hast ja keine Ahnung. Unentbehrlich! Machen wir einen Handel, ja?«
Das Grauen wandte sich nach ihm um. Torak ließ den Schlangenstab fallen und plumpste auf sein Hinterteil.
»Kein Laut«, wisperte Charm. »Es liebt auch den Schall.«
»Ein stichhaltiges Argument«, meinte die Schlange.
Das Ding stand vollkommen reglos da und starrte in Toraks Richtung, als versuchte es, ihn durch einen Tarnvorhang zu entdecken. Dann wandte es sich ab, torkelte zum Fluss hinunter und watete knietief ins Wasser. Eine lange schwarze Knochenhand – so dunkel, dass sie auf perverse Weise zu leuchten schien – tauchte ab und zu spielerisch in die Strömung. Dann legte es den Kopf in den Nacken und schickte ein irres Kreischen zum Himmel. Es stolperte die Böschung hinauf und wischte beiläufig die Sträucher aus, als wäre es nicht wichtig, ob sie am Ufer stehen blieben oder verschwanden. Lücken zeigten sich, wo sein Arm in das Buschwerk schlug. Es torkelte außer Sicht und hinterließ eine Spur von Lücken in der Welt, dazu Bäume, die wie halb ausradierte Skizzen in der Luft hingen.
»Der Traum«, murmelte Torak. »Fort, ganz fort. Unentbehrlich … absolut notwendig …« Er schluckte. Seine Hände zitterten wie Espenlaub, als er seinen Stab aufhob. »Was ist dieses Ding, he? Diese Bestie? Wenn es bis zum Schloss vordringt, was dann …?« Ein Schauer erfasste ihn. »Dein Werk? Dein dressiertes Monster?«
»Nein. Nicht mein Werk. Aber ich will dir verraten, wer es erschaffen hat. Hör mir genau zu!«