Fernrohr
„Großvater, kann ich dir denn was helfen?“, fragte ich ihn, als er schnaufend das Fernrohr ins Wohnzimmer -hievte. „Nein! Geh mir einfach aus dem Weg!“, schimpfte er. „Kind, schau nicht so beleidigt. Es gibt gar keinen Grund dafür. Ich geh jetzt etwas lesen“, sagte meine Großmutter, setzte sich gemütlich in den Wohnzimmersessel, nahm ihr Buch aus dem Regal und begann auch schon, sich darin zu vertiefen. Ich dagegen sah meinen Großvater mit großem Staunen an. Es war wirklich ein tolles Fernrohr. Was wohl der alte Mann gemeint hatte mit Nimm dir meine Worte zu Herzen?
Gedankenverloren trottete ich zurück in mein Zimmer, setzte mich auf mein Bett und nahm meinen Teddy in den Arm. Die Tränen, die mir die Wangen herunterliefen, wischte ich schnell weg. Und mein Teddy half mir wie immer. Ich rappelte mich auf und setzte mich an meinen Schreibtisch. Vielleicht sollte ich noch etwas für die Schule lernen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, auch wenn mich unten die lauten Flüche meines Großvaters immer wieder zusammenzucken ließen. Aber auf meine Hilfe wollte er ja verzichten.
„Tara!“, schrie meine Großmutter die Treppe herauf. „Es gibt Essen.“ Langsam erhob ich mich von meinem Sessel und ging nach unten. Es roch nach Schweinebraten. So etwas Gutes gab es nur an Sonntagen. Meine Großmutter gab mir einen großen Knödel auf den Teller und ich begann hastig zu essen. „Wie schiehts jetscht mit dem Fernrohr aus?“, fragte ich meinen Großvater. „Man redet nicht mit vollem Mund“, wies mich meine Großmutter zurecht. Ich nickte in ihre Richtung. „Es ist fertig und ich habe auch schon hindurchgesehen. Es ist wirklich ein Prachtstück. Nur dass wir uns gleich verstanden haben, Mädchen, du greifst das nicht an, außer du möchtest, dass …“, doch ich hörte schon gar nicht mehr zu. „Hast du gehört, was Gottfried gesagt hat?“, fragte mich meine Großmutter und durchbohrte mich mit ihren Adleraugen. „Natürlich“, antworte ich und aß weiter den Braten. Ich war traurig, doch ich wollte es vor meinen Großeltern nicht zeigen.
Als ich mit dem Essen fertig war, beschloss ich, gleich in mein Zimmer hinaufzugehen. Ich wünschte den beiden noch eine gute Nacht und verschwand auch schon. In meinem Zimmer angelangt zog ich meine Sachen aus, legte sie sorgfältig über meinen Schreibtischstuhl und schlüpfte in meinen Schlafanzug. Als ich noch kurz bei meinem Fenster hinaussah, stand mein Lieblingsstern hoch oben am Himmel. „Gute Nacht“, sagte ich und sprang mit einem Satz ins Bett. Ich drückte meinen Teddy und schlief auch schon wenige Sekunden später ein.
Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich wach und stieg leise aus meinem Bett. Schnell, aber mucksmäuschenstill ging ich ins Bad und bürstete mir die Haare. Der Wecker im Bad zeigte dreizehn Minuten nach zwölf. Ich war überhaupt nicht mehr müde, doch etwas durstig. Ich ging hinunter in die Küche, wo ich mir ein Glas Wasser holte. Meine Großeltern waren schon schlafen gegangen, Großvaters Schnarchen war zu hören gewesen. Ich stellte das Wasserglas zurück ins Spülbecken und sah zum Fenster hinaus. Es war stockdunkel. Dann fiel mir ein, dass ich ja jetzt ungestört Großvaters Fernrohr beobachten konnte.
Ich schlich ins Wohnzimmer und sah es mir an. Im Mondlicht schaute es noch geheimnisvoller aus mit seiner schwarzen Farbe und den goldenen Rändern. Ich ging mehrere Male herum, traute mich aber nicht, es anzu-fassen. Schließlich überwand ich mich und griff danach. Es fühlte sich ganz glatt an. Mehrere Räder waren an dem Fernrohr befestigt. Wofür nur? Und ich dachte an die Worte des alten Mannes: Es ist etwas ganz Besonderes. Es hat seine Dienste bei mir getan. „Welche Dienste?“, fragte ich mich. Die Neugier drängte mich dazu, an einem der Räder zu drehen. Schnell wich ich wieder zurück. Ich hatte am größten gedreht, aber nur ganz kurz. Jetzt drehten sich alle Räder auf einmal. Was passierte nur? Hatte mein Großvater es auch schon entdeckt? Wollte er das vor mir verheimlichen, dass die Räder sich drehten? Sie drehten sich schneller und schneller und plötzlich kam ein goldener Lichtstrahl aus dem Fernrohr. Er war so golden wie die Sterne draußen am Nachthimmel. Der Strahl zog mich in das Fernrohr hinein. Alles um mich herum drehte sich und mir kam es vor, als fiele ich gleich in Ohnmacht. Wo kam ich hin? Was passierte hier? Der alte Mann hatte doch recht gehabt, dieses Fernrohr war anders als alle anderen. Mir wurde schwindlig und schlecht. Die Luft blieb mir weg und ich wischte mir den Angstschweiß von der Stirn. Doch dann war alles vorbei. Nichts drehte sich mehr und ich hatte wieder festen Boden unter den Füßen, sandigen Boden.