Ein Schiff, das verloren im Meer erscheint
Ich öffnete die Augen. Wo war ich? Mir schwirrte der Kopf. Ich sah das vertraute Zimmer. Ich lag in meinem Bett und schaute an die Decke. War es wirklich wahr? Waren Aaron und Mischa gestorben? Schon bei dem Gedanken begann ich wieder zu weinen. „Tara.“ Shania war zu mir getreten und strich mir über das Haar. „Wir sind wieder in Abanon“, sagte sie und lächelte. Aber ich erkannte die Trauer in ihrem Gesicht. „Es ist alles gut.“ „Nichts ist gut!“, schrie ich und schluchzte. „Hör mir zu, Tara. Du hast gestern Abend etwas sehr Schlimmes erlebt. Aber ich muss dir etwas Wichtiges erklären …“, fing sie an, doch ich unterbrach sie. „Ich werde dir nie mehr zuhören! Ich will zu Cedric! Wo ist mein Bruder?“ „Er schläft. Du kannst jetzt nicht zu ihm“, antwortete sie ruhig. „Ich kann zu ihm, wann ich will!“, schrie ich und sah an mir herunter. Ich hatte Blut an den Fingern. Es war Aarons und Mischas Blut. Als ich an die beiden dachte, wurde mir schlecht und ich übergab mich neben Shania. Sie wischte mein Erbrochenes weg und setzte sich wieder neben mich. „Ich weiß, wie es dir geht“, sagte sie. „Du weißt gar nichts“, fuhr ich sie an. Ich bewunderte ihre ruhige Art. Sie wischte mir mit einem Lappen über die Stirn. Ich schlug ihre Hand weg. „Tara, wenn es dir besser geht, dann gehe in Aarons Zimmer.“ „Was soll ich denn da?“ Ich schrie immer noch. „Tu es einfach. Dann wird es dir besser gehen.“ Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte gerade eben die zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Wie sollte ich es schaffen, in Aarons Zimmer zu gehen? Es würde mich nur verletzen. Die Vergangenheit, die ich nun zu verdrängen versuchte, würde nur wieder hochkommen. „Bitte gehe dort hin.“ Shania drängte mich fast. „Weißt du was? Deine Anwesenheit macht mich noch krank! Aber wenn du beruhigt bist, dann gehe ich eben! Du willst mir ja noch mehr Schmerz zufügen!“ Ich schwang mich aus dem Bett und lief aus dem Zimmer. Mich kümmerte es nicht, ob mich die Wachen so sahen oder nicht. Ein jeder Schritt in Aarons Schloss tat mir weh. Ich hatte ihn so sehr geliebt! Oh nein, ich liebte ihn immer noch. Bis an mein Lebensende. Nie würde ich ihn vergessen. Sein Lachen, seine Augen und einfach seine Art. Kein Mensch war besser als er. Keiner vollkommener als er. Aaron war mein Vorbild in all seinen Taten.
Ich rannte die Treppenstufen hinauf und traf auf Basko. Er sah mich mitleidig an, doch er sagte nichts. Ich war ihm unendlich dankbar dafür. Offenbar verstand er, dass ich am liebsten alleine trauern würde. Dann stand ich vor Aarons Zimmer. Lange blieb ich vor der Tür stehen. Es kam mir so unmöglich vor, dort noch einmal hineinzugehen. Noch einmal seinen Geruch einzuatmen, seine Kleider anfassen, die Erinnerungen hochkommen lassen. Ich war noch nicht bereit dazu. Ich war noch nicht bereit, mit dem Vergangenen abzuschließen. Trotzdem spürte ich einen gewissen Drang in mir, ein letztes Mal dort hineinzusehen. „Um damit abzuschließen“, sagte ich zu mir selbst. Schließlich atmete ich tief durch und öffnete die Tür. Der unwiderstehliche Rosenduft wehte mir entgegen. Er machte mich noch trauriger. Aber bald würde ich ihn vergessen, da war ich mir sicher. Doch Aaron würde mir immer im Gedächtnis bleiben. Ihn würde ich nie vergessen. So eine großartige Person konnte man nicht einfach vergessen.
Mit wackeligen Schritten betrat ich das Zimmer.
Ganz langsam, wie in Trance, richtete ich meinen Blick auf das Bett. Ich war mir sicher zu träumen, denn es war unmöglich, dass dort ein junger Mann mit pechschwarzem, lockigem Haar lag und mich anlächelte.
 
Nein! Das gibt es nicht!“, schrie ich. Das konnte nicht sein. Vor mir lag nicht Aaron. Aaron war tot. Er lebte nicht mehr. Ich begann zu weinen und starrte in das Gesicht meines Geliebten. Er lächelte mich an und hielt mir die Arme ausgestreckt entgegen. „Dich gibt es nicht mehr. Du bist tot!“, schrie ich ihm entgegen. Konnte dieser Traum nicht aufhören? Musste er mich noch mehr leiden lassen? „Tara, mein Engel, komm zu mir“, sagte diese unwiderstehliche Stimme und ich lief auf ihn zu. Auch wenn es nur ein Traum war, wollte ich diesen Moment auskosten. Ich wollte von Aaron in den Arm genommen werden und glücklich sein. „Ich habe dich vermisst“, sagte er leise, als ich mein Gesicht an seine Schulter drückte und weinte. Es fühlte sich alles real an. „Aaron, du bist tot“, sagte ich wieder und schluchzte. „Tara, du weißt selber, dass das nicht möglich ist. Wie sollte ich dich umarmen, wenn ich tot wäre?“ War er etwa doch nicht tot? Träumte ich am Ende etwa doch nicht? Ich starrte ihn an. Er sah müde und erschöpft aus, aber trotzdem immer noch so schön wie früher. Ich sah an ihm hinunter. Er trug kein T-Shirt oder Hemd. Ich konnte auf seine nackte Brust sehen und entdeckte einen Verband, der um ihn gewickelt war. Vorsichtig strich ich mit meinen Fingern da-rüber. Es war wahr! Aaron war nicht tot! Er hatte überlebt! Aber wie hatte er das geschafft? Er war doch erst gestorben? Ich strich wieder über seinen Verband und merkte, dass er zusammenzuckte. „Verzeih mir“, entschuldigte ich mich. „Das kann nicht sein. Du bist nicht real.“ „Natürlich bin ich das. Wie sonst wäre ich gerade eben zusammengezuckt?“, antwortete mein Prinz und lächelte. Ich streichelte seinen Arm. Aaron lebte! Er lebte!
Ein Glücksgefühl stieg in mir auf und ich begann zu weinen. Vor Glück zu weinen. Jetzt hatte ich ihn wieder, -meinen Prinzen. Für mich schien es noch immer unmöglich, aber es war wahr. Neben mir lag Aaron aus Fleisch und Blut. „Ich liebe dich“, sagte ich zu ihm und verbarg mein Gesicht an seiner Brust. „Ich liebe dich auch“, antwortete er und begann mein Haar, wie schon so oft, zu streicheln. „Es tat mir so weh zu sehen, wie du die Lüge geglaubt hast“, sagte er leise. Ich hob meinen Kopf. „Ja, ich meine es ernst. Ich hätte dir das nicht vorspielen dürfen. Aber du warst unsere einzige Hoffnung, Tara. Du hast es geschafft, dass wir aus Achilles Fängen entkommen konnten. Du bist unsere Retterin.“ Ich begriff nicht. „Aaron, ich verstehe nicht.“ „Kannst du dich noch erinnern? An den Abend, an dem der Ball stattfand, zu dem ich so widerwillig ging? An diesem Abend habe ich Shania, Basko, Mischa und Sancho beiseite-genommen. Ich hatte ihnen bereits vorher erzählt, dass ich eine Idee hätte. Aber ich konnte dich ja weder am Vormittag noch am Nachmittag alleine lassen. Jedes Mal, wenn ich versuchte, dich auf deine Seite zu legen, hast du mich fester umklammert und etwas Unverständliches gemurmelt. Es war so herzzerreißend … ich hätte dich gar nicht alleine lassen können. Und um von dem Ball wegzukommen, sagte ich, mir wäre schlecht vor Aufregung und ich müsse kurz an die frische Luft. Es war der perfekte Zeitpunkt, denn Anastasia war am Tanzen. Wir mussten schnell überlegen und kamen zu dem Entschluss, dass Achille denken sollte, dass ich tot war. Weißt du, beim Tanzen kommt man auf so manche Ideen.“ Er lächelte. Ich starrte ihn nur mit großen Augen an und schlug mir gegen den Kopf. „Ja, das passt alles. Ich war bei Shania an dem Abend, aber sie war nicht da. Und ich habe mich schon gewundert, wo sie sich wohl rumtreibt und warum du sie nicht in mein Zimmer befohlen hast.“ „Tja, es war wirklich alles perfekt inszeniert.“ „Das kann man wohl so sagen. Aber warum habt ihr all dies vor mir geheim gehalten? Ich meine …“, fing ich an, doch Aaron unterbrach mich: „Nun ja, Tara, du kennst deine schauspielerischen Leistungen. Hättest du davon gewusst, wäre vielleicht unser Plan nicht so aufgegangen, wie wir es uns erhofften.“ Mein Prinz lachte leise. Also war alles nur Schauspiel gewesen. Wie hatten wir alle nur darauf reinfallen können? „Aber du bist verletzt“, sagte ich und deutete auf seine Wunde. „Ja, Achille hat mich doch erwischt. Wa-rum, glaubst du, hat Mischa Cedric seinen Umhang angeboten? Ich hätte ihm meinen nicht geben können. Du weißt schon … die ganze Farbe. Shania hatte mein Hemd vorher gefärbt. Wir mussten es glaubwürdig machen.“
Ich dachte über seine Worte nach. „Was hättest du gemacht, wenn Achille oder Anastasia mich umgebracht hätten?“ „Das hätten sie nie gemacht. Du hast Achille doch gehört. Es war ihm wichtiger, dass du leidest“, antwortete er. Und dann fiel mir wieder Mischa ein. Erneut stiegen mir Tränen in die Augen. „Aber warum ist Mischa dann … dann …“ „Das mit Mischa hätte nicht passieren sollen. Aber ich habe es mir fast so gedacht. Er war von Anfang an von unserem Plan nicht überzeugt gewesen. Er war sich sicher, dass Achille mich umbringen würde. So oft ich ihm auch erklärte, wir würden Achille Baskos Narben zeigen und dieser würde dann zurückschrecken, er wollte es mir nicht glauben. Doch was hätten wir machen sollen? Shania beschloss, ihn zu sich zu holen, wenn der Kampf beginnen würde, aber sie war dazu nicht in der Lage. Mischa stand zu weit weg. Sie konnte nicht hinlaufen. Achille hätte gemerkt, dass wir mit Mischa unter einer Decke steckten. Tja, und dann kam er auch schon auf mich zu. Und Mischa hat sich zwischen uns geworfen. In mir brach alles zusammen, als ich sah, wie er loslief. Achille hätte mich umgebracht, wenn Mischa nicht gekommen wäre, Tara. Er ist für mich gestorben.“ Ich schluckte. „Ich habe euer nächtliches Gespräch belauscht“, gab ich zu und spürte, wie ich rot anlief. „Dann kennst du ja auch den Grund, warum Mischa sich vor mich geworfen hat, oder!?“ Aaron lächelte nicht mehr. Wieder sah er traurig aus. Ich schüttelte nur den Kopf. „Mischa ist ein Ehrenmann. Er wusste ganz genau, dass du mich liebst. Ich glaube, er wollte von Anfang an mein Leben schützen. Er wollte es für dich. Tara, Mischa hat dich geliebt.“ Mischa hatte mich geliebt? Das konnte nicht sein. Wie waren doch nur Freunde gewesen. Beste Freunde. „Er hat es mir in dem nächtlichen Gespräch nicht direkt gesagt. Er wollte nicht, falls es Lauscher gab, dass es jemand mitbekam. Er war zu traurig darüber, dass du seine Liebe nicht erwidert hast. Und aus genau diesem Grund hat er mein Leben gerettet. Weil er dich nicht unglücklich sehen konnte. Weil er wusste, dass du ihn nie so lieben würdest wie er dich. Weil ihm sein Leben so viel weniger wert schien als meines“, fuhr Aaron fort. „Und er hat dir doch seine Liebe gestanden. Erinnerst du dich? Tara! Ich liebe dich! Das war nicht ich, Tara. Das waren Mischas Worte.“
Aaron hatte recht. Die Tränen rannen mir nun noch schneller herunter. Mischa war für mich gestorben. Er wollte, dass ich glücklich wäre. Er tat mir so leid. Wie sehr musste es ihm wehgetan haben, dass ich seine Liebe nie erwidert hatte!? Und dann starb er auch noch für mich! Mir fehlten die Worte. „Ich kann kaum glauben, dass er tot ist. Ich mochte ihn zwar nie besonders, aber jetzt weiß ich, dass Mischa die großartigste Person war, die ich je kannte. Er ist für jemand anderen aus Liebe und Großzügigkeit gestorben.“ Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Ja, so war es. Er war ritterlich gestorben. Wie gern hätte ich ihn jetzt neben mir gehabt. Aber ich hatte Aaron. Meinen Aaron, den ich abgöttisch liebte. Ich versank in Gedanken.
„An was denkst du, mein Engel?“, riss mich Aaron einige Zeit später aus meinem Schweigen und nahm mein Gesicht in die Hände. „Immer noch an Mischa“, schluchzte ich und schloss die Augen. Aaron gab mir auf jedes Auge einen Kuss. „Wir werden ihn nie vergessen“, sagte er und ich öffnete wieder die Augen. „Nie“, wiederholte ich. „Aaron, ich habe ihn geküsst“, sagte ich nach einer Weile. „Ich weiß.“ „Es tut mir leid. So leid“, gab ich zu und schämte mich. „Das war das Beste, was du hättest tun können. Du hast einem Toten das gegeben, was er immer wollte. Ich wette, Mischa lächelt nun von oben auf uns herab. Tara, du hast ihn auch geliebt“, meinte Aaron. „Nein, das habe ich nicht.“ „Sag das nicht. Du hast ihn geliebt. Das habe ich auch damals zu Mischa gesagt. Sie liebt dich genauso, Mischa, habe ich gesagt.“ „So ein Unsinn. Ich habe ihn freundschaftlich geliebt, Aaron. Nichts weiter.“ Er lächelte. „Ja, und doch war es Mischa zu wenig.“ Ich schaute traurig auf die Bettdecke. Warum war das Leben auch so kompliziert? „Mischa hat mir noch einen Brief gelassen. Er … er war an Aarons Engel adressiert“, sagte ich leise. „Schau, Tara, da hat er wieder bewiesen, dass er wusste, wie sehr du mich liebst. Dass er wusste, nie eine Chance bei dir zu haben.“ Nie eine Chance bei dir zu haben. Die Worte klangen so hart. Aber ich war Mischa so dankbar. Wäre er nicht gewesen, würde ich jetzt nicht glücklich in Aarons Armen liegen. Ich würde nicht mehr leben können. Ein Leben ohne Aaron gab es für mich nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Und dieser Gedanke wurde mit der Zeit immer mächtiger.